Achtzehnter Brief.
[159] Beschluß.

Ein Haupt-Talent unsers Dichters als Virtuosen, ist der ungezwungne Vortrag seines Subjects, oder die Kunst zu präpariren, die ihm mancher Franzos beneiden mögte. Sie werden mir kein einziges Stück von ihm zeigen können, das eine so unvernünftige Vorbereitung hätte, als z.E. die doppelte Verkleidung des Saintfoix. Seine Entwickelungen sind auch fast durchgehends dem Theater recht gut angemessen, wenn sie gleich dem Leser nicht immer Genüge thun. Das stumme Spiel ersetzt in diesem Fall, was der Lectüre abgeht; und das einzige Stück, wobei Herr Wieland dem Dichter den Vorwurf macht, daß er schlecht entwickle, ist gerade eins der bestentwickelten, weil der Dichter das Resultat der Verwirrungen, die die ersten vier Acte interessant machten, in den fünften Act concentrirt, und ohne den Knoten zu zerhauen, dem Faden nachgeht, der ihn ganz natürlich bis ans Ende führt. Daß dieses Lob nicht von allen seinen Schauspielen, am wenigsten von denen, gelte, die an der Natur eines Divertissement gränzen, räume ich gerne ein; nur daß man ihm hier eine Kleinigkeit nicht zum Haupt-Fehler an rechne, und beständig die Anmerkung vor Augen habe, daß eine sorgfältige Entwickelung, die auch keine Nichtswürdigkeit unentschieden lassen will, den Zuschauer nothwendig weit mehr empören müsse, als eine, die ihm noch etwas zu errathen giebt, oder wenigstens durch die unerwartete Neuheit hinzugekommener Incidenzen seine Aufmerksamkeit im Gange erhält.

Ich habe meinen Endzweck erreicht. Ich habe gezeigt, daß es Schakespearn nicht an dramatischer Kunst fehlt, wo Kunst erfodert wird; und wer sie da sucht, wo[159] sie ohne Nachtheil des Interesse fehlt, z.E. in den historischen Schauspielen, streitet nicht mit mir.

Von diesen historischen Schauspielen sollte ich noch etwas beybringen. – Sie sind die roheste Gattung der dramatischen Kunst; aber sie haben von einer andern Seite große und unläugbare Vortheile für das dramatische Genie. Ich mögte sie der Nachahmung nicht anpreisen; ich will nur das Gute von ihnen sagen, was sich ohne Partheylichkeit nicht verschweigen läßt.

Nirgends ist der Dichter der Gefahr zu ermüden mehr ausgesetzt, als wo ihm die Bequemlichkeit fehlt, sich auf die Kunst zu stützen: eine Haupt-Ursache, warum alle Arten von Gedichten, deren Ganzes eine fortdauernde Beschreibung ist, auch bey den höchsten Schwüngen der Imagination misfallen.

Ein Theater-Scribent, der eine wohlgewählte und an sich selbst schon rührende Fabel hat, der dieser Fabel noch durch Hülfe eines vortreflichen Plans, an welchem alles frappirt, eine neue Stärke zu geben weiß, hat schon mehr als die Hälfte seiner Arbeit vollendet. Er darf der Skizze nur mit Pinsel und Palette folgen; wenn er sich im Detail auch nur mäßig anstrengt, so ist er doch sicher, daß das Ganze rühren werde; und er müßte ein ungemeiner Kunstverderber seyn, wenn er den Eindruck schlechterdings verfehlen sollte, der schon in der bloßen Erfindung und Zusammensetzung so wirksam ist.

Der Dichter der Historie (verstatten Sie mir dieses Kunstwort des alten brittischen Theaters) findet sich von allen diesen Hülfsmitteln entblößt. Er muß seine Geschichte nehmen wie sie ist; wenn er seine Charaktere nicht gut anzuordnen, ihnen nicht durch die Abstechung eine pittoreske Wirkung zu geben weiß, wenn er nicht einen Schatz von neuen, richtigen, anziehenden Beobachtungen des menschlichen Lebens in sich selbst hat, wenn er die Geschichte nicht mit den stärksten Fresco-Zügen zu treffen weiß, wenn die Zeichnung der Umrisse nicht das Leben selbst athmet: wie will er uns verargen, wenn wir gähnen? Dieß ist Kunst von[160] einer andern Art, und durch diese Kunst unterscheidet sich das Schake spearsche historische Drama von jenen Haupt- und Staats-Actionen, die unsre Großväter den ältesten Britten abgeborgt haben.

»Körper, sagt ein witziger Engländer, scheinen uns desto gigantischer, je regelloser sie gebauet sind,« – und argwohnt, daß wir die Größe des Schakespearschen Genies nach einem zu großen Maaße ausmessen.

Ich will itzt den wunderbaren Einfall, die Größe eines Genies nach dem Umfange der Zeiten, Oerter und Handlungen zu schätzen, nicht rügen: Lassen Sie uns aber dieses Gigantische, diese Regellosigkeit, diese bis zum Ekel verschrieene Wildheit ein wenig näher betrachten.

Das Aergste, was man von dem Dichter sagen kann, ist, daß er mit dem Epitomator einer Geschichte einerley Grundsätze habe, daß seine Vorstellungen, mit Hamlet zu reden, the abstract and brief chronicles of the time sind.

Allein ist das Alles? Hat Schakespear wirklich keinen weitern Endzweck, als blos ein großes Stück nach dem andern aus der Geschichte herauszuheben, und den Klumpen, so wie er da ist, den Zuschauern vorzuwerfen? – Ich muß mich plump ausdrücken, wenn ich mich in die Ideen dieser Kunstrichter versetzen soll. – Ist das im Ernste Alles?

Ich finde es nicht. Ich sehe durchaus ein gewisses Ganze, das Anfang, Mittel und Ende, Verhältniß Absichten, contrastirte Charakter, und contrastirte Groupen hat.

Im Richard II. sehe ich den Streit der schwachen königlichen Würde mit der Stärke und List der Conspiration. Bolingbroke auf der einen, Richard auf der andern Seite: welch ein Contrast! In der Abstufung der ihnen untergeordneten Charakter, welch eine Mannigfaltigkeit! Wie arbeitet alles zu Einem Haupt-Zwecke, dem Verderben des Königs, das doch so bald auf das Haupt der Verräther selbst zurückfällt! Hier ist der Spiegel des menschlichen Herzens. Die Lection würde für den Unterthan nicht so groß seyn, wenn der Dichter bey der Einheit einer Haupt-Handlung[161] stehen geblieben wäre, ohne die unausbleiblichen Folgen auf alle theilnehmende Personen mitzunehmen.

Bolingbroke ist König; der arme, zu spät bedauerte Richard ist nicht mehr; Bolingbroke ist Heinrich IV. Seine Freunde, die ihren Rücken willig vor ihm geschmiegt, ihn voreilig genug auf ihren Schultern zu dem hohen Kranze empor gehoben hatten, sind itzt seine verschwornen Feinde. Eine fürchterliche Cabale! Welch ein Gegenbild in den beiden Haupt-Groupen! Hotspur, Douglas und Glendower, Helden von unbezwinglichem Muthe auf der Einen, und der ausschweifende Prinz von Wales mit seinen lüderlichen Gefährten auf der andern Seite. Nichts ist in diesem kühnen Gemälde überflüßig; der Schatten, den die Wildheit des Prinzen und seiner Cameraden auf seine Geburt und seinen persönlichen Charakter wirft, erhebt die Größe seiner bessern Handlungen, und zeigt den jungen Harry Percy in einem desto glänzendern Lichte. Der Dichter würde seinen Endzweck verfehlt haben, wenn er auf einem weniger dornigten Wege einhergetreten wäre.

Die Königinn Elisabeth, nicht der Pöbel, wie Herr Wieland vermuthet, fand an diesem Gemälde so viel Vergnügen, daß sie Schakespearn auftrug, die nämlichen Situationen noch Einmal auf die Bühne zu bringen; und so ward der zweyte Theil K. Heinrichs IV. der Pendant zu dem erstern, der mit diesem gleiche Anlage und gleiche Wirkungen hat.

Julius Cäsar ist ein Drama von eben der Gattung. Käme es hier blos auf den Tod des Usurpateurs an, so würde er der vorragende Charakter des Stücks seyn; Schakespear aber brauchte ihn nur zur Basis, um die Schicksale seiner Mörder auf seinen Fall zu gründen; und nichts kann treffender seyn, nichts zu lehrreichern Beobachtungen veranlassen, als das Unglück, das die Verschwornen wie auf der Ferse zu verfolgen scheint, in diesem und dem damit verbundnen Drama Antonius und Cleopatra, nach der Anführung des Dichters zu übersehen.[162] Was ist hier gigantisch? was wild? was unförmlich? Ich sehe hin und her, und erblicke nichts als – die Kleinfügigkeit seiner Kunstrichter.

Dehnen Sie diese Anmerkung, wenn es Ihnen, gefällt, auch auf die übrigen historischen Stücke unsers Dichters aus. Sie werden beständig eine malerische Einheit der Absicht und Composition beobachten, zu der alle Theile ein richtiges Verhältniß haben, und die eine Anordnung zu erkennen geben, welche, von dieser Seite betrachtet, dem Künstler eben so viel Ehre machen, als die vortrefliche Zeichnung der Natur dem Genie.

Man muß Schakespearn folgen können, um ihn zu beurtheilen. – Wer im König Lear nichts sieht, als den Narren, dem sey es erlaubt, mit einem sneer abzufertigen, was ihm drolligt scheint. Ich für meine Person bewundere den Dichter, der uns den schwachen Verstand dieses Königs durch den Umgang mit einem der elendesten Menschen so meisterhaft abzubilden weiß, und es befremdet mich nicht mehr, daß die Engländer diese Scenen, anstatt eines dummen Gelächters, mit mitleidigem Schauer über den Verfall und die Zerstöhrung des menschlichen Geistes betrachten. Voltaire mag immerhin über das Komische spotten, das er in den Liedern der Todtengräber beym Hamlet wahrnimt. Ich finde hier nichts Komisches. Der Umstand, daß diese Leute unter lauter Todten-Köpfen und Schedeln singen können, erhöht in mir das Tragische des Anblicks. Die Hexen im Macbeth scheinen Wielanden etwas Abgeschmacktes; mir scheinen sie ein glückliches Ideal zu seyn, das mit dem grauenvollen Begriffe des Königs-Mörders und der rauhen Scene dieser Begebenheit in naher Verwandtschaft steht. Als Schakespear die Idee eines solchen Mörders in seinem Genie hin- und herwandte, mußten nothwendige fürchterliche Bilder daraus hervorspringen, die er, wie wir wissen, mit großem Beyfall seiner Landsleute einzuflechten gewußt.

Schon wieder Herr Wieland? Kann ich mich seiner nicht mehr erwehren? –[163]

Nun wohl, lassen Sie uns denn unsre ganze Aufmerksamkeit auf ihn allein richten – von Schakespearn, dem Original-Genie, zu Herrn Wieland, dem Metaphrasten, übergehn. Dieser Schritt ist nicht blumenreich; wir haben Ursache, ihn uns so angenehm, und noch mehr, ihn uns so kurz zu machen, als wir können.

Meine Kritik soll sich also nur auf die Fehler der Verdrossenheit beziehen, deren ich anfänglich erwähnt habe: wenn ich die Erndte der übrigen fortsetzen wollte, von der Sie in der Bibliothek der schönen Wissenschaften einen guten Anfang finden: wo nähme das Ding ein Ende? Ein paar Beyspiele werden statt aller dienen.

Haben Sie wol eher ein Lied von Anakreon oder Marot in Prose gelesen? – Nein, sagen Sie, gesehen wol, aber nicht gelesen. – Lassen Sie sich immer gefallen, folgende Prose des lyrischen Genies, Ariel, zu lesen.


»Eh ihr sagen könnt, komm und geh, zweymal athmen und rufen, so, so! soll jeder auf den Zehen trippelnd hier seyn, und seine Künste machen. Liebt Ihr mich nun, mein Gebiether?«


Sie werden es dieser Stelle gleich ansehen, daß sie travestirt sey; das Lyrische ragt aus jedem kleinen Abschnitte, aus der ganzen Wendung hervor: glaubten Sie wirklich, daß dieß Ariels Prose wäre, so müßten sie ihn für verrückt halten; und doch hat Herr Wieland seine Uebersetzung durch so grobe Verwechselung dieser beiden Charakter des Ausdrucks, des Lyrischen und des Prosaischen, unerträglich machen können. Im Originale heißt es:


Before you can say, Come and go,

And breathe twice, and cry, so, so:

Each one tripping, on his toe,

Will be here with mop and mow.

Do you love me, master? No?


Alle diese O, sagt Herr Wieland, lassen sich unmöglich ins Deutsche übertragen – Was folgt daraus?

Daß Schakespear, wenn er viele dergleichen Schwierigkeiten[164] hat, unübersetzlich sey. Wieland verachtet diesen Kleinmuth, ergreift die Feder, und denkt Wunder, wie er den Schwierigkeiten abgeholfen habe, wenn er wie ein Jesuiter-Knabe übersetzt.

Folgende Stelle ist von einer andern Gattung poetischer Sprache, die sehr nahe an die lyrische gränzt, und daher in der Prose nothwendig abgeschmackt werden mußte.


Iris.


– – I met her deity

Cutting the clowds towards Paphos, and her son

Dove-drawn with her; here thought they to have done

Some wanton charm upon this man and maid,

Whose vows are, that no bed-right shall be paid,

Till Hymen's torch be lighted: but in vain

Mars's hot minion is return'd again;

Her waspich-headed son has broke his arrows,

Swears, he will shoot no more, but play with sparrows,

And be a boy right-out.


Wieland.


»Ich begegnete ihrer Deität, wie sie die Wolken gegen Paphos zu durchschnitt, sie und ihr Sohn, von Tauben mit ihr gezogen; sie bildeten sich ein, durch irgend ein leichtfertiges Zauberwerk diesen Jüngling und dieß Mädchen zu bethören, die das Gelübde gethan haben, sich der Rechte des Ehebettes zu enthalten, bis Hymens Fackel ihnen angezündet wird: aber die heisse Buhlerinn des Kriegs-Gottes ist unverrichteter Dinge zurückgekommen, und ihr wespen-mäßiger Sohn hat seinen Bogen zerbrochen, und schwört, er wolle keinen Pfeil mehr anrühren, sondern mit Spatzen spielen, und geradezu ein kleiner Junge seyn.« –


Nirgends aber ist der Uebersetzer unausstehlicher, als wo er mit Scherz oder Humor ringt: da hat er offenbar geschworen, geradezu ein kleiner – zu seyn. Ich will Ihnen – doch nein! nein! ich will nichts! Der Angstschweiß bricht mir aus, wenn ich an diese Herkulische Arbeit nur denke.[165]

Von einem Uebersetzer, dem es um die Ehre seines Originals zu thun wäre, hätte ich ferner erwartet, daß er mehr Ausgaben, mehr Lesarten, mehr Commentare zu Rathe ziehen würde, als Warburtons. – »Nun! rufen Sie mir zu, das ist doch sicherlich eine Chicane. Herr Wieland zeigt in seinen Anmerkungen ja deutlich genug an, wie wenig er diesen Commentator für ein Orakel halte.«

Zum Exempel – im Antonius und Cleopatra, wo er deutlich und dreymal deutlich sagt: »Die ausschweifendsten Metaphern sind allemal die, welche dem Herrn Warburton am besten gefallen« – und um zu beweisen, wie gut er die Stelle des Dichters und die Erläuterung des Kriticus verstehe, ride on the pangs triumphing durch »reite triumphirend auf seinen Wallungen« übersetzt.

Von dieser Art der kritischen Scharfsichtigkeit liesse sich noch viel beybringen. Hotspur sagt: »Dieser Rothschimmel soll mein Thron seyn. O Esperance! – führte ihn der Kellner in den Parc?« und Herr Wieland macht die kluge Anmerkung: »Dieses französische Wort steht vermuthlich da, damit es die Lady Percy nicht verstehn soll« – – Ich weiß wol, für wen es noch sonst da steht, der es noch viel weniger als Lady Percy versteht – und doch gleich im vierten Act des nämlichen Drama vom Hall und Pope, die er, kaum sollte mans glauben, selbst anführt, hätte lernen können, daß esperance oder esperanza das Wort zum Angriff in Percys Armee sey.


Wir kürzen diesen Brief hier mit Erlaubniß des Verf. ab, da der Rest desselben keinen andern Zweck hat, als zu zeigen, daß die Wielandische Uebersetzung schlecht sey: wer aber hat das nicht schon lange gewußt?

Die Sammler.

Quelle:
Heinrich Wilhelm Gerstenberg: Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur, Stuttgart 1890, S. 159-166.
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