Vierter Brief.

[28] London.


Unser Freund Warton gerieth also beym Schluß meines Briefes, wie von ohngefähr, auf die beste Ursache, warum Spenser den wilden Ariost dem regelmäßigen Tasso in seiner Wahl vorzog. War es Ihnen unerwartet? Mir auch! Diese Ursache ist kein Resultat von irgend einer der vorhergehenden Anmerkungen, und erschöpft doch mit wenig Worten die ganze Kritik über Spensers Plan. Ich kann es Ihnen daher gar nicht verargen, wenn Sie in der nächsten Anmerkung zu erfahren hoffen, daß die Hand des Virtuosen an diesem Gedichte nicht den geringsten Antheil gehabt, daß es ohne Leitfaden, ohne bestimmte Absicht geschrieben sey, ein aufgehäuftes Magazin von kostbaren Materialien, denen nichts fehlt, als die Geschicklichkeit des Baumeisters, sie zu einem prächtigen Tempel im gothischen Geschmack zu ordnen – Aber wie sehr werden Sie sich wundern, wenn Ihnen Hr. Warton selbst sagen wird, daß der größte Fehler seines Dichters gerade in einer allzuvorwitzigen Kunst besteht, einer Kunst, die, nach der Fabel so Ihres Lessings, so lange am starken Bogen meistert, bis er bricht. Diesen Fehler hätte der Kunstrichter ihm zum Verdienste anrechnen müssen, da er den Mangel der Kunst vorher so sehr an den Italienern gerügt hatte: er hätte überdem wissen sollen, daß wir Engländer jederzeit mehr[28] Geschmack am Verwickelten, als am Einfachen gehabt haben: Eine Betrachtung, die nothwendig eben so sehr vor der Beurtheilung eines epischen, als eines dramatischen Werkes vorhergehen muß, und die durch tausend Instanzen gerechtfertigt werden kann; so aber bemüht er sich, den armen Spenser auch hier von der nachtheiligsten Seite vorzustellen; er läßt den leichtgläubigen Leser durch seine Betrugsgläser gucken, und dieser erstaunt über Wunderdinge und Misgestalten, die nirgends sind, als in seinem getäuschten Auge.

»Der Dichter nimt an1, daß die Feyenköniginn, nach einer eingeführten jährlichen Gewohnheit, ein prächtiges Fest angestellt habe, welches zwölf Tage dauert, an deren jedem zwölf verschiedene Beschwerden vor Sie gebracht werden. Um nun den Beleidigungen abzuhelfen, durch welche diese Beschwerden veranlaßt wurden, schickt sie mit gehörigen Verhaltungsbefehlen zwölf verschiedne Ritter ab, und jeder dieser Ritter bildet in der ihm aufgetragenen Unternehmung irgend eine Tugend ab, z.E. die Frömmigkeit, Mäßigung, Gerechtigkeit, Keuschheit oder dergleichen, und ihm ist ein eignes Buch gewidmet, wovon er der Held ist. Ausser diesen zwölf Rittern aber, die zusammen die zwölf sittlichen Tugenden vorstellen, hat der Dichter noch einen Haupthelden zur Hand, der Prinz Arthur, welcher die Magnificenz ausdrückt, eine Tugend, die Vollkommenheit geben soll. Dieser Prinz Arthur ist in jedem Buche mit einer nützlichen Handlung beschäftigt; sein Zweck ist, die Gloriana, oder den Ruhm, aufzusuchen und zu gewinnen. Mit einem Worte, der Dichter will ausdrücklich in diesem Charakter das Gemälde eines braven Ritters liefern, der sich in den zwölf sittlichen Tugenden vollkommen gemacht.«

»Es ist offenbar, daß unser Verfasser, da er seinen Haupthelden aufstellte, wie er Ein großes Ziel zu erreichen sucht, und wirklich erreicht, und eben dadurch Einen großen Charakter, oder einen braven Ritter, der sich in den zwölf Privattugenden vollkommen gemacht, abbilden soll, daß,[29] sage ich, unser Verfasser hierinn den Bau der alten Epopöe nachahmen wollte. (Urtheilen Sie selbst, wie offenbar dieß ist.) Allein, so überzeugt er auch von der Wichtigkeit und dem Nutzen der Einheit des Helden und seines Zweckes war; so schien er es doch nicht von der Einheit der Handlung zu seyn, vermittelst deren der Zweck erreicht werden sollte. Wenigstens ist er nicht der Methode des Homer und Virgil gefolgt, wenn sie ihre Haupthelden zu dem vorgesteckten Ziele hinanführen.«

»Man kann hier füglich fragen: Wie führt Arthur das große einfache und entscheidende Vorhaben aus, welches der Poet ihm bestimmt hatte? Mit einigem Grade von Bündigkeit liesse sich nun freylich hierauf antworten: Daß Arthur eben durch den Beystand, den er jedem der zwölf Ritter, vermöge der Unterstützung der ihnen eignen zwölf Tugenden leistet, sich selbst der Glorie verhältnißmäßig mehr und mehr nähere, bis er zuletzt den vollkommenen Besitz erlangt. Aber gewiß, ein bloßer Beystand ist nicht hinlänglich, und ein so kleines Nebenverdienst sticht gar zu sehr gegen die Belohnung ab. Der Poet hätte diesen braven Ritter zum Hauptanführer machen sollen.« –

Wider wen ficht itzt Herr Warton? Wider sein eigen Ideal? Im Spenser ist es gewiß nicht gegründet, und eben so wenig im Homer. Wenn Arthur nur immer an der Spitze wäre, und nichts geschehe, als unter seiner unmittelbaren Veranstaltung: da wäre die Einheit der Absicht erreicht? Nicht doch, Herr Warton! Wenn Achill in dem größten Theile der Iliade unwirksam bleibt, und nur von ferne in die Haupthandlung einfließt, wollen Sie wol behaupten, daß Agamemnon da der Hauptheld ist, weil er der Hauptanführer der Leading adventurer ist? Lassen Sie uns dem Dichter nicht unsere eignen unmasgeblichen Ideale unterschieben, um hernach desto lauter das io! Paean! über ihn auszurufen. Betrachten Sie vielmehr den Plan des Spenser, als einen großen geräumigen Turnierplatz, der durch zwölf abgesonderte Schranken, die alle ihr eignes Ziel, ihren eignen aufgesteckten Kranz haben, bis zu[30] dem Hauptziele, der Gloriana, in den äusersten Schranken hindurchleitet. Lassen Sie uns unsere zwölf Helden auftreten sehen. Der erste dringt in die vordersten Schranken; er kämpft mit dem Ungeheuer, das ihm darinn aufstößt; bald wird er erliegen: aber Prinz Arthur ist nicht ferne; mit siegreicher Hand eilt er herbey; der Ritter siegt, und dankt seinem Erretter sein gutes Glück. Der nämliche Zufall führt Arthurn in die zweyten, dritten, vierten Schranken etc., alle Gefahren werden durch seinen Beystand überwunden, und er ist der einzige, der sich rühmen kann, die ganze Laufbahn zurückgelegt zu haben, da hingegen die andern Zwölf Ritter sich mit der Ehre begnügen müssen, die Trophäen einer jeden einzelnen Unternehmung, und auch diese nur in einer niedrigen, durch die Wirksamkeit des Arthur rege gehaltnen, Sphäre, aufzuzeigen. Mit der Handlung hat es also seine gute Richtigkeit, und die Allegorie wird uns nicht viel Schwierigkeit machen. Der Hauptheld sollte sich die zwölf Privat-Tugenden eigen machen, um der Gloriana würdig zu werden. Dieß konnte nicht besser, als durch das Interesse geschehen, welches er an der Ueberwindung der ihnen entgegengesetzten Laster nahm; und da die übrigen Ritter dieses Interesses nur einfach, Arthur aber zwölffach hatte; so ist leicht zu entscheiden, wem der Preis gebührt. Mich wundert, wie Herr Warton dieses noch in Zweifel ziehen, und sich, wie er gleich im Folgenden thut, einbilden kann, die zwölf Ritter thäten zu viel, und Arthur zu wenig. Es wird sich gleich nachher zeigen, wie sehr der Kunstrichter die Handlung in einem falschen Lichte betrachtet hat, da er die Rolle des Prinzen Arthur noch mit den Nebenrollen eines Gyas oder Cloanthus vergleichen kann.

»Arthur hätte die vornehmste Rolle spielen sollen, um die Sache der Frömmigkeit, der Mäßigkeit etc. zu führen. Hätte sich unser Held in eigner Person als den Beschützer der zwölf Tugenden dargestellt; so könnte man ihn mit Recht das Urbild aller übrigen nennen, sein Vorhaben wäre ihm gelungen, er hätte die Göttinn Gloriana mit Recht gewonnen. Itzt aber ist er ein blos untergeordneter und Nebencharakter.[31] Die Schwierigkeiten und Hindernisse, die wir von ihm überstiegen zu sehen erwarten, damit er seinen Zweck erreichen könne, werden von andern überwunden. Nicht er ist es, der im ersten B. den Drachen bezwingt, nicht er bändigt den Zauberer Busirane im dritten Buche. Diese Siege gehören dem St. George und Britomart. Ueberhaupt thun die zwölf Ritter zu viel, als daß dem Arthur etwas übrig bleiben könnte; wenigstens thut er das nicht, was wir uns von dem Plane des Poeten versprechen konnten. Unterdessen, da wir noch mit der Absicht des Helden in jedem einzelnen Buche beschäftigt sind, vergessen wir den Helden des Gedichts.«

»Dryden merkt an: Wir müßten Spensern einräumen, daß die Magnanimität (Magnificenz), welche der eigentliche Charakter des P. Arthur ist, durchaus durch das ganze Gedicht hervorscheine und die übrigen Charaktere unterstütze, wenn sie in der Enge sind2. Schiene wirklich die Magnanimität des Arthur in jedem Theile des Gedichts mit höhern dauerhaftem Glanze hervor; so würden wir den Dichter sehr geschwinde freysprechen müssen. Allein, itzt ist dieser Glanz nur ein dunkles kurzes Wetterleuchten. Den übrigen zu Hülfe kommen, wenn sie in Noth sind, wie die Stelle des Dryden lautet, ist für einen so allgemeinen Ritter ein Umstand von geringer Bedeutung. Ein solcher Dienst sollte dem Haupthelden der Epopöe von irgend einem untergeordneten Helden geleistet werden; so etwas ist das Geschäft eines Gyas oder Cloanthus.«

»Ueberhaupt können wir anmerken, daß Spensers Abenteuer, jedes vor sich, als das Subjekt eines eignen Buchs betrachtet, nicht durchgehends eins aus dem andern herfliessen, und folglich nicht eigentlich zusammen wirken, um ein einzelnes vollkommnes Gedicht auszumachen.«

Freylich nicht: aber sie hängen durch die Einheit der Absicht zusammen: eine andere Einheit müssen wir nicht darinn suchen, weil Spenser keine andere hineinlegen wollte.[32]

»Hughes (der Herausgeber des Spenser), der dieß nicht beobachtete, wagt einen Gedanken, die kritische Einrichtung des Gedichts zu empfehlen, der im Grunde den strengsten Tadel desselben enthält. »Wenn wir, sagt er, das erste Buch als ein eignes für sich bestehendes Ganze betrachten, so werden wir es vollkommen regelmäßig finden. Da ist eine einzige Handlung, die im zwölften Gesange vollendet wird; die Zwischenfälle sind sehr glücklich eingewebt, und schicken sich vortreflich, diese Handlung zu hintertreiben, oder zu befördern.« –

»Das heroische Gedicht soll Ein Ganzes seyn, aus mancherley Theilen zusammengesetzt, die sich auf einander beziehen, und von einander abhangen. Daraus folgt, daß keiner dieser Theile so rund zugeschnitten seyn dürfe, ein Ganzes für sich selbst auszumachen. Denn wenn der Verstand Einmal ans Ende einer ordentlichen Reihe von Begebenheiten gekommen ist; so hält er sich auch schon für befriedigt. Unsere Aufmerksamkeit, unsere Neugierde wird zerstreut; wir können die Schlußkatastrophe nicht länger mit der gehörigen Anstrengung bis ans Ende verfolgen. Wenn hingegen jeder einzelne Theil, so bald er von den übrigen abgesondert worden, unvollendet erscheint; so wird das Gemüth, das sich beständig aufs neue anfrischt, seinen Erwartungen Genüge zu leisten, unvermerkt und unwidersetzlich von einem Ende zum andern fortgerissen, bis es eine völlige Befriedigung in der Vollendung einer großen Begebenheit findet, wozu alle Theile blos dadurch, daß sie einander wechselsweise aufklären, und mit einander verbunden sind, das Ihrige beygetragen haben.«

»Unser Dichter merkte vermuthlich, daß in der Einrichtung zwölf verschiedner Abenteuer für zwölf verschiedne Ritter, nicht selten der Mangel an allgemeiner Verbindung zum Vorschein kommen würde. Aus dieser wahrscheinlichen Ursache nimmt er zuweilen in einem weit entfernten Buche eine Erzählung wieder vor sich, die er vorher angefangen und unvollendet gelassen. Da aber zwischen diesem Anfang und Ende der Erzählung eine Menge Zwischenfälle und[33] Zerstreuungen liegen; so muß der Leser nothwendig zuletzt in die größte Verwirrung gerathen, wie er alle diese Dinge in seinem Gedächtnisse zusammenbringen soll. Aus eben der nämlichen Ursache läßt der Dichter, nachdem er einen Ritter in dem für ihn bestimmten Buche abgefertigt, und ans Ende gebracht hat, denselben gleich wieder in dem folgenden Buche auftreten, um in einer kleinern Sphäre an einer weniger gefährlichen Handlung Theil zu nehmen. Allein, dieser Einrichtung fehlt es gar sehr an Kunst: denn es stört diejenige Ruhe, welche der Verstand bedarf, wenn er einen Helden durch mannigfaltige Gefahren und Unglücksfälle zuletzt zum Glück und Siege begleitet hat. Ueberdem, wenn wir eben diesen Helden nachher bey irgend einer minder edlen Unternehmung beschäftigt finden; so verringert er in gewisser Maasse unsre erste Bewunderung. Da wir ihn vorher in einem bessern Verhältniß gesehen; so sind wir für seine Ehre, für seinen künftigen Ruhm interessirt. Eine geringere untergeordnete That versuchen, oder auch vollführen, heißt von seiner erlangten Würde herabsteigen, und den vollen Glanz seiner vorigen Siege verdunkeln.«

»Spenser würde vermuthlich sich selbst sowol, als den Leser, weit weniger in Verlegenheit gesetzt haben, wenn er jedes einzelne Buch zu einem für sich bestehenden vollständigen Gedichte von zwölf Gesängen, ohne Beziehung auf die übrigen Bücher, ausgearbeitet hätte. Solchergestalt wären zwölf verschiedene Gedichte entstanden, in deren jedem wir das Bild einer der zwölf Privat-Tugenden in der Person eines einzelnen Ritters fänden. Itzt aber hat er sehr merklich gefehlt, da er sich vorsetzte, alle zwölf Tugenden in Einer Person zusammenfliessen zu lassen. Der Poet soll entweder zwölf Ritter ohne einen Arthur, oder einen Arthur ohne zwölf Ritter zum Subjekt genommen haben. Wenn wir voraussetzen, daß Spenser willens war, die zwölf moralischen Tugenden zu charakterisiren; so würde der erste Plan vermuthlich der bessere gewesen seyn: der letzte ist wegen seines nothwendigen Mangels an Simplicität fehlerhaft; und diesen Mangel mußte eine Handlung haben, die[34] aus zwölf gleich grossen, nicht ineinandergefügten, nicht wie Kettenringe zusammenhangenden Handlungen, ohne gemeinschaftliche Mitwirkung zu Einem Hauptzwecke, besteht.«

»Ich habe oben gesagt, daß Spenser sich vorgesetzt hatte, den Charakter eines Helden zu zeichnen, der in den zwölf moralischen Tugenden vollkommen war; dieß sollte dadurch geschehen, daß dieser Held allen übrigen Beystand leistete, bis er darüber zum Besitz des ganzen Preises gelangte. So unüberlegt dieser Plan nun auch seyn mogte; so war der Dichter doch verbunden, ihn nie aus den Augen zu verliehren. Dennoch sehen wir den Prinzen Arthur im dritten Buche, welches die Legende der Keuschheit überschrieben ist, seinen Beystand zum Schütze dieser Tugend nicht einmal anbiethen. Er erscheint zwar wirklich: aber er ist bey der ganzen Begebenheit weder Hauptperson, noch Hülfsperson.«

»Bey dem allen muß man gestehen, daß sich in des Dichters Manier, sich von der historischen Genauigkeit zu entfernen, etwas Künstliches findet. Er selbst hat dieses Verfahren mit Einsicht in seinem Schreiben an Sir W. Raleigh erläutert. Dem Plane zufolge, den Spenser hier angiebt, wäre der Leser in dem letzten Buche auf eine angenehme Art überrascht worden, wenn er erfahren hätte, daß die Reihe von Abenteuern, die er eben vollendet gesehen, auf Befehl der Feyenköniginn wären unternommen worden, und daß die Ritter bey Gelegenheit ihres jährlichen Geburtsfestes dazu Anlaß erhalten hätten. Spenser aber ist in den meisten Büchern zu früh mit diesem Umstande zum Vorschein gekommen, den er doch nothwendig bis zuletzt hätte versparen sollen, theils um eine überflüßige Wiederholung zu vermeiden, theils und vornehmlich, um das Gemüth des Lesers noch am Ende mit etwas Neuem und Unerwartetem in Verwunderung zu setzen.« –

Ich denke, es wird Ihnen nicht zuwider seyn, wenn wir hier einige Minuten ausruhen, den zurückgelegten Weg zu übersehen. – Sie erinnern sich doch, daß ich vorher die Anmerkung machte, Spensers Plan hätte am meisten durch eine zu vorwitzige Kunst verlohren. Herr Warton, der,[35] als ein wirklicher Virtuose, überall nach Spuren einer kunstreichen Hand forschet, macht diese Anmerkung gleichfalls; er sah, daß sich sein Dichter verwickelte, und gab ihm einen guten Rath, wie er sich durch einen Meisterstreich auf einmal aus dem Handel heraushelfen sollte. Allein, um Vergebung, Herr Warton, Sie irren sich hier gar sehr. Was wollen Sie doch mit Ihrem Neuen und Unerwarteten bey einem Umstande, der nicht die Handlung selbst ist, sondern die Handlung blos vorbereiten, und dem Leser statt eines Leitfadens durch eine so lange Reihe von Begebenheiten dienen soll? Das Unerwartete für den Leser muß in dem Interesse des Haupthelden liegen, dieses Interesse muß ihn mit sich fortreissen, für dieß allein muß seine Aufmerksamkeit wachsen, für dieß sein sympathetisches Herz besorgt seyn, und nur durch den unerwarteten glücklichen Ausgang bey so mannigfaltigen Gefahren, muß er zum Erstaunen und zur Bewunderung hinangeleitet werden. Spenser betrog sich hierinn, so gut wie Sie: »Die Methode eines historischen Dichters, sagt er in seinem Briefe an Sir W. Raleigh, ist nicht die Methode eines Geschichtschreibers. Der Geschichtschreiber handelt von Begebenheiten in der Ordnung, wie sie vorgefallen sind; er ist eben so sorgfältig, uns die Zeitpunkte einer jeden Handlung herzurechnen, als die Handlung selbst zu beschreiben: der Dichter hingegen wagt sich sogleich mitten in die Handlung hinein, so weit sie ihn selbst am stärksten interessirt; von dort aus läuft er zu vorgängigen Begebenheiten zurück, läßt den Leser etwas von dem nachfolgenden vorhersehen, und veranstaltet auf diese Art eine angenehme Analyse des Ganzen. Sollte also ein so Geschichtschreiber meine Geschichte erzählen, so würde er mit dem letzten Buche anfangen, mit dem ich schliesse, und worinn ich des jährlichen Festes der Feyenköniginn« u.s.w. Für einen Mann, der den Homer und Virgil so gut kannte, wie Spenser, konnte diese Betrachtung nicht schwer anzustellen seyn; nur Schade, daß er den Fall nicht recht anwandte, und das Nothwendige nicht von dem Zufälligen unterschied. Ein so langes Gedicht, das aus zwölf großen Büchern besteht,[36] deren jedes zwölf Gesänge enthält, die zum Theil 600 Verse, und darüber, ausmachen; ein Gedicht, das so viele einzelne Handlungen hinter einander hertreten läßt, deren Absicht man nirgends begreifen kann, so lange man ihre Veranlassung nicht weiß: ein solches Gedicht muß nothwendig ermüden, ehe man ans Ende kömmt, und der Leser weiß es dem Dichter wenig Dank, daß er ihn mit Räthseln unterhält, die er hundertmal vergessen hat, wenn er endlich, nach langem Suchen, die Auflösung findet. Ich sollte meynen, der Kunstverständige müsse nicht weniger Fleiß anwenden, seinem Leser verständlich zu werden, als ihn in der Erwartung zu halten. Versäumet er das erste, so werde ich ihm für sein geschraubtes Kunststück des letztern wenig Dank wissen, und er wird bey mir schwerlich seinen Zweck erreichen. Dieß lehrt mich die Erfahrung des Herzens, die mir mehr gilt, als alle unrecht genutzte Muster, und als alle Aussprüche der Kunstrichter. Auch Spensern muß sie es währender Arbeit gelehrt haben; da er merkte, daß es unmöglich seyn würde, seinen Leser beständig munter zu halten, wofern er ihn nicht dem Gesichtspunkte näher brächte, aus dem er das ganze Labyrinth einigermaßen übersehen könnte; so läßt er allmählig von der Strenge seines ersten Vorhabens ab, und zeigt uns Aussichten, die unsre Blicke nur noch mehr verwildern, weil sie zu entfernt sind. Würde der Dichter nicht weit besser gethan haben, wenn er hier dem Geschichtschreiber eine Simplicität abgeborgt hätte, da die Handlung selbst schon so wunderbar war, daß sie dieses überflüßigen Zusatzes eines verfehlten Unerwarteten gar wohl entbehren konnte? Er hätte es noch immer in seiner Gewalt gehabt, die Haupthandlung sowol, als die untergeordneten Handlungen, von der trägen Gleichförmigkeit des Geschichtschreibers zu entfernen. Der Genius des Dichters, sein poetisches Verdienst, hätte uns sicher bis ans Ende geführt; wir hätten ein hohes gothisches Gebäude erhalten, dem zwar viele kleine Feinheiten der Kunst mangelten, das aber durch sein ehrwürdiges feyerliches Ansehen jedem, der es sähe, einen Schauer der Bewunderung abdrünge. Itzt[37] sind wir so unglücklich, nirgends einen Eingang zu finden, hin und wieder erblicken wir durch ein dunkles Fenster irgend einen prächtigen Pfeiler, eine majestätische gewölbte Halle, wir wünschen ungeduldig, etwas vom Ganzen zu sehen, bis uns endlich, wenn wir schon alle Lust dazu verlohren haben, der Architekt durch eine elende Hinterthüre hineinführt, und wir ihn mit Erstaunen fragen, warum er sie uns auf Kosten unserer Zeit und unsers Vergnügens so lange verborgen gehalten? Alles würde uns lichtheller, prächtiger und edler Vorgekommen seyn. Wir wüßten itzt, wo wir wären, und dürften über der vermeynten Bizarrerie des Künstlers, in der Anlage seines Baues, nicht mehr die Achseln zucken. Jede neue pieçe hätte uns neues Vergnügen gemacht, weil wir itzt einigermaßen die Verbindung mit dem Ganzen begriffen; und die krummen Bogengänge, die uns aus einer schönen Perspective in die andere führten, würden uns unendlich besser gefallen haben, als die schönste moderne Symmetrie, die sich durch keinen Vorzug, als durch einen richtigen Maasstab, empfehlen kann. –

Ich kehre zu meinem Kunstrichter zurück. Sie werden doch nicht abgeschreckt seyn, mir Ihre Gesellschaft zu gönnen? Ein Mann, wie Herr Warton, hat auch da, wo man ihm nicht allemal Recht geben kann, so viel Anziehendes in seiner Art zu urtheilen und sich auszudrücken, daß man sich mit Vergnügen von ihm unterhalten läßt; und zum Ueberfluß werden wir, wo ich nicht irre, nun bald ziemlich nahe in unsern Meynungen über das wahre Verdienst unsers Dichters zusammentreffen.

»So tadelhaft aber der Plan, fährt Herr Warton fort, im Spenserschen Gedichte seyn mag; so kann man doch sicher behaupten, daß der Schüler in dieser Absicht mehr Verdienst, als der Meister habe, und daß die Feyenköniginn bey weitem so verworren und unregelmäßig nicht sey, als der Orlando furioso. Wirklich ist in dem erstern keine Haupteinheit: aber wenn wir jedes Buch oder Abenteuer für ein eignes Gedicht annehmen wollen, so finden wir so viele, wiewol unvollendete, Einheiten, daß ein aufmerksamer[38] Leser vermittelst derselben weniger verirren kann, als in der rohen und unzusammenhangenden Masse, woraus jener von Anfang bis zu Ende besteht, und wo wir vergeblich nach einer Einheit des Ganzen, oder des Detail, suchen würden;


– – cum nec pes nec caput uni

Reddatur formae.«


Sie können leicht denken, daß hier eine Abbildung des Orlando folgt, die dem Ariost gar nicht vortheilhaft ist; ich kann mich aber nicht überwinden, eine Declamation abzuschreiben, die Sie bey allen französischen Kunstrichtern mit veränderten Worten nachlesen können. In der That muß man nicht wissen, daß dieß Gedicht im eigentlichsten Verstande eine Rhapsodie ist, die keinen bestimmten Plan haben sollte, und durchgehends aus ohngefähr zusammengefügten Episoden besteht, welche der Verfasser aus allen möglichen Gefilden der Romanze zusammensuchte; dieß alles, sage ich, muß man, eben so wenig, als die Art zu arbeiten, die dem Ariost eigen war, wissen, wenn man hier über Fehler in der Anlage sein Sneer macht, und bis zum Ekel von klassischen Einheiten dahertönt, wo Niemand daran denken sollte, sie zu suchen. Sie, der Sie so glücklich sind, einen Meinhard unter Ihren Kunstrichtern zu besitzen, der Sie von einer bessern Seite mit dem eigentlichen Charakter der italienischen Dichter bekannt zu machen weiß, Sie werden ohne das nicht von mir erwarten, daß ich Sie lange mit diesen conundrum's aufhalten solle. Inzwischen kann ich doch nicht umhin, Ihnen eine Stelle des Giovambatista Pigna vorzulegen, welche die Manier des Ariost, von der Herr Meinhard nicht genug gesagt hat, am besten ins Licht setzen kann: eine kurze Digression, die Sie einem Briefsteller nun schon übersehen müssen.


Voltatosi (Ariosto) alla Toscana poesia, prese per suo oggetto il comporre Romanzevolmente, avendo tal componimento per simile all' Eroico ed all' Epico, nel quale egli cunosceva di poter avere buona lena, e nel quale tuttavia non veda alcuno che con dignità e magnificamente poteggiato avesse. E per meglio à ciò accomodarsi, sapendo onde questa[39] sorte di scrivere origine avesse, e quai popoli più che i nostri nomini in lei posti si fossero, ingegnossi d'apparar tanto il Francese, e lo Spagnuol idiomo, che meglio che ne' libri volgari, potesse l'arte e la via intendere con chè a lei s'applicasse; ed in ciò fu tanta fatica da lui impiegata, che alcune belle invenzioni scritte nelle due dette lingue nel suo Poema frammise, non intere come esse stanno, ma con tal destrezza o poco o assai tramutate, che di vaghe vaghissime le fece; e da ciascun canto cogliendo il meglio, ha tutta la Romanzeria nel modo cercato, che fa l'ape etc. – Perseverando nel suo proponimento, e seco stesso varj Romanzi nella mente rivolgendo, vide che di loro libro non v'era d'alcun linguaggio dal nostro diverso, il quale fosse o nel nostro parlare tradotto, o almeno per l'Italia divolgato; e si volse però a i nostri, trà quali il Bojardo si propose, che molto famosa era; cosi fece, si perchè conosceva, che il suo Innamorato una bellissima orditura avea, si anche per non introdurre nuovi nomi di persone, e nuovi cominciamenti di materie nell' orrecchie degli Italiani uomini.


Sie sehen hieraus, wie wenig es dem guten Ariost nur geträumt hat, ein episches Gedicht nach Homerischer Form zu liefern: Seine Absicht war nichts weiter, als eine Blumenlese romantischer Begebenheiten, die er nachher auf eine entfernte Art einigermaßen in eine suite bringen wollte. Ein ganz anderes Ideal war dasjenige, von dem ich Sie itzt mit den Worten des obbenannten Pigna unterhalten will, und wovon Herr Warton nicht für gut gefunden hat, etwas zu erwähnen, so wie auch, ich weiß nicht warum, Ihr Meinhard ganz davon stilleschweigt. Dieß war eine wirkliche Epopöe von Homerischer Anlage, eine Anlage, die ihm daher nichts weniger als unbekannt gewesen.


Egli anche accennò di voler Toscanamente darsi all' Epopeja, quando così propone.


Canterò l' arme, canterò gli affanni

D' Amor ch' un Cavalier sostenne gravi

Peregrinando in terra e in mar molt' anni.


Was sagen Sie dazu? Kömmt es Ihnen nicht wunderbar vor, den wegen der Wildheit eines Genies so verschrieenen Ariost itzt plötzlich mit dem classischen Geiste eines[40] Virgil sein Sujet vortragen zu hören? Und noch viel wunderbarer, daß unsre Kunstrichter über dieß Phänomen ganz und gar in der Unwissenheit zu seyn scheinen. Sie sind neugierig, etwas mehr von dieser Epopöe zu erfahren? Ariost ließ sein Vorhaben fahren; er kannte seine Nation zu gut.


Ma a questo proponimento diede poi un diverso fine da quello che s' avea pensato; perciocchè s'avvide che la lingua nostra una tal poesia non comporta, non recando diletto in lei ne riuscendo una materia continuata


Was will denn Herr Warton, was wollen denn unsere Kunstrichter, mögte ich fragen, mit ihrem ewigen Jammergeschrey über Mangel an Regelmäßigkeit, über Unwissenheit, über Barbarey. Lenken Sie sein um, meine Herren, und machen Sie sich erst genauer mit der Denkungsart Ihrer Dichter, mit dem Charakter der Jahrhunderte, und dem Geschmack der Nationen bekannt. – Herr Warton, als ob er mich hörte, lenkt hurtig um; er überlegt die Sache noch einmal, und siehe da! eine förmliche Abbitte.

»Doch, sagt er demüthig, es ist abgeschmackt, nur einmal daran zu denken, daß man den Spenser oder Ariost nach Regeln beurtheilen wolle, die sie sich nicht vorgeschrieben hatten. (Finden Sie das? Sehr wohl! aber warum so spät?) Wir, die wir in den Tagen der Kritik leben, da man nach Regeln schreibt, sind zu sehr geneigt, eine jede Art von Composition nach solchen Gesetzen zu richten, die uns unsere Lehrmeister als die einzigen wahren Kriteria der Vollkommenheit angepriesen haben. Kritischer Geschmack ist itzt allenthalben verbreitet, und wir fodern durchgehends die nämliche Ordnung und Richtigkeit, die wir in den Werken der Neuern erwarten, auch da, wo sie niemals abgezielt waren. Spenser, und eben das kann man von Ariost sagen, lebten zu einer Zeit, da man sich wenig ums Planmachen bekümmerte. Spensers Poesie ist die sorglose Ergiessung einer warmen Einbildungskraft und lebhaften Empfindung. Er hatte sich vorgesetzt, die Phantasie zu[41] unterhalten, und sich durch kühne sonderbare Bilder, deren Anordnung wenig mühsame Kunst voraus setzte, des Lesers Aufmerksamkeit zu verschaffen. Abwechselung und Wunderbares waren (und seit wann haben sie es aufgehört zu seyn?) Hauptquellen des Vergnügens. Daher sehen wir unsern Dichter mit gleichem Eifer seine Beute bald aus dem Reiche der Wirklichkeit, bald aus dem Reiche der romantischen Erdichtung herholen, um so die angemessenste Verzierung und Ausschmückung seines Feyengebäudes zusammen zu bringen. Zu einer solchen Zeit gebohren, schrieb er mit Rapidität nach seiner eignen Empfindung, die von Natur sehr edel war. Correction in einem solchen Gedichte wäre der Karnische ähnlich gewesen, die ein Maler in der Grotte der Kalypso anbrachte. Spensers Schönheiten sind den Blumen des Paradieses gleich,


Welche die Kunst nicht auf Beeten, und zierlichen Feldern hervorbringt,

Sondern allein die milde Natur, im verwilderten Hayne,

Auf den Ebnen, im Thal, und auf dem fruchtbaren Hügel,

Wo die Morgensonne zuerst die offenen Felder

Sanft erwärmt, oder da, wo undurchdringliche Schatten

Kühle mittägliche Lauben geschwärzt etc.

V.P. IV. 240.


Wenn der Feyenköniginn jene Ordnung und Oekonomie mangelt, welche die epische Strenge erheischt; so ist uns doch dieser Mangel kaum merklich, da er durch etwas ersetzt ist, was uns weit nachdrücklicher anzieht, etwas, das die Affekten, die Gefühle des Herzens, mehr als den kalten Beyfall des Kopfs interessirt. Giebt es irgend ein Gedicht, dessen Grazien schon dadurch, daß sie weit über alle Kunst erhaben sind, gefallen; giebt es ein Gedicht, das uns durch die Stärke und durch die wunderbare Kraft einer schöpferischen Imagination zu Entzückungen hinreissen kann, selbst da, wo diese Stärke durch keine überlegte Anstalten der Urtheilskraft unterstützt wird, – so ist es gewiß das Spensersche. Wenn hier der Kunstrichter zuweilen die Stirne runzelt, so wird doch der Leser bezaubert.« –[42]

Und mit diesen sehr anständigen Betrachtungen schließt unser Freund seine Abhandlung über den Plan der Feyenköniginn, eine Abhandlung, die gewiß, so wie das ganze Buch überhaupt, das Werk eines sehr seinen Geschmacks ist, und den großen Beyfall vollkommen verdient, den unsere Nation einem so einsichtsvollen Kunstrichter gegeben hat, ob sich gleich verschiedne Aussprüche über das Genie eines der größten Dichter finden, die, wie Sie mir einräumen werden, schwerlich zu rechtfertigen sind, und weiter nichts als ein Compliment zu seyn scheinen, das der Verf. der französischen Kritik auf Kosten seiner eignen Landsleute macht. Der übrige Theil des Buchs ist voll scharfsinniger und emsiger Beobachtungen, die aber mehr zur Erläuterung schwerer Stellen, als zur Zergliederung derjenigen unnachahmlichen Schönheiten dienen, von denen das Spensersche Gedicht so voll ist. Ich werde mir inzwischen angelegen seyn lassen. Ihnen das Wichtigste daraus vorzulegen etc.

1

S. Spensers Schreiben an Sir W. Raleigh.

2

Zueignung zu seiner Uebers. des Juvenal.

Quelle:
Heinrich Wilhelm Gerstenberg: Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur, Stuttgart 1890, S. 28-43.
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