II. Petersburg.

[275] In einem mittelgroßen halb gewölbten Zimmer des kaiserlichen Winterpalastes, jenes erhabenen Prachtbaues, den der Befehl eines unumschränkten Gebieters in Jahresfrist aus der Asche neu hervorzauberte, brannte hinter einem hohen Schirm eine kleine Lampe, das Gemach nothdürftig erhellend. Die Ausstattung desselben war eine ziemlich einfache. Vor den beiden großen Fenstern, die nach der Newa hinausgingen, hingen schwere grün wollene Vorhänge, eben so vor den beiden Thüren. Zwei große Arbeitstische standen, der eine mitten im Zimmer. Dieser war mit Papieren und Mappen bedeckt, ein Seitenrepositorium enthielt eben dergleichen. Der zweite Tisch zeigte auf seiner breiten Platte ein kunstvoll gearbeitetes Schreibgeräth von occidyrtem Silber, Petschafte, Briefbeschwerer von seltsamem Material und ungewöhnlichen Formen, Einzelnes offenbar von großem historischem oder Kunstwerth, dazwischen ein Lesepult mit einer einfachen Perlenstickerei und eine kleine Standuhr. Ein Thermometer und ein Doppelkalender nach alter und neuer Rechnung hingen an dem vorspringenden Pfeiler neben einigen Papptafeln mit Listen und Notizen. Zwei offene Bücherschränke rechts und links zeigten eine Auswahl von Werken in französischer, englischer, deutscher, russischer und italienischer Sprache. Der Inhalt des ersten Schrankes gehörte der militairischen Literatur an, namentlich waren es Werke über das Geniewesen. Auch befanden sich darunter die Jahrgänge der preußischen Wehrzeitung, von der die beiden neuesten Nummern offen auf dem Tische lagen. Den zweiten Schrank füllten ernste und schönwissenschaftliche Schriften und einige lexicographische Werke.[275]

Neben dem zweiten Tisch stand ein langes, niederes, eisernes Rollbett von höchst einfacher Construction. Die Unterlage bildete eine Matratze von Maroquin mit Seegras gestopft, ein eben solches Kissen den Kopfpfühl.

An den Wänden hingen einige schöne große Gemälde geistlichen Inhalts, darunter eine Madonna von Murillo, und Portraits; auch zwei kleine Bleistiftzeichnungen in einfachen Rähmchen. Neben dem schriftenbedeckten Arbeitstisch befand sich an der Wand mir große Karte des russischen Reiches, gegenüber die von Europa. Eine große Ordnung und Regelmäßigkeit herrschte in der ganzen Einrichtung des Gemachs und verlieh ihr einen gewissen militairischen Charakter.

– – – –

Auf dem Rollbett, nur von einer wollenen Decke und einem Militairmantel verhüllt, lag ein Schlafender von fast riesiger Körperform.

Die breite kolossale Brust hob und senkte sich ruhig, das Antlitz war nach aufwärts gekehrt, ein Arm unter den Kopf gelegt. Eine hohe, glänzende, eherne Stirn, in der Mitte zwischen den Augenbrauen über der langen geraden Nase in einer ernsten halb drohenden Falte zusammengezogen. Das Gesicht lang und in vollem Oval, das Kinn stark und von großer Willenskraft, fest gerundet, der regelmäßige Mund, von einem militairischen Schnurrbart überschattet, ernst geschlossen. Die ganze Figur des Schlafenden schien wie aus Granit gehauen, so fest und straff war Alles daran. Es lag etwas Soldatisches, Starres, Titanenhaftes in ihr.

Der Zeiger der kleinen Uhr auf dem Tische wies auf 5 Uhr und zugleich ließ sich das scharfe kurze Rasseln eines Weckers hören. Bei dem ersten Tone desselben öffnete der Schlafende maschinenmäßig die Augen.

Diese Augen entsprachen dem Körper, dem ehernen Antlitz. Sie waren ruhig, fest, klar, groß und von jener Eigenthümlichkeit, daß, ohne einen bestimmten Ausdruck zu haben, ihr Blick doch durchdringend, durchbohrend, niederdrückend war, wie z.B. das Auge Friedrich's des Großen von Preußen.

Die Augen waren echt kaiserlich!

Es war auch der Kaiser, der eben erwachte.

Europa hat diesem erhabenen Charakter, diesem ehernen Bilde[276] unter den lebenden Herrschern, an dessen Sterblichkeit zu glauben man sich entwöhnt hatte, – viele nur schwere Vorwürfe an der Schwelle seines Jenseits gemacht; es ist viel Haß, viel Blut und viel Leiden auf diesen Hünen gewälzt worden. Der da Oben die Waagschale hält, richtet auch über die Könige und Kaiser der Erde, wie über den Paria, den Lepero und den Muschik. Aber das Gewicht, womit die Gewaltigen der Erde gewogen werden, ist ein anderes.

Wer viel gehabt und viel verleumdet wird, wird auch viel geliebt.

Kaiser Nicolaus ist geliebt worden, geliebt, wie man das Erhabene liebt.

Er war eine einsame mächtige Natur auf seinem Piedestal, und dieses Piedestal war der Thron des größten Reiches der civilisirten Erde. – –

Der Kaiser warf rasch Decke und Mantel von sich und kleidete sich an ohne Hilfe mit den Kleidern, die auf einem Stuhle vor seinem Bette lagen. Dann zündete er an der Lampe die Kerzen der silbernen Armleuchter an, deren je zwei auf jedem Tische standen.

Der Selbstherrscher des mächtigen Reiches that das Alles allein; er bewahrte bis in das Kleinste herab, so viel es sich mit seinem erhabenen Range vertrug, die militairischen Gewohnheiten.

Dann trat er einige Augenblicke an das Fenster und schaute die weite Perspective hinab. Die frühe Morgenstunde des Spät-Septembers hüllte unter der nordischen Breite noch Alles in Dunkel, das an tausend Stellen durch die Gasflammen unterbrochen wurde, die sich in dem Wasser des breiten Stromes spiegelten.

Der Kaiser setzte sich hierauf an den ersten Arbeitstisch und begann, einen Stoß Papiere durchzusehen. Diese mächtige Natur bewahrte eine immense Arbeitskraft, die durch die strengste Regelung der Beschäftigung und der Zeit vermehrt wurde. Für gewöhnlich stand der Monarch um halb sieben Uhr auf, nahm schon während seiner kurzen Toilette verschiedene Meldungen und Rapporte an, machte dann einen Gang durch das ganze Palais bis zur Wiege seiner Enkel und blieb bis um acht Uhr in seinem Kabinet. Von acht bis neun Uhr machte er stets, und wo er sich auch befand, Sommer und Winter, einen Spaziergang in freier Luft. Um neun Uhr empfing er regelmäßig den Kriegsminister[277] Fürst Dolgorucki, auf den er großes Vertrauen setzte. Der Fürst ist derselbe, welcher bei der bekannten, durch fast komische Mißverständnisse und Vorspiegelungen weniger Rädelsführer hervorgerufenen Militair-Emeute gleich nach der Thronbesteigung (am 24. December 1825) als Capitain die treue Wache im Hofe des Winterpalastes kommandirte, welcher der Kaiser den siebenjährigen Thronfolger anvertraute, ehe er kühn und allein den Rebellen entgegentrat.

Um zehn Uhr pflegte der Kaiser sich für kurze Zeit zur Kaiserin und seiner Familie zu begeben; nie ließ er aber auch dort einen angemeldeten Minister oder eine befohlene Person warten. Wenn gegen zwei Uhr alle Geschäfte im Palais beendet waren, fuhr er in seiner einspännigen Droschke oder im Schlitten aus und besuchte dabei drei bis vier Anstalten der verschiedensten Art. Um vier Uhr speiste er im kleinen Familienkreise, zu dem nur wenige Auserwählte zugezogen wurden. Der Kaiser aß stark, trank aber sehr mäßig. Selbst die Abendstunden waren meist den Staatsgeschäften gewidmet; wenn er im Salon der Kaiserin oder der Großfürstinnen erschien, sprach er wenig und nahm selten an der allgemeinen Unterhaltung Theil. In sein Kabinet zurückgekehrt, arbeitete er wieder und begab sich selten zur Ruhe, wenn noch irgend ein Bericht zu erledigen war. Oft stand er des Nachts auf, verließ allein das Winterpalais und stattete irgend einem Institut, namentlich den Cadettenhäusern, einen Besuch ab. Sein erster Blick galt dann stets dem Thermometer, der die vorgeschriebenen 14 Grad zeigen mußte, und seine Untersuchungen erstreckten sich bis in's Detail.

Der Kaiser hielt sich nach seinen eigenen Worten stets »im Dienst« und nur in Peterhof gestattete er sich auch in der Kleidung einige Abweichungen von der sonst streng ordonanzmäßigen Uniform und Haltung. Auch im strengsten Winter trug der Monarch nur den einfachen Offiziermantel, nie einen Pelz.

Mit dem Beginn der orientalischen Verwickelungen vermehrte sich die Thätigkeit des Kaisers und er gönnte sich noch weniger Erholungen wie früher. Er stand fast zwei Stunden früher als sonst des Morgens auf, um zu arbeiten, und empfing von sechs Uhr ab die Vorträge der Minister und Adjutanten, um später für die militairischen Geschäfte, die Besichtigungen etc. frei zu sein. Eine auffallende Aufregung und Rastlosigkeit hatte sich seines[278] ganzen Wesens bemächtigt und man sah, wie tief ihn der Gegenstand und das Scheitern vieler Erwartungen und gehegten Ansichten berührte.

– – – –

Nachdem der Monarch den Stoß von Papieren, welche vor ihm lagen, durchgesehen und die Unterschriften vollzogen hatte, sah er auf die Uhr, die halb Sechs zeigte, und nach einer der Notiztafeln über dem Schreibtisch.

»Mittwoch – das ist Nesselrode's Tag, da habe ich noch Zeit, er kommt erst um sieben Uhr.«

Damit erhob er sich, holte aus dem Ankleidekabinet, zu dem eine Tapetenthür führte, Mantel und Helm und verließ leise das Zimmer.

Das Vorgemach war erhellt, zwei Pagen saßen dann und schliefen in den Lehnstühlen. Am Tisch wachte der diensthabende Kammerdiener und las; er erhob sich rasch, als er die Thür gehen hörte.

»Ei sieh, Menger,« sagte der Kaiser, »bist Du wach? Geh' hinein und ordne das Kabinet; um Sieben bin ich zurück.«

Er schritt hindurch nach dem äußern Vorzimmer, in welchem während der Nacht ein Offizier der Schloßwache seinen Aufenthalt hatte, um außergewöhnliche Meldungen entgegen zu nehmen.

Es war an dem Morgen ein Lieutenant von der Preobraczenski'schen Garde, diesem Lieblingscorps des Kaisers, das ihn einst gegen die Empörer vertheidigt hatte. Der noch sehr junge Mann war auf dem Stuhl vor dem Tisch, an dem er die abendlichen Wachrapporte eingetragen, die der Kaiser sich alle Morgen vorlegen ließ, eingeschlafen; sein Kopf ruhete auf dem aufgestützten Arm. Es mußte erst spät geschehen sein, denn eine Depesche, die auf dem Tische lag, zeigte den Präsentationsvermerk einer späten Stunde. Vor ihm lag ein halb vollendeter Brief, über dem ihn offenbar die Müdigkeit überrascht hatte, – die Feder war seiner Hand entfallen.

Der Kaiser, dessen Schritt der dicke Teppich des Fußbodens unhörbar machte, nahete sich leise dem Tisch.

»Sie haben gestern Morgen scharf exercirt,« sagte er wie entschuldigend und bog sich über den Schlafenden, die Depesche zu nehmen. Sein Blick fiel aus den Brief und auf seinen Namen. Er nahm vorsichtig das Blatt in die Hand und las.[279]

Der Brief war an die Mutter des jungen Mannes gerichtet, die in dem Gouvernement Nischnei-Nowgorod wohnte und die Wittwe eines früheren Offiziers war. Der Sohn, in dem Kadettenhause erzogen, schrieb ihr, wie er hoffe, daß der Krieg ihm Gelegenheit zur Auszeichnung geben werde, mit der er dem geliebten Kaiser für die Wohlthaten danken könne, die er ihm durch seine Erziehung erzeigt habe. Er beklagte kindlich, daß er sie, die er seit zehn Jahren nicht wiedergesehen habe, nicht zuvor noch ein Mal umarmen dürfe, aber selbst wenn er – was sehr unwahrscheinlich, – Urlaub erhalten könne, sei es unmöglich, da die Entfernung so weit und er ohne Vermögen nur durch die strengste Sparsamkeit die kostspielige Stellung bei der Garde bewahren könne, in die ihn der Zufall und die guten Zeugnisse im Cadettenhause gebracht.

Das Adlerauge des Monarchen hatte in wenigen Augenblicken den Brief überflogen und ruhte wie nachdenkend auf dem Schläfer. Dann nahm er vorsichtig die Feder, schrieb einige Worte unter den Brief und legte denselben wieder an seine vorige Stelle.

Mit leichten Schritten, ohne daß der Schläfer erwachte, verließ er das Gemach. Draußen auf dem Corridor standen zwei Grenadiere des Regiments gleich Statuen auf ihrem Posten. Der Kaiser nickte ihnen zu und schritt die breite Treppe hinab, die in den Vorhof führt. Einen Augenblick blieb er sinnend an der großen, mit drei Kreuzen geschmückten Steinplatte stehen, welche die Stelle bezeichnet, auf der er an jenem blutigen 26. December den Grenadieren den Naslednik (Thronfolger) übergab. Dann hüllte er sich in den Mantel und verließ den Bereich des Palastes.

Es war noch zu früh, als daß die Isworstschiks (Droschkenführer), deren sich der Kaiser bei seinen Besuchen häufig bediente, bereits auf den Halteplätzen sein konnten, und der Monarch ging daher rasch zu Fuß weiter, die Alexander-Newskoi-Perspective hinauf. Es war sechs Uhr, als er das Corps – wie die Cadettenhäuser und Militair-Erziehungs-Anstalten genannt werden – erreichte, dessen Besuch er beabsichtigt hatte, die Zeit, um welche die jungen Soldaten regelmäßig Winter und Sommer aufstehen müssen. Die Wache schlug eben die Reveille, als der Kaiser das Thor passirte und sofort nach einem der großen Speisesäle sich begab. Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht von der Ankunft des Kaisers durch alle Gänge des weitläufigen Gebäudes, und ehe die fünf Minuten,[280] welche er bei solchen Gelegenheiten, wie bei Audienzen der Verspätung einräumte, vergangen waren, wirbelten im Hofraum die Trommeln zum Antreten, und der Gouverneur der Anstalt, Obristlieutenant Moradowitsch, begrüßte den Monarchen in dem Saal.

»Die Offiziere, welche vor drei Tagen das Examen bestanden haben, sollen heute das Corps verlassen und in die Garnisonen abgehen?«

»Zu Befehl, Sire.«

»Gut. Ich will sie vorher sehen. Später habe ich keine Zeit. Komm.«

Er ging voran nach dem Hof. Der Gouverneur und die den Unterricht ertheilenden Offiziere, welche sich vor dem Saale aufgestellt hatten, folgten ihm.

Auf dem Hofe standen compagnieenweise in ihren Hausuniformen die jungen Leute, welche ihre Erziehung in der kaiserlichen Anstalt genossen, um von dieser aus in die Armee zu treten. Da der Kaiser auf eine möglichst gründliche Ausbildung für den Dienst und hohe Klassen hielt, in denen das Avancement bis zum Lieutenant erfolgen konnte, auch den allzu frühen Eintritt in den activen Dienst nicht liebte, so war das Alter der Cadetten sehr verschieden.

Die Offiziere traten an ihre Abtheilungen, der Kaiser ging musternd an den Fronten vorüber. Das Tageslicht war bereits vollständig eingetreten.

»Laß die neuen Offiziere und Fähnriche vortreten.«

Der Gouverneur ertheilte den Befehl; einundzwanzig Jünglinge traten aus den Reihen und stellten sich vor dem Monarchen auf. Zwei derselben, die an der Spitze standen, waren die Ältesten und schienen bereits das zwanzigste Jahr erreicht oder überschritten zu haben.

»Die Zeugnisse!«

Der Obristlieutenant präsentirte sie und der Kaiser nahm sie ihm einzeln ab, wie er nach der Reihe die jungen Leute musterte. Gleich bei dem ersten blieb er stehen und betrachtete ihn mit durchdringendem Blick, den der Jüngling fest und unverrückt aushielt.

Es war ein junger Mann von hoher, schlanker Figur, mit blassem, klassisch geschnittenem Gesicht von energischem Ausdruck; das Auge dunkel und feurig, sonst in seinem Wesen einfach und anspruchslos.[281]

»Wir kennen uns. Du bist Djemala-Din, der Sohn des Imam Schamyl?«

»Ja, Sire!«1

»Dein Vater hat mir in diesem Sommer viel zu schaffen gemacht. Ich wünschte, er wäre so gut russisch wie Du Ich habe Dich lange warten lassen mit einer Offizierstelle, aber ich wollte, daß Du tüchtig ausgebildet würdest, damit es hafte, was Du gelernt hast. Es freut mich, daß Deine Zeugnisse sämtlich gut lauten. Du hast Dir, wie ich sehe, selbst das Uhlanencorps gewählt und gehst nach Polen?«

»Mit Ihrer Erlaubniß, Sire!«

»Schön. Du wirst immer an mir einen Freund finden und ich habe für Deine Ausrüstung bereits gesorgt. In Warschau melde Dich sogleich beim Fürsten Statthalter, er wird Dir das Nöthige mittheilen. Nimm die beiden Pferde, die Du dort findest, als Geschenk von mir und halte Dich brav. Ich habe die Augen auf Dich gerichtet.«

Er reichte ihm die Hand, und als der junge Mann sich tief gerührt darüber beugte, küßte er ihn auf die Stirn.

»Sire! welche auch meine Zukunft sein möge, ich werde nie Ihrer Güte vergessen.«

Er trat zurück in die Reihe seiner Gefährten. Der forschende Blick des Kaisers traf seinen Nachbar und er sah aufmerksam das Zeugniß durch, das der Gouverneur ihm reichte.

Der junge Mann war eine mittelgroße gedrungene Gestalt mit intelligentem Gesicht, aber einem starken Zug von Trotz und Eigenwillen um den Mund.

»Ein Ocholskoi? ein guter Name, aber viel schlimmes Blut in dem Geschlecht. Du bist zwei Jahre länger in dem Corps geblieben, junger Mensch, als Deine Fähigkeiten nöthig machten. Warum?«

»Man hat mir die Erlaubniß zum Examen verweigert, Euer Majestät.«[282]

»Ich sehe es. Du bist zehn Mal in einem Jahre wegen Ungehorsam und Widerspenstigkeit bestraft. Wie ist's mit ihm, Moradowitsch?«

»Er ist einer der besten Zöglinge des Corps, Majestät,« sagte der Gouverneur entschuldigend, »aber er ist schwer zu bändigen.«

»Ich werde es übernehmen,« entgegnete der Czar. »Gehorsam, unbedingter Gehorsam ist das Erste, was ein Soldat lernen muß. Ohne blindes Gehorchen kein Befehl. Ich habe gehört, Du machst Verse, freie Verse, die Du drucken läßt. Das ist keine Beschäftigung für einen Soldaten. Denke an Lermontof2. Ist bereits über um verfügt?«

»Er wird bei den Felddragonern eintreten.«

»Halt da. Lassen Sie die Bestimmung andern. Er soll zu Bodisco gehen nach Bomarsund, und wenn er dort zwei Jahre sich tadelfrei geführt und Gehorsam gelernt hat, mag er in das bestimmte Corps eintreten.«

Eine fahle Blässe überzog das Gesicht des jungen Mannes. Die Alandsinseln gelten in der russischen Armee für eine Strafcolonie, gefürchteter als die Verbannung nach dem Kaukasus. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück in die Reihe.

»Halt!«

Der Verbannte stand wie eine Mauer.

Der Kaiser küßte auch ihn auf die Stirn.

»So, – nun tritt zurück und lerne gehorchen!«

Er controllirte eben so sorgfältig die Zeugnisse der übrigen Neunzehn, lobte und tadelte. Als er dann an der Colonne der Cadetten vorüberging, trat plötzlich einer derselben, fast noch ein Knabe, mit schönem, blondgelocktem Haar und offenem, Zutrauen erregendem Gesicht vor und beugte ein Knie. Der Kaiser blieb freundlich stehen und sagte zu dem jungen Mann:

»Steh' auf, Kind; was willst Du von mir?«

»Euer Majestät danken für das Glück, daß ich meinen Großvater umarmen durfte, und ...«

»Wie heißest Du, mein Sohn? wer ist Dein Großvater?«

»Graf Lubomirski, Euer Majestät. Euer Majestät haben den alten Mann begnadigt und er befindet sich hier.«[283]

Der Czar runzelte leicht die Stirn; er liebte es nicht, an Verurtheilungen oder Begnadigungen erinnert zu werden.

»Es ist brav von Dir, daß Du die Deinen liebst. – Aber Du wolltest noch Etwas?«

»Ich wollte Euer Majestät um die Gnade bitten, daß ich den Feldzug gegen die Türken mitmachen darf. Ich möchte Euer Majestät so gern meine Dankbarkeit und meine Treue bezeigen.«

Der Kaiser lächelte, so weit in dies eherne Gesicht Lächeln treten konnte, und klopfte den Knaben auf den Kopf.

»Wie steht's mit ihm, Moradowilsch?«

»Er ist ein fleißiger und talentvoller Schüler, Sire, aber erst sechszehn Jahre.«

»Nun, so warte noch ein Jahr, die Sache ist noch lange nicht zu Ende für Dich und mich. Dann sollst Du als Junker eintreten. – Adieu, Kinder, gehabt Euch wohl, es wird Zeit für mich.«

Die Trommeln rasselten, der Kaiser salutirte und verließ den Hof. Am Ausgang lehnte er mit einer strengen Handbewegung jede weitere Begleitung ab und schritt allein auf die Straße hinaus eine kurze Strecke, bis ihm ein Isworstschick mit dem leeren Gespann entgegenkam. Er winkte ihm, umzukehren und warf sich in das offene Gefähr.

»Na domo!« (Nach Hause!) sagte er zerstreut.

Die Droschke flog davon und hielt in der Nähe des Winterpalastes. Befremdet stieg der Kaiser, der es ungern sah, wenn man ihn auf seinen frühen Ausgängen erkannte, aus und fragte den Kutscher:

»Kennst Du mich denn?«

Ein schlaues: »Nein, Väterchen!« war die Antwort.

»Aber ich habe meinen Geldbeutel vergessen!«

»Thut Nichts, Väterchen, Du bezahlst mich ein ander Mal!«

»Nein,« sagte der Kaiser, »ich mache keine Schulden. Warte hier.«

Er verschwand in dem Hofe des Palastes und der Kutscher, der den Kaiser sehr wohl erkannt hatte, hielt geduldig sein Pferd an. Eine kurze Weile darauf brachte ihm ein Offizier aus dem Palaste drei Imperials. Das Gesicht des Kutschers, als er mit dem reichen Fahrgeld davongaloppirte, konnte nicht froher und glücklicher sein, als das des Offiziers, welcher ihm das Gold gebracht. Es war derselbe, welcher im Vorzimmer des Kaisers über[284] dem Briefe eingeschlafen war. Als er erschrocken durch die zufallende Thür aufwachte, fand er unter demselben die Worte3:


»Vorzeiger hat zwei Monat Urlaub und aus der Kaiserlichen Chatoullen-Kasse 500 Silberrubel zu erheben.

Nicolaus.«


Als der Czar zurückkehrte, warf sich der junge Offizier ihm zu Füßen. Der hohe Herr aber sandte ihn mit jenem Geschenk zu dem Isworstschick. –

Es war fünf Minuten vor 7 Uhr, als der Kaiser sein Kabinet wieder betrat und Helm und Mantel ablegte. Der Kammerdiener brachte ihm das bereit gehaltene Frühstück. Während er dasselbe genoß, schlug die Uhr Sieben und zugleich wurde der Reichskanzler gemeldet.

Der Eintretende hat in der neuesten Zeitgeschichte eine so wichtige Rolle gespielt, daß wir seiner Persönlichkeit einige Zeilen widmen müssen.

Es war ein Greis von 75 Jahren, denn der Graf ist 1780 – als Kosmopolit auf einem englischen Schiff aus der Rhede von Lissabon – geboren, während sein Vater, aus der rheinisch-bergischen Familie der Grafen von Nesselrode-Ehreshoven stammend, dort russischer Gesandter war. Bei dem wiener Congreß machte sich der Graf zuerst in der politischen Welt bemerklich und galt auch für einen der schönsten Männer jener zahlreichen und glänzenden Versammlung. Noch zeigen sich die Spuren der ehemaligen Schönheit in dem ruhigen feinen Gesicht mit der hohen Greisenstirn. Selbst die hohe Gestalt war nur wenig gebeugt.

Der Kaiser bewies stets große Achtung und Rücksicht für den alten Staatsmann und legte sehr bedeutendes Gewicht auf seine Meinung. Er kam ihm auch diesmal beim Eintritt einige Schritte entgegen und lud ihn ein, sich an dem zweiten Tisch niederzulassen, aus dessen Platte der Minister das mitgebrachte, ziemlich umfangreiche Portefeuille öffnete.

»Ich bitte, Graf, gieb mir zuerst die auswärtigen Tagesberichte; welche Neuigkeiten? ich bin seit einiger Zeit begieriger darauf, als es sonst der Fall war.«

»Baron von Brunnow, Sire, hat auf meine Anweisung durch den Telegraphen am 15. Lord Clarendon officiell angefragt,[285] welchen Weg die englische Regierung nun einschlagen werde, nachdem ihr bekannt geworden, daß Euer Majestät die Vorschläge der Pforte abgelehnt haben. Am 16. sind dem englischen und dem französischen Kabinet durch unsere Gesandten unsere beiden Depeschen vom 7. mitgetheilt worden.«

»Und die Antwort?«

»Es liegt erst die des Herrn von Kisseleff vor, die gestern Abend eingetroffen. Der Gesandte hat von Brüssel aus in der geheimen Chiffre telegraphirt, also das Resultat nur im Geheimen erfahren. Hier ist die Depesche.«

»Lesen Sie, Graf.«

»Herr von Kisseleff meldet: Am 17. Depesche nach Wien, daß Frankreich nicht weiter zur Annahme der Note rathe, da unsere Kritik vom 7. anderen Sinn als die Westmächte unterlege.«

»Ein leerer Vorwand, nach dem man gesucht hat.«

»Der Gesandte meldet weiter: Vorschlag des Herrn Drouin nach London, wegen der Unruhen die Flotten nach Constantinopel zu berufen.«

»Wieder ein willkommener Vorwand! Und wie lauten die Nachrichten aus London?«

»Sire, es fehlen noch die Depeschen.«

»Sie könnten längst hier sein, wenn man eine Antwort gegeben hätte. Lord Clarendon wird sich besinnen, auf die neuen Wühlereien des Herrn Drouin de L'huys einzugehen.«

Der greise Staatsmann zuckte leicht die Achseln.

»Was denken Sie davon, Herr Graf?«

»Sire, Eurer Majestät Vorliebe für England behindert Ihren sonst so klaren politischen Blick. Wenn auch im Augenblick der Einfluß unseres Gegners Lord Palmerston beseitigt ist, bleibt England doch unverändert der geheime und bittere Gegner Rußlands und wird die Lockung nie vorbeigehen lassen, unsere Suprematie im Orient zu brechen.«

Der Kaiser schritt einige Male ungeduldig im Zimmer auf und ab.

»Dieses England! dieses England! – ich meinte es so aufrichtig mit ihm. Der Osten und das Meer gehörten uns Beiden ohne Eroberung, wenn es ehrlich gehandelt hätte.«

»Sire, ich habe Ihnen immer gesagt, Rußlands natürlicher Verbündeter ist Amerika. Ein Reich, das noch eine Zukunft hat,[286] muß sich nie mit einer Macht alliiren, die bereits auf dem Gipfel steht und nach den Gesetzen der Geschichte und der Natur nur die absteigende Linie vor sich hat.«

»Das hieße aber, sich mit der Revolution, mit der Demokratie verbinden, die ich hasse und bekämpfe.«

»Sire, der Constitutionalismus von England ist die permanente gefährliche Revolution, nicht Amerika, das nur damit kokettirt. Nach Euer Majestät Princip gäbe es dann kein loyaleres Bündniß als Frankreich.«

Der Kaiser schwieg einige Augenblicke.

»Was schreibt man aus Constantinopel?«

»Staatsrath Pisani berichtet über die revolutionaire Bewegung der Kriegspartei am 10.4. Was er mittheilt, ist von Wichtigkeit und bestätigt meine Ansichten.«

»Geben Sie mir einen Auszug!«

»Schon seit Beginn des Monats machten sich in Constantinopel die Bewegungen der Kriegspartei auffallend bemerkbar. Die zweimalige Verwerfung der Wiener Note in dem Divan vom 14. und 15. August war offenbar ihr Werk. Euer Majestät wissen, daß der Schwager des Sultans, Mehemed Ali, an der Spitze dieser Partei steht und unser gefährlichster Gegner ist. Mehemed Ruschdi Pascha5, Mahmud Pascha6 und Hamik Pascha7 sind seine Anhänger. Wenn auch bei Mehemed nicht, der offenbar von ehrgeizigen Spekulationen getrieben wird, so doch bei mehreren anderen Persönlichkeiten, hätte meiner Ansicht nach Fürst Mentschikoff die zwei Millionen Silberrubel, die er für dergleichen Zwecke mitnahm, weit nützlicher für die Interessen Eurer Majestät verwenden können, als daß er sie unberührt nach Odessa wieder zurückgebracht hat. Der tiefe Verfall der Türkei bedingt, daß in Constantinopel Alles für Geld feil ist.«

»Er ist ein Eisenkopf,« sagte der Kaiser, »und haßt die Türken.«

»Ein wichtiger Theil der kriegslustigen Partei waren von[287] Anfang an die Ulema's und Softa's8. Es ist dies natürlich, da sie eigentlich den Ultramontanismus des Islam vertreten und für die eigene Existenz kämpfen. Euer Majestät wissen aus den früheren Berichten, daß Sultan Abdul Meschid aller Energie baar und ein Spielwerk in der Hand seiner Umgebungen ist. Um so mehr ist die geringe Diplomatie des Fürsten Mentschikoff zu beklagen. Reschid Pascha hat zwar die westmächtlichen Sympathieen, ist aber klug genug, einzusehen, daß der Türkei das unbeschränkte Bündniß mit Frankreich und England mehr Opfer kosten wird, als alle Forderungen des bisherigen diesseitigen Einflusses. Es lebt ein tiefes unabweisbares Gefühl in der türkischen Bevölkerung, daß eine gewaltsame Entscheidung zwischen der Herrschaft des Islam nur des Christenthums erfolgen müsse. Selbst die Friedensfreunde suchen sie nur hinauszuschieben.«

»Der unheilbar kranke Mann. Meine Großmutter9 hat es schon gesagt.«

»Bereits seit Anfang des Monats hat man an verschiedenen Orten Constantinopels Anschläge gefunden, durch welche der Sultan aufgefordert wurde, die Fahne des Propheten gegen die Christen zu erheben, oder abzudanken. Die Softa's und Ulema's hielten geheime Versammlungen, und am 10. überreichte eine Deputation von ihnen, von einer großen Versammlung auf dem Atmeidan gesandt, dem Conseil eine Adresse an den Sultan, in welcher durch Sprüche aus dem Koran die Nothwendigkeit des Krieges dargethan wurde. Eine zweite Adresse forderte ihn auf, bis zum Beginn des Beiram, bis zum 15., seine Entscheidung abzugeben, oder dem Throne zu entsagen!«

»Ha! Advokaten, Pfaffen mich dort!«[288]

»Wir wissen ganz bestimmt, Sire, daß diese Bewegung im Stillen von Ruschdi und zwar im Auftrage von Mehemed Ali geleitet wurde. Sowohl Lord Redcliffe, als Herr de Latour wußten darum, denn nachdem sie auf Grund der bald und mit einem Dutzend Köpfe der Softa's gedämpften Emeute erklärt hatten, daß sie zum Schutz der Christen am Beiram einige Kriegsschiffe nach Constantinopel rufen würden, trafen ohne den Ferman, den der Sultan für die Flotten beharrlich verweigert, bereits am Morgen des 15. von den Geschwadern in der Besika-Bai zwei englische und zwei französische Dampffregatten ein. – Dies wäre ganz unmöglich gewesen, wenn dieselben nicht bereits vorher Anweisung gehabt hätten. Die englisch-französische Absicht liegt daher klar am Tage.«

»Und der Beiram?«

»Die Prozession ist ruhig vorüber gegangen.«

Der Kaiser blieb am Tische des Grafen stehen und stützte die Hand darauf.

»So mögen sie es denn haben,« sagte er nach einer Pause; »man zwingt mich zum Kriege. Ist er ein Mal eröffnet, so ist sein Ende schwer zu übersehen, und eine innere Stimme sagt es mir, – ich werde dies Ende nicht erleben. Aber mein Rußland wird, und wenn halb Europa dagegen in die Schranken treten sollte, – es wird – es muß siegen! Ich habe es dafür stark gemacht.«

Er ging noch ein Mal gedankenvoll durch das Zimmer.

»Ich habe diesen Krieg nicht muthwillig oder eigensinnig hervorgerufen, bei Gott nicht! Aber ich und dieses Reich haben unsere Mission zu erfüllen. Diese Mission ist das Erbe meiner Väter, ein politisches und ein religiöses. Rußland ist der Damm gegen die Revolutionen, gegen die umstürzenden zerstörenden Ideen von Westen her; darum, um ihnen Trotz bieten zu können, mußte es stark und mächtig sein, und ich habe gethan, was an mir war, selbst auf Kosten des eigenen Herzens, vielleicht des Rechts, es kräftig in seinem Innern, gefürchtet nach Außen zu machen. Das schwarze Meer ist eine Lebensnothwendigkeit für Rußland, und um seiner Existenz und Zukunft willen kann und wird es nie dulden, daß am Bosporus ein anderer Einfluß dominirt. – Seine religiöse Mission, sein Erbe ist der Schutz unseres heiligen Glaubens im Süden und Osten. Eilf Millionen Christen sehen aus ihrer Noth,[289] aus der täglichen Bedrängniß vertrauend auf mich. – Ich habe das Werk meines Urgroßvaters Peter fortgesetzt, den Russen zum Bürger seines Landes zu machen und ihm seine Menschenrechte zu geben, – und ich sollte zögern, wo es gilt, unseren unterdrückten Glaubensgenossen zu helfen und endlich ihre Christenrechte zu sichern!?«

»Erinnern Sie sich, Sire, daß diese Absicht schon ein Mal an der Rivalität von Frankreich und England scheiterte.«

»Sie haben Recht, – ich war zu nachgiebig, man soll mich nicht mehr so finden, wenn man mich denn mit Gewalt herausfordern will.«

»Wie denken Euer Majestät über den Plan, den Vice-Admiral Nachimow vorgelegt hat?«

»Nein, Nesselrode, nein! Ich weiß, daß er den Erfolg mit einem Schlage sichern, den Sieg in unsere Hände geben und einen vielleicht langen und schweren Krieg vermeiden würde. Die russische Flotte von Sebastopol unerwartet in den Bosporus werfen, die Schlösser als Pfand besetzen und Constantinopel mit einer Armee im Schach halten – der Plan ist militairisch vortrefflich, aber – es geht nicht!«

»Sire – im Fall eines Krieges sichern Sie dadurch allein Ihre Flotte und die Herrschaft des Meeres.«

»Nein – nein! – Sebastopol wird meine Flotte schützen, man kann mich höchstens an den Küsten verwunden. Ich aber opferte damit meine ganze Vergangenheit, die bewiesen hat, daß ich kein Eroberer bin. Habe ich nicht im Frieden von Adrianopel, als die Türkei in meiner Hand war, alle Eroberungen zurückgegeben? Habe ich nicht die Beleidigung, die Persien mir angethan, mit dem Erlaß der Kriegsentschädigung vergolten? Haben meine Schiffe und meine Armee nicht den Sultan zwei Mal vor seinem rebellischen Vasallen gerettet? Wer, frage ich, hinderte mich im Jahre 1848, als alle Welt die Hände voll zu thun hatte, zu nehmen, was ich wollte? – Statt dessen brach ich die Revolution in Ungarn und rettete Österreich.«

Der Reichskanzler beugte sich, ohne ein Wort zu entgegnen, auf seine Papiere nieder.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen; man hat mich vielfach gewarnt. Fürst Schwarzenberg soll mit Bezug auf Rußland noch kurz vor seinem Tode gesagt haben: Europa würde binnen wenig[290] Zeit über die Undankbarkeit Österreichs staunen, aber ich glaube daran nicht. Von Fritz, meinem Schwager, weiß ich, daß er es ehrlich meint mit Rußland, wenn ich auch nur passiven Beistand von dort erwarte. Die heilige Alliance, die Sie selbst mit schließen halfen, ist ein Erbe unserer Vorgänger, das uns heilig ist. Ich traue auf den Kaiser Franz Joseph, er ist ein junger Mann, der die Traditionen Österreichs nicht zu Schanden machen wird. Vertrauen erweckt Vertrauen! – Hier biete ich es!« – Der Kaiser nahm einen versiegelten Brief von seinem Tisch, der dort umgekehrt gelegen, und reichte ihn dem Kanzler. – »Ich schrieb um diese Nacht. Schicken Sie ihn sogleich mit einem Courier nach Olmütz ab, wo auch mein Schwager Wilhelm bereits eingetroffen sein wird. Es ist die Anzeige meines Besuchs im olmützer Lager. – Sie werden mich begleiten; wir reisen morgen nach Warschau ab.«

Der Graf legte den Brief in sein Portefeuille.

»Und nun, Batuschka10,« sagte der Kaiser freundlich nur lehnte ihm die Hand auf die Schulter, »wie denkst Du über den Erfolg? Werden England und Frankreich im Fall eines Krieges wirklich auf den Kampfplatz gegen mich treten, wenn man meine Westgränzen durch Deutschland gesichert sieht?«

»Sire, ich habe bereits Eurer Majestät wiederholt meine Überzeugung ausgesprochen und durch Gründe belegt, daß die Verwickelung von Frankreich veranlaßt ist und nicht so weit getrieben sein würde, wenn man nicht von vorn herein die Absicht eines Krieges zwischen Eurer Majestät und England gehabt hätte. Ich bin noch immer der Ansicht, daß unsere Zeit noch nicht gekommen war, unsere Einrichtungen und Transportmittel sind noch nicht vorgeschritten genug, – mit einem Wort, Sire, wir sind nicht vorbereitet.«

»Dolgorucki steht für die Armee, ich kenne sie selbst genau und weiß, was Kronstadt und Sebastopol leisten können. Kleinmichel hat Zeit und Mittel gehabt, die Straßen im Süden genügend in Stand zu setzen, so daß der militairischen Communication kein Hinderniß im Wege steht, wenn wir auch noch keine Eisenbahn haben.«

»Die geringe Anzahl unserer Truppen in den Fürstenthümern[291] beunruhigt mich, Sire. Ist der Krieg unvermeidlich, so mußte man ihn mit voller Energie beginnen.«

»Aber ich habe Dir gezeigt, man macht mir die Pfandnahme ohnehin schon zum Vorwurf, selbst mein Schwager in Berlin. Eine Operationsarme würde unseren Gegnern nur Waffen in die Hände gegeben haben. Übrigens ist Gortschakoff stark genug, dem Renegaten Omer die Spitze zu bieten.«

»Die französische Armee ist in vorzüglichem Stand und disponible. Die verschiedenen Lager sind nicht ohne weitergreifende Absichten gebildet. Wenn auch die englische Landmacht nicht in's Gewicht fällt, so kann das Bündniß doch binnen kurzer Frist eine sehr bedeutende Macht an den Bosporus werfen, die entente cordiale wird sich ergänzen und hat die Mittel in Händen.«

»Sie ist unerhört, diese unnatürliche Verbindung, gegen alle Tradition und Politik! Und es scheint Ernst damit zu werden.«

»Sire, ich glaube, ganz Europa hat sich in Napoleon III. verrechnet. Es ist offenbar, daß England hierbei sein Werkzeug ist. Er hat eine Erbschaft angetreten, dessen erste Artikel der Haß gegen England und Rußland sind, an denen sein Oheim unterging. Er hat vor diesem die Erfahrung und die Ruhe voraus. Ein einziges Wort, das ihm zur Zeit des Staatsstreiches entschlüpft ist, enthüllt seine Pläne und seinen Charakter.«

»Was meinen Sie?«

›Die Rache ist ein Gericht, das kalt genossen werden muß.‹ »Die Verbindung mit England in einem Kriege wird und muß die Schwäche desselben vor der ganzen Welt enthüllen. Frankreich, selbst geschlagen, wird der Sieger sein. Der Kampf zwischen England und Rußland kann durch die Schwächung beider Gegner nur sein Vortheil werden. In einem einzigen Calcül wird sich hoffentlich der Kaiser Napoleon irren, in der Spekulation, daß Österreich und Preußen sich in einem Kriege durch Theilnahme gegen uns gleichfalls schwächen werden. Diese Beiden, wenn sie fest bleiben gegen die Verlockung, konnten einst das Paroli bieten; denn glauben Euer Majestät, man wird versuchen, halb Europa in eine Revolution gegen uns zu verwickeln.«

»Wissen Sie, Nesselrode,« sagte der Kaiser vertraulich, »daß ich anfange, gewisse Vorschläge an Frankreich zu bereuen?«

»Die von Euer Majestät großem Ahnen überkommene Politik[292] und das Interesse Rußland's geboten den Versuch und gehen über jede andere Rücksicht.«

»Sie überzeugen mich, und dennoch kann ich noch immer nicht glauben, daß man zu einem Angriff gegen mich schreiten wird.«

»Ich wiederhole Eurer Majestät, der Angreifende hat den Vortheil. Es ist ein Krieg und eine Rache der Revolution gegen uns.«

»Europa, die Throne sollten das bedenken.«

»Leider ist auch in dieser Beziehung zu wenig vorbereitend geschehen. Euer Majestät sind nun einmal eingenommen gegen die Macht und Bedeutung der Presse.«

»Bah, ich verachte sie, es ist hohle Lüge und Declamation durch und durch. Nichts Zuverlässiges. Auf Ihren Wunsch habe ich ja zwanzigtausend Imperials für die Zwecke bewilligt, was wollen Sie noch mehr?«

»Sire, ich glaube, es war zu spät. Die Presse läßt sich in unserer Zeit wohl beeinflussen, aber nicht mehr kaufen. Wir haben Manches versäumt. Ich kann mich von dem Glauben nicht losmachen, daß Euer Majestät der altrussischen Partei zu schnell nachgegeben haben.«

»Wohl – so sei diese Reise der letzte Versuch, den Frieden zu sichern. Ich werde den Angriff abwarten, – und sie mögen zerschellen an Rußland's Kraft. – Sind weitere Depeschen und Nachrichten eingegangen?«

»Der ausführliche Bericht des Staatsraths Fonton über seine Reise durch Serbien liegt vor. Die Bevölkerung ist begeistert für Eure Majestät und das Auftreten Rußlands.«

»Das giebt Österreich einige Beschäftigung und sichert uns vor Überflügelung.«

»Oberst Berger befindet sich wieder in Cetinje. Sein Einfluß ist durch die Bemühungen des wiener Kabinets sehr beschränkt. Der Vladika hat neuerdings strenge Verfügungen gegen die Razzia's in das türkische Gebiet erlassen müssen. Im Volk selbst aber herrscht die Erbitterung fort und zeigt sich bei jeder Gelegenheit, namentlich seit einer seiner gefeiertsten Häuptlinge, der Beg Martinowitsch, von den Türken ermordet worden ist.«

»Wenn der russische Adler ruft, werden meine wackern Montenegriner nicht müßig sein. Es war ein großer Fehler am wiener Congreß, Montenegro zu isoliren und Corfu aufzugeben.«[293]

»Baron von Meyendorf meldet aus Wien, daß man dort die bestimmten Beweise habe, daß die Führer der revolutionairen Propaganda, namentlich Kossuth und Mazzini, mit der Kriegspartei des Divan in genauem Rapport stehen.«

»Das müßte man von Constantinopel aus wissen. Wir sind dort bei Weitem nicht mehr so gut bedient wie früher.«

»In Madrid ist das Ministerium Lersundi gefallen. Der Sieg der revolutionairen Partei bereitet sich vor.«

»Der Fluch des begangenen Unrechts. Es fehlt diesen Bourbonen an persönlichem Muth, ihr Alles in die Schranken zu werfen, sonst hätten längst die Dinge im Westen einen andern Gang genommen.«

»Der Kriegsminister wird Euer Majestät die Berichte des Fürsten Gortschakoff vorlegen, so wie den Rapport über den Zustand der Festen am kaukasischen Ufer.«

»Es ist bereits beschlossen, ich gebe sie auf.«

»Fürst Mentschikoff sendet Berichte aus Constantinopel. Der Rest der türkischen Truppen ist am 10. nach Varna abgegangen. Die türkisch-ägyptische Flotte liegt noch immer unverändert vor Beykos. Der spanische General Prim ist nach Schumla abgereist, nachdem er in Constantinopel spärliche Beachtung gefunden hat.«

»Der Don Quixote!«

»Am Libanon unter den Drusen sind neue Unruhen ausgebrochen, – ich habe unsere Agenten in Syrien instruiren lassen. An verschiedenen Stellen Rumeliens, z.B. in Saloniki, haben neue schändliche Mißhandlungen der christlichen Unterthanen ganz ungescheut stattgefunden. Aus Bulgarien ist eine Deputation in Constantinopel angekommen, welche über die Scheußlichkeiten der Baschi-Boschuks gegen die Bevölkerung Beschwerde führen soll.«

Der Kaiser lachte verächtlich.

»Gerechtigkeit und Schutz bei dem Moslem! – Täglich solche Erfahrungen und dies christliche Europa will mir nicht gestatten, Christen gegen ihre geborenen Henker zu schützen! – Haben Sie aus Athen Nachrichten?«

»Eine unbedeutende Veränderung im Ministerium. Das Ministerium der Justiz, das der Minister des Auswärtigen Pajkos bisher verwaltet, ist an den Professor Gilitza übergegangen. Der englische Gesandte tritt in animoser Weise gegen die Sympathieen[294] auf, die sich offen unter der Bevölkerung Athens und des Landes für uns zeigen.«

»Nichts Näheres? – Sie wissen, Graf, seine Macht ist Null, aber ich rechne viel aus die Sympathieen Griechenlands vor den Augen Europa's.«

»Ihre Majestät die Königin wiederholt unserm Gesandten die gegebenen Zusicherungen, doch ist Vorsicht nöthig und man klagt über die Intriguen dieses Herrn Kalergis, der eben aus Paris zurückgekehrt ist. – Alle Vorbereitungen sind getroffen, im Augenblick einer Kriegserklärung wird Major Caraiskakis sofort an der Gränze die Fahne des Kreuzes aufpflanzen und den Aufstand nach Epirus und Thessalien werfen. In Albanien von Montenegro aus wird sein Stiefbruder Grivas dasselbe thun. Es gährt überall im Lande und wird die Truppen in Süd-Rumelien zur Genüge beschäftigen.«

Die Uhr schlug Acht – mit dem letzten Schlage trat der diensthabende Adjutant in das Kabinet.

»Sind wir zu Ende, Herr Reichskanzler?«

»Ja, Sire!«

»Ah, guten Morgen, Mansuroff. Sie werden mich begleiten. Wer hat heute außer den Befohlenen um Audienz nachgesucht?«

»Fürst Iwan Oczakoff bittet um die Gnade, sich vor seiner Abreise beurlauben zu dürfen.«

»Ist er nicht dem Stabe des Fürsten Mentschikoff beibeordert?«

»Zu Befehl, Sire, doch hat er zuvor Urlaub, seine auf der Courierfahrt von Paris in Berlin erkrankte Schwester auf ihre Güter in der Krim zu bringen. Die Ärzte haben ihr den Aufenthalt im Süden verordnet.«

»Wer weiter?«

»Graf Lubomirski, den Eure Majestät vom Exil begnadigt haben, will Allerhöchstdenenselben seinen Dank zu Füßen legen.«

»Lubomirski? – Er hat einen braven Enkel, doch liebe ich die Begegnung mit alten Rebellen nicht; es ist genug, daß ich verzeihe. Es war ja wohl auf Ihre Empfehlung, Nesselrode?«

»Er ist ein alter Mann und hat uns in Paris mancherlei Dienste geleistet.«

»Genug; sagen Sie den Herren, ich nähme die Meldung für empfangen an, aber meine Zeit wäre heute allzubeschränkt. Herr[295] Reichskanzler, für morgen früh 6 Uhr. Der Großfürst Nicolas wird uns begleiten, von Warschau aus der Fürst Statthalter.«

»Sire, ich werde die Ehre haben, Eure Majestät auf der ersten Station zu erwarten. Ich beurlaube mich!«

»Adieu, Adieu! – Geben Sie mir den Helm, Mansuroff, kommen Sie!« – – –

Der Kaiser verließ das Kabinet. – – –

Wir werden es in einer schweren Stunde wieder betreten!

1

Djemala-Din, der älteste Sohn Schamiy's, war von ihm im Jahre 1839 bei dem Sturme auf Achulgo, wo er selbst nur wie durch ein Wunder entkam, als ein kaum 7jähriger Knabe dem russischen Gouvernement als Geißel gestellt und er war seitdem auf kaiserliche Kosten in dem Cadetten-Corps erzogen worden. – Wir werden später Gelegenheit haben, sein ferneres Schicksal dem Leser vorzuführen.

2

Derselbe wurde wegen seines Gedichts auf Puschkin's Tod: »An Rußlands Schutzgeist,« als Soldat nach dem Kaukasus geschickt.

3

Historisch.

4

29. August alten Styls. Um die doppelten Bezeichnungen zu vermeiden, geben wir, auch wo die Scene in Rußland spielt, nur die Daten des neuen Kalenders, der mit dem älteren um 12 Tage divergirt.

5

Commandeur der Garden.

6

Großadmiral.

7

Handelsminister.

8

Der Koran – in arabischer Sprache geschrieben, aus welcher er nicht übersetzt werden darf, – ist nicht allein das religiöse, sondern auch das bürgerliche Gesetzbuch. Die Ulema's sind die Ausleger des Korans und bilden daher gleichsam eine Klasse religiöser Rechtsverständiger; Softa's heißen die Schüler und Studirenden. Das Haupt der Ulema's ist der Scheik ul Islam (gleichsam Justizminister). Unter ihm steht an der Spitze der Ulema's jeder Provinz ein Karaskier, der aber in Constantinopel residirt. Diese bilden einen Rath, an den sich der Sultan in wichtigen Dingen mit du Frage wendet, was der Koran entscheidet. Die Erklärung des Rathes heißt Fetva. – Der Rath hatte sich für den Krieg entschieden.

9

Katharina II.

10

Väterchen.

Quelle:
Herrmann Goedsche (unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe): Sebastopol. 4 Bände, Band 1, Berlin 1856, S. 275-296.
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