An die Frau Pr. S–.

[197] Bei Uebersendung eines Canarienvogels.


Berlin, den 9. April 1798.


Ein Sänger, der dich herzlich liebt,

Schickt mich, dir etwas vorzusingen;

Was könnt' er dir auch beßres bringen,

Als wenn er dir sein Liebstes gibt?

Er streute mir mit eigner Hand

Die Körner auf des Käfichs Boden,

Und für die Lieder und die Oden,

Die ich in meiner Zell' erfand,

Gab er mir Zucker, den das Land

Erzeugt, aus dem mein Ahnherr stammte,[198]

Statt daß des Gebers Vaterland

Oft Sänger, die es göttlich fand,

Zu Wasser und zu Brod verdammte,

Wohl aber mit freigeb'ger Hand

Um ihre Stirne Lorbeern wand.

Die Sänger wohnen gern in Lauben,

Die hat mein Herr auch mir gebaut,

Um aus dem frischen Vogelkraut,

Wie er die Beeren aus den Trauben,

Die Blütenfäden auszuklauben,

Wobei er freundlich zugeschaut.

Er, der die Freiheit selber liebt,

Von einem Sklaven nichts mag hoffen,

Ließ Tage lang mein Pförtchen offen.

Wenn mich hinaus die Neugier trieb,

Pickt' ich an Gläsern und an Tassen,

Allein ich hatt' ihn viel zu lieb,

Um undankbar ihn zu verlassen.[199]

Schwer, liebe Frau, kommt mir es an,

Von meinem guten Herrn zu scheiden,

Doch wenn ich deines Alters Freuden

Durch meinen Sang vermehren kann:

Wohl! so vermehr' ich sie Euch beiden.

Quelle:
Leopold Friedrich Günther von Goeckingk: Gedichte. Teil 1–4, Teil 2, Frankfurt a.M. 1821, S. 197-200.
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