Lilla

[268] Hundert der Schönen im Saal' gehn meinen Blicken vorüber,

Lilla's schlanken Wuchs glaub' ich hier wieder zu sehn,

Lilla's dunkeles Haar, von selbst in Locken sich kräuselnd,

Fällt bei dieser und der wallend den Nacken herab;

Jene schreitet gerade so leicht, so edel als Lilla,

Aehnlich den Grazien, her, reitzend gekleidet wie sie;

Und bei dieser verspricht das sanfte Auge dem Herzen

Hülfe, das ihrer bedarf, lindernde Thränen und Trost;[269]

Und dem Geiste verspricht's durch neckende Scherze, wie Lilla,

In das Pfänderspiel grämelnde Greise zu ziehn.


Aber ach! Schade fürwahr um diese schlanke Gestalten,

Um das lockige Haar, Schad' um den Graziengang,

Um das weiße Gewand, mit Blumenschnuren durchflochten,

Um das Auge, das viel – wenig nur haltend – verspricht!

Unter dem Hundert gleicht auch nicht eine einzige, Lilla.

Sie, an Herzlichkeit eine Germanierin,

Eine Gallierin an Witz und Feinheit im Scherzen,

Eine Brittin dem Ernst' und der Bescheidenheit nach;

Und den Glücklichen, der ihr Herz erobert, den wird sie

Feurig lieben, wie einst Donna Poretta geliebt.

Quelle:
Leopold Friedrich Günther von Goeckingk: Gedichte. Teil 1–4, Teil 4, Frankfurt a.M. 1821, S. 268-270.
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