AN DIE LORBEEREN

[65] O lorbeern die im grossen strengen schatten

Ihr den gedankenvollen jüngling hegtet ·

Erzählet mir von ihm · am ersten abend


Erzählet mir von ihm in milden worten ·

Ihr alten lorbeern! weil vielleicht er hört ·

Weil er vielleicht entfernt ist und doch hier.


Wie hat der junge hüter euch geliebt ·

Wie beugtet ihr auf seine freundes-stirne

Die äste oft um euer lob zu hören!


Er las in jenem buche worin züchtig

Die seele zittert und begehrt und weint

Umschlossen vom gewand antiker grazie.


Langsam im kreise stieg der schöne garten

Auf – wie ein traumbild aus dem herzen steigt

Bewässert von der reinen sangesweise ·[65]


In einem ungewohnten geistigen licht

Das nicht vom himmel sondern auf der erde

Von dem unsterblichen gedicht entflossen.


O lorbeern · ich bin der! nicht mehr verberg ichs –

Ich bin es der im buche las · das licht

Erschaute und im tiefen herzen froh war.


Ist alles hin? der lezte strahl bespottet

Im grossen becken das verfaulte wasser ·

Auf einer hohen mauer schreit der pfau.


In dem geblichnen und versengten grase

Sind tot des ortes liebe schutzgewalten ..

So ist denn jede gottheit hingeschwunden?


Nur kommt ein heisrer klang der glocken näher ·

An welchem leid die fromme flut sich bäumt!

Der schatten dringt zu einem haus allmählich ·


Dem trüben haus wo meine mutter weint.

Quelle:
George, Stefan: Zeitgenössische Dichter. Übertragungen, Zweiter Teil, Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 16, Berlin 1929, S. 65-66.
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