23. Der Esel, die Nachtigall und der Star

[83] An Gerstenberg.


Ein Esel stand vor seinem Stall,

Und hörte früh die Morgenlieder

Der Nachtigall.


Sie singt, man hör' einmal! schon wieder,

Die liebe Sängerin!

Spricht er zu seiner Eselin:

Gut wär's; allein ihr Stimmchen ist zu schwach,

Ich wett', ich sänge sie danieder.


Und plötzlich singt er übers Dach,

Zum Garten hin,

Sein: Ya – ach!


Der Vögel ganzes Chor

Erschrickt, und fliegt ans Licht, aus Höhl' und Busch hervor,

Und lauscht, und singt nicht fort.


Der ungeheure Schall

Erschreckt zwar auch die Nachtigall,

Allein sie fliegt, und sucht neugierig einen Ort,

Zu sehn, was für ein Ungeheuer

Die Stimm' erhoben hat, und fliegt, und fliegt empor,

Und hört das Ya – ach!

Fliegt auf des hohen Hauses Dach,

Sieht in den Hof, und sieht

Zuerst ein langes Ohr,

Und dann den ganzen Schreier!
[83]

O du, bei dessen Tändelein

Die Musen, und die Grazien sich freun,

Du, dessen kleinen Liederband

Sie gern, mit eigner Hand,

Dianens Nymphen zum Geschenke bringen,

Mein Gerstenberg, o denk einmal,

Der große Peter Rübezahl

Will unsern Uz, und dich, und mich darnieder singen!

Quelle:
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke, Leipzig 1885, S. 83-84.
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