An einen Familien-Pokal

[112] Bei meiner Schwester Hochzeit.


Den 30sten September 1778.


Komm herab, du mächtiger Pokal!

Blind vor Alter, der das Hochzeitsmahl

Unsers Eltervaters mit gefeiert!

Füllen will ich dich mit süßem Wein',

Und der Mundschenk meiner Freunde seyn,

Bis Aurora diese Nacht entschleiert.

Geh, du überschweppernder Pokal,

Löse nun die Zungen, bis der Saal

Von Gesang und Scherz und Lachen schüttert!

Keiner setze voll dich wieder hin!

Sag' ihm, daß er sonst der Enkelin

Deines Herrn, den Hochzeitwein verbittert![113]

Denn, verschonend fristete die Zeit

Dein zerbrechlich Leben, eingeweiht

Vor dem Traualtar' auch sie zu sehen,

Und mit Wünschen für den wackern Mann,

Der in ihr ein Engelherz gewann,

Dreimal in die Rund' herum zu gehen.

Dreimal auch mit Wünschen für den Arm,

Der zur Schlacht der Feinde größern Schwarm

Lange schon, auf ihrem Boden, winkte!

Dreimal für das Schwert in Heinrichs Hand,

Das so oft ein Lorbeerkranz umwand,

Als es vor dem Heer' im Schlachtfeld' blinkte.

Aber wenn zuletzt sich mäuschenstill,

Grade wenn man recht ihn fangen will,

Unser Bräutigam davon gestohlen,

Und der Saal, so fest er immer steht,

Um die Gäste sich im Kreise dreht,

Bis sie Abschied stammelnd sich empfohlen:[114]

Dann, du freudenreicher Erbpokal,

Fülle dich mein Weibchen noch einmal,

Steh' ich anders noch auf gleichen Füßen:

So, dich leer in Händen haltend, soll

Mich Auror' als Ueberwinder wohl

Auf dem scherbenvollen Wahlplatz' grüßen.

Quelle:
Leopold Friedrich Günther von Goeckingk: Gedichte. Teil 1–4, Teil 4, Frankfurt a.M. 1821, S. 112-115.
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