Cholera morbus!

[324] Während bereits von Paris her die Krimm-Expedition im Geheimen beschlossen war und Marschall St. Arnaud seine Vorbereitungen in Varna traf, ergab sich die Nothwendigkeit, theils, um die Aufmerksamkeit der Russen von diesen Vorbereitungen abzulenken, theils, um dem weitern Umsichgreifen der Krankheiten zu steuern, die Truppen in weitern Distancen zu dislociren oder auf Expeditionen auszusenden. Die ungeheure Anhäufung von Menschen auf einem Punkte, die unerträgliche Hitze und die Ausdünstungen der Unreinlichkeiten aller Art, welche, trotz der strengsten Verbote, nach orientalischer Gewohnheit die Straßen und den Hafen Varna's füllten, hatten – wie wir bereits gesehen – die Cholera mit gefährlicher Heftigkeit ausbrechen lassen. Der Marschall sandte daher einen großen Theil der Flotte mit einer embarkirten Truppenzahl unter Canrobert und Sir George Brown mit geheimen Instructionen an die Küsten der Krimm ab.

Diese Instructionen gingen, wie die griechischen Spione richtig ahnten, nicht auf eine Landung und einen Angriff Sebastopol's aus, sondern Lauf eine möglichst genaue Recognoscirung der Küsten und ihres Fahrwassers.

Eine solche war um so nothwendiger, als die Russen das schlaue Manöver gebraucht hatten, Seekarten über die Ufer des Schwarzen Meeres zu verbreiten, welche absichtlich falsch und darauf berechnet waren, jeden Feind zu täuschen.

Zugleich mit der Expedition zur See war eine Landexpedition gegen die russischen Truppen beschlossen worden, welche die Dobrudscha noch besetzt hielten. Diese Expedition erfüllte, wie bereits erwähnt, den doppelten Zweck, das durch die Unthätigkeit bei der Belagerung von Silistria bereits erschütterte Vertrauen der Türken auf ihre Alliirten wieder zu kräftigen und die Truppen zu trennen.

Oberst Desaint, welcher die Dobrudscha durchstreift, hatte die Nachricht überbracht, daß zwischen Matschin, Tultscha und Babadagh noch 10,000 Mann russische Infanterie mit 2 Husaren-Regimentern sich befänden. 1200 Kosaken standen als Vorhut in der Nähe von Küstendsche.

General Yussuf, der berühmte afrikanische Partheigänger, hatte[325] mit Oberst Beatson eben die Organisation der Baschi-Bozuks, unter dem Namen der »orientalischen Spahi's« vollendet. Der Marschall vertraute ihm das Geheimniß der Krimm-Expedition und wie nöthig es sei, die Russen durch eine Diversion in anderer Richtung zu fesseln. Er erhielt demgemäß die Ordre, mit seinen 3000 umgeschaffenen Reitern und zwei Bataillonen Zuaven, unter Bourbaki in die Dobrudscha vorzudringen und die Russen zu beunruhigen. Zu seiner Unterstützung wurden staffelweise drei Divisionen aufgestellt, deren erste unter General Espinasse, dem Commandant en chef der Expedition, der leichten Avantgarde folgen sollte, während die Divisionen des General Bosquet und des Prinzen Napoleon als zweite und dritte Linie aufgestellt blieben.

Am 4. August sollten die Truppen wieder eintreffen, um sich am 5. zur Krimm-Expedition einzuschiffen.

Man hatte nur Eines in diesem Plane vergessen.

Dies Eine war – die Cholera.

Das Ziel des Marsches für die Division Espinasse war Küstendsche, wo der General sein Lager aufschlagen sollte, um von hier aus die fliegende Colonne Jussuf's zu unterstützen.

Es ist ein trauriges Land, die Dobrudscha, und eine Armee, die es durchzieht, hat mit unsäglichen Mühseligkeiten zu kämpfen, die sich steigern, je näher man dem Donau-Delta kommt. In der nächsten Umgebung Varna's, bis auf etwa 6 Meilen, durchwandert man waldiges Terrain; bald darauf aber sieht man keinen Baum, keine Schlucht mehr, nur von Entfernung zu Entfernung Senkungen des Erdreichs, in denen sich das Sumpfwasser sammelt. Das Auge schweift über die Flächen, ohne einem Gegenstande zu begegnen, der das geringste Interesse fesseln kann; nicht ein Bach frischen Wassers bewässert jenes trostlose Gelände. Am dritten Tag schlug die Division ihr Bivouac in Kavarnac auf. Von da an bestand das, was man Dörfer nannte, aus elenden Hütten von trockenen Steinen, aus denen sich die bulgarischen Familien bei der Ankunft der Franzosen geflüchtet hatten, auf ihren Armen oder ihren zerbrochenen Araba's davontragend, was sie ihr spärliches Besitzthum nannten.

Am 25. Juli kam die Colonne in Mangalia an – es lag in Trümmern. Schon am andern Nachmittag verließ sie wieder den Ort und wanderte durch trostlose Haiden, auf welche die Sonne ihre glühenden Strahlen sandte. Man nahte dem Trajanswall,[326] über den hinaus bereits Yussuf mit seiner mobilen Colonne schwärmte, und schlug das letzte Bivouac vor Küstendsche, zwischen zwei Höhenzügen, auf. Der Boden hob sich hier wellenförmig, die Öde war hin und wieder belebt, aber es waren nur Trupps wilder Pferde, die sie durcheilten. Schwärme wilder Gänse, die aus den Sümpfen mit lautem Geschrei aufflogen bei der Annäherung des Zuges, oder das Gekreisch der Adler, die in den Lüften ihre Kreise zogen und so wenig an eine Störung gewöhnt waren, daß sie die Soldaten dicht an sich herankommen und mit den Gewehren nach sich schlagen ließen, ehe sie sich erhoben.

Wenn die Nacht kam, dann umkreiste der wilde Hund oder der Schakal mit seinem klagenden Geheul das Lager und die Schildwachen sahen ihre formlosen Schatten über die Fläche stieben.

In dieser Nacht brach ein furchtbares Gewitter aus, das einen sinnbetäubenden Eindruck auf die ermüdeten Soldaten machte. In wenig Augenblicken war das ganze Lager durch hundert Gießbäche unter Wasser gesetzt. So kam man naß und erschöpft unter dem Strahl der glühenden Sonne am anderen Morgen in Küstendsche an, aber man fand einen Trümmerhaufen, dessen Ruinen zum Theil noch rauchten, so daß General Espinasse eine Stunde davon sein Lager aufschlagen mußte.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Es war am Abend des 28., als eine ziemlich starke Abtheilung der orientalischen Spahi's und zwei Compagnieen des ersten Zuaven-Regiments unter Lieutenant-Colonel oder Colonel, wie er unter den Organisirten genannt wurde, Vicomte de Méricourt, durch die öde, wellenförmige, zum Theil schon hier in Sumpf auslaufende Steppe vordrang. Die Tirailleurs hatten dem Commandanten angezeigt, daß in der Entfernung von einer Viertelstunde ein tartarisches oder bulgarisches Dorf zu liegen scheine, und der Vicomte, abseits des Yussuf'schen Corps detaschirt, hatte die Stelle zum Bivouac bestimmt.

Bei der Ankunft fanden sich in der That mehrere halb zerstörte, von Lehm und Binsen errichtete Erdhütten, die sonst den Aufenthalt jener wenigen aber genügsamen Menschen bilden, welche Gegend bewohnen.

Die Hütten waren leer, nur in einer derselben fand man – was seit vielen Meilen nicht geschehen war – drei der geängsteten Bewohner des Landes in ärmlicher Tracht.[327]

Es war ein Mädchen von hoher schlanker Figur, schönen Zügen und braunem Teint, das ruhig und zurückhaltend an dem ärmlichen Lager eines Kranken saß, der in Schaaffelle gehüllt auf getrockneten Binsen lag. Ein noch ziemlich junger Mensch mit verschmitztem Aussehen kam den Offizieren kriechend entgegen und erzählte in ziemlich verständlicher Lingua Franca, daß sie eine arme bulgarische Zigeunerfamilie und hier, als die Bewohner vor den Moskows flüchteten, zurückgeblieben wären, da ihr Bruder vom Fieber ergriffen, zu krank gewesen sei, um mit ihnen fortzuwandern.

Auf weiteres Befragen berichtete der Zigeuner, daß die letzten Russen vor vier Tagen an der Stelle gewesen, ein vereinzeltes kleines Commando Kosacken, und dann nach Isler zu abgezogen seien, wobei er aus den Reden der Reiter gehört habe, daß das ganze russische Corps, das noch die Dobrudscha besetzt hielt, auf dem Rückzug begriffen sei.

Zugleich kam die Meldung, daß die Soldaten in der Nähe das nothwendigste Bedürfniß des Kriegers auf dem Marsch, Wasser, in einem jener Brunnen gefunden hätten, die mehr aus Cisternen bestehend, äußerst spärlich über das traurige Land verstreut sind und jetzt noch größtentheils von den Russen verschüttet waren. Menschen und Thiere hatten sich sofort um den Rand der Cisterne zusammengedrängt, um mit dem Lebenselement die vertrockneten Gaumen zu netzen.

Die erhaltenen Nachrichten bestimmten vollends den Obersten, an dieser Stelle das nächtliche Bivouac aufzuschlagen. Sofort begannen, während die türkischen Reiter sich träge neben ihren Pferden lagerten und ihr hartes Brot verzehrten, die Zuaven jene fliegenden Gezelte aufzuschlagen, die ihre Erfindung sind, indem sie ihre Lagersäcke auftrennen und sie, je zwei und zwei zusammenbindend und durch Stäbe stützend, Windschirme daraus machen, in deren Schutz sie ihre Feuer anzünden. Die Erfahrung hat den Nutzen dieser Einrichtung erwiesen, und Bedeau, der ehemalige Oberst der Zuaven, regelte sie und führte sie bei dem ganzen Regiment ein. Während die Fouriere die Vertheilung der geringen Lebensmittel vornahmen, machte ein Theil der Mannschaften aus dem trockenen Dünger der Steppenthiere und Binsen Feuer an, um an der Flamme den Kaffee zu kochen, der im Nothfall die sonst beliebte Abendsuppe ersetzen muß, indem man das Zwieback in den Kaffee reibt und so eine Art von Pastete macht. Der Zuave hat[328] das Talent, überall etwas zu finden, wo kein anderer Soldat das Geringste entdecken würde, und so sah man denn auch bald mehrere der lustigen Krieger daher kommen, in ihren Mützen jenes der türkischen Steppe eigenthümliche Thier, die kleine Landschildkröte tragend, die ihnen zu einer kräftigeren Speise verhelfen sollte. Kaum war die Entdeckung gemacht, als die halbe Compagnie sich auf die Jagd begab, um Schildkröten zu fangen, und da bei jedem Zuge dieser eigenthümlichen Soldaten sich wenigstens Einer befindet, der sich rühmt, ein halber Vatel zu sein, so waren in Zeit von einer halben Stunde wenigstens zehn verschiedene Zubereitungen des Thieres im Gange.

Der Oberst hatte seine Lagerstätte in der Nähe der Hütte aufgeschlagen, in welcher er die Familie gefunden, es vorziehend, durch das Bivouacquiren unter freiem Himmel dem widrigen Schmuz und der dumpfen Atmosphäre dieser kaum für Menschen geeigneten Löcher zu entgehen. Dabei leitete ihn außerdem die Absicht, das wirklich in ihrer Racen-Eigenthümlichkeit schöne Mädchen vor den Zudringlichkeiten der französischen Soldaten zu schützen, die in diesem Punkt ein sehr weites Gewissen haben.

Nachdem der Colonel selbst die Posten revidirt, kehrte er zu seinem offenen Bivouac zurück, wo sich bereits die Offiziere der kleinen Schaar versammelt hatten und ihren Antheil an den gerösteten Schildkröten nahmen. Einer der Burschen hatte dazu in dem Wasserkessel mit einer Flasche Rum einen Grogk gebraut.

Die Gesellschaft debattirte eben über den abscheulich schlechten Geschmack des vorgefundenen Wassers trotz des Zusatzes von Rum, als der Colonel mit dem Capitain-Adjutanten Feverrier dazutrat.

»Pardioux!« schwor Capitain Brice de Ville, dessen gascognischen Ursprung das Wort verrieth, »die Fiebersümpfe am Auri-Gebirge enthalten wahrhaftig besseres Zeug als diese stinkende trübe Flüssigkeit. Prüfen Sie selbst, Colonel, unsere Leute müssen krank werden, wenn sie das Zeug genießen.«

»Was sollen wir machen?« lachte Lieutenant Lesorier, »können Sie wie Moses eine andere Quelle in der Wüste schaffen? Unsere Wasserschläuche sind bis auf den letzten Tropfen geleert.«

Der Vicomte hob den ihm dargebotenen Becher und prüfte mit Auge und Nase das Getränk. Es roch so abscheulich, daß er es ohne weitere Probe auf den Boden goß. Sein Auge fiel dabei zufällig auf den jungen, zerlumpten Zigeuner, der am Eingang[329] der Hütte kauerte und die Gruppe der Offiziere neugierig beobachtete, nachdem er sich zu verschiedenen Dienstleistungen eifrig hinzugedrängt hatte.

Er winkte ihn heran.

»Dein Bruder ist wahrscheinlich vom Genuß des schlechten Wassers dieser Gegend erkrankt?«

»Ich bin Dein Sklave,« sagte der Zigeuner demüthig. »Wir trinken von keinem Brunnen in diesem Lande, unsere Nahrung ist der Thau des Himmels, den wir auffangen.«

»Also sind die Quellen dieses Bodens gefährlich?«

»Es giebt gute und schlechte, wie sie Gott gemacht hat. Unser Gesetz befiehlt uns, das Wasser des Himmels aufzufangen.«

»Du kennst diese Gegend?«

»So ziemlich. Wir sind zwar auf der Flucht vor den Moskows hierher gekommen, aber ich habe sie in diesen Tagen viel durchstreift.«

»Du sollst uns morgen früh zum Führer dienen und gut dafür bezahlt werden.«

»Das Kind Aldobarans wird dem Befehl des tapfern Franken gehorchen. Welchen Weg befiehlst Du, daß ich Euch morgen führe?«

»Wir werden den Russen nach Isler zu folgen. Wie weit entfernt ist die See?«

»Kara Irman ist eine Tagereise von hier.«

»Der General,« wandte sich der Colonel zu den Offizieren, »wird auf der Hälfte des Weges zu uns stoßen.«

»Wissen Sie, Vicomte, wie weit Yussuf Befehl hat, vorzudringen?« fragte der Major, welcher die beiden Compagnieen kommandirte.

»Ich weiß nur, daß die Colonne am 5. in Varna zurück sein soll.«

»Sie glauben also an eine Einschiffung?«

»Alle Zeichen deuten darauf hin, doch ist Zweck und Zeit Geheimniß der Oberbefehlshaber.«

»Cap de Bious! Was kann es anders sein, als Sebastopol. Wir werden Sebastopol nehmen und gegen Moskau marschiren.«

»Der Weg möchte etwas weit sein, Capitain,« sagte lächelnd der Colonel.

Der letzte Theil des Gespräches war zwar französisch geführt[330] worden, dennoch horchte der Zigeuner eifrig darauf, gleich als könne er es verstehen.

Die Offiziere hatten ihre Zuflucht zu den Feldflaschen genommen, und das unvermischte Getränk – Rum, schlechter Cognac oder Wermuth-Liqueur – machte fleißig die Runde. Es war bereits finster geworden und die Soldaten begannen sich zu lagern.

»Pesth!« sagte der Gascogner, »es ist doch eine verfluchte Gegend, und mir ist immer, wenn ich mich umschaue, als müßte ich hier meine Gebeine lassen. Wenn die Herren Russen uns nur wenigstens noch einige Motion verschaffen wollten. He, Bursche!« er wandte sich zu dem jungen Zigeuner, »laß die junge Hexe, Deine Schwester, uns wahrsagen, oder uns etwas vorsingen und tanzen, Ihr Zigeuner versteht ja allerlei Teufelskünste.«

Die Offiziere fielen im Chor ein mit jener Ungenirtheit, die im französischen Dienst außer unter'm Gewehr zwischen den Offizieren aller Grade, ja selbst zwischen diesen und den Mannschaften herrscht, und die sich in ihrem Vergnügen wenig um die Gegenwart des Obern kümmert.

Der Zigeuner war in der Erdhütte verschwunden und kam gleich darauf mit dem Mädchen an der Hand wieder zum Vorschein. Der rothe Glanz des Feuers beleuchtete die in phantastische Lumpen gehüllte Gestalt, aus dem Kopftuch, das ihr schwarzes Haar umhüllte, schauten die dunklen Augen kalt und finster auf die Gesellschaft. Ihre Hand hielt die kleine, der Balaleika ähnliche Cither der Bulgaren.

Der Colonel wandte sich freundlich zu dem Mädchen.

»Willst Du uns eines Deiner Nationallieder vorsingen, so soll ein Geschenk Dir die Mühe lohnen.«

Der Zigeuner sprang dazwischen.

»Sarscha versteht die Lingua Franka nicht, blanker General. Sie spricht nur Türkisch und Bulgarisch.«

»Dann, meine Herren,« sagte lächelnd der Vicomte, »werden wir auf das Vergnügen eines nationellen Concerts als Nachtisch wohl verzichten müssen, denn mit unserm Türkisch ist es noch schlecht bestellt.«

»Nicht doch, Colonel. Wir rufen Franconville von Ihren Spahi's, der kann uns dolmetschen. Er spricht Türkisch wie Wasser.«

Nach wenig Augenblicken schon kam der Gerufene herbei, einer jener französischen Abenteurer, die sich seit vielen Jahren im Orient[331] aufhielten und jetzt vielfach als Dolmetscher von den Truppen verwendet wurden. Er war Unterlieutenant bei den neu organisirten orientalischen Spahi's und erklärte sich bereit, jeden Vers der Sängerin auf Französisch zu wiederholen.

»Laß Deine Schwester beginnen. Dieser Herr wird uns jeden Vers übersetzen.«

Das Mädchen sah mit einem seltsamen Blick auf die Gruppe, die neugierig und schweigend lauschte. Dann griff sie in die Saiten, daß die Dissonanzen widerlich hinaus schallten in den Kreis, der sich immer zahlreicher um sie bildete, und begann mit einer eintönigen und dennoch weithin dringenden Stimme jenen furchtbaren Gesang, in dem der apathische bulgarische Charakter alle jene Jahrhunderte alten Klagen gegen den Halbmond in der Geißel der Gegenwart zusammendrängt:


Ȇber das Gebirge kam die Pest,

Hinter Stambul ist ihr schwarzes Nest.


Grün war das Gebirg' und schön bethaut,

Aber es verdorrten Baum und Kraut.


Und das Heilkraut ist zuerst verdorrt,

All' die kleinen Vöglein flogen fort.


Dann vom Berge schritt die Pest in's Thal,

In Pravadi fing sie an die Qual.


Klopfend ging sie dort von Haus zu Haus,

Leichen warf man auf das Feld hinaus.


Erst nur Türken traf ihr schwarzer Hauch,

Später traf er fromme Christen auch.


Auch die Raben flogen fort vom Schmaus,

Nur der Storch blieb auf dem leeren Haus.


Auch der Treue fiel zuletzt vom Dach,

Und es fielen ihm die Jungen nach.


Schwarz vor Ärger ist die Pest zu seh'n,

Einen schwarzen Schleier läßt sie weh'n.


Sie ist eine stumme, alte Frau,

Welk ist ihre Brust, ihr Auge grau.


Nur wenn Jesus Christ in Schlummer fällt,

Steht sie auf und wandelt durch die Welt.


Als der Nordwind unsern Herrn geweckt,

Floh sie über's schwarze Meer erschreckt.«[332]


Der Lieutenant der Spahi's wiederholte Vers um Vers die Worte den Zuhörern.

Je weiter er kam, desto stiller wurde es im Kreise, desto unheimlicher lagerte sich das Grauen rings umher.

Der Gascogner sprang auf.

»Cap de Bious! – Halte ein mit diesem Unkensang, der Einem das Mark in den Adern erstarren macht. Es ist Zeit genug für den Soldaten, an die Krankheit zu denken, wenn sie uns beim Schopf hat.«

Ein einzelner, lauter, langgedehnter Schrei vom Ende des Bivouacs her schien ihm zu antworten.

»Der Doctor! wo ist der Doctor?«

Ein Zuave kam mit der Nachricht gelaufen, daß zwei Kameraden plötzlich bei ihrem Nachtmahl erkrankt seien.

Die beiden Chirurgen, die sich bei der Truppe und in dem Kreis der Offiziere befanden, erhoben sich ziemlich langsam und gleichgültig, bis ein ernster Blick des Colonel sie zur Eile mahnte. Der Gang der heitern Unterhaltung war durch das Lied und die Meldung gestört, und man traf daher allseitig Anstalten zum Nachtlager, während der Vicomte unruhig mit dem alten Major auf und ab schritt, bemüht, seine Besorgniß zu verbergen.

Die Zigeunerin war nach dem unheimlichen Liede wieder verschwunden, Niemand dachte mehr an die Possen, die man zur Unterhaltung mit ihr vorgehabt. Ein leichter Nebel, wie diese Sumpfgegenden stets bei Nacht aushauchen, hatte die weite Fläche eingenommen und gab den Gestalten und Gegenständen etwas Verschleiertes, Gespensterhaftes.

Plötzlich hörte der Vicomte in seinem Rücken eine Stimme sich anmelden:

»Monsieur le Colonel!«

Sich mit seinem Begleiter umdrehend, sah er den einen der beiden Chirurgen vor sich und das blasse erschrockene Gesicht des jungen Mannes schien ihm nichts Gutes zu verkünden.

»Was giebt es, Fremont?« fragte der Major. »Was fehlt den Leuten?«

»Ich rapportire,« sagte der Wundarzt mit leiser Stimme, »daß die beiden Leute von der Cholera ergriffen sind. Drei Andere zeigen gleichfalls Symptome.«

Die beiden Offiziere fuhren erschrocken zurück.[333]

»Morbleu!« rief der Major, »das fehlte uns in dieser Wüste noch! Sie werden ein gewöhnliches Übel gleich für die Seuche halten.«

»Weder mein College noch ich können uns darüber irren, Herr Major,« sagte der Chirurg. »Wir haben in den Lazareths in Varna Dienste geleistet und verstehen, wenn wir auch keine promovirten Ärzte sind, doch genug von der Krankheit, um zu wissen, daß die vorliegenden Fälle der rapidesten Art sind.«

Der Vicomte nahm den Major am Arm.

»Schweigen Sie, Herr, über die Meldung, die Sie uns gemacht und den Charakter der Krankheit, auch wenn sich noch weitere Fälle zeigen sollten. Gehen Sie zurück und lassen Sie die Kranken absondern, ich werde sogleich zur Stelle sein.«

Während der Chirurg zu dem Lager zurückkehrte, führte der Vicomte den Major eine Strecke seitwärts.

»Der Zug nach der Dobrudscha,« sagte er, »ist hauptsächlich unternommen, um die Truppen der Krankheit wegen abzusondern, die in Varna furchtbarer wüthet, als die Bülletins zugestehen. Ich habe bestimmte Ordres für den Fall, daß die Krankheit ausbricht. Wir werden vier Stunden den Mannschaften Ruhe gönnen und uns dann auf den Weg machen. Gebe Gott, daß die Seuche sich nicht weiter verbreitet, denn – – –«

Er schwieg.

Der alte benarbte Major, der funfzehn Jahre lang in Afrika gefochten, sah ihn starr an.

»Denn – – – was dann?«

»Es ist unmenschlich, – aber die Befehle sind peremtorisch, – ich soll die an der Cholera Erkrankten auf dem Wege sich selbst überlassen.«

»Fluch dem, der diesen Befehl gegeben!« rief der alte Soldat entrüstet. »Möge er selbst nicht auf dem Felde der Ehre, sondern auf dem schlechten Krankenlager enden wie ein Hund. Geben Sie Ihre Befehle, Lieutenant-Colonel; Major Estolles wird zu gehorchen wissen, wenn er auch den Befehl für eine Schande der französischen Armee hält.«

Der Vicomte faßte seine Hand.

»Sie wissen, wie ich selbst darüber denke und wie sich mein eigenes Herz empört. Lassen Sie uns vereint alles Mögliche thun, um dem Übel zu begegnen.«[334]

Sie begaben sich sofort zu dem Bivouac, wo statt des Schlafes bereits große Unruhe herrschte. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln hatte sich die Nachricht von dem Ausbruch der Cholera bereits verbreitet, und die unerschrockenen, leichtherzigen Krieger, die ohne Bedenken den Feuerschlünden einer Batterie entgegen gingen, steckten die Köpfe zusammen und zitterten bei dem Gedanken an den Tod durch die Seuche.

Die Befürchtungen waren leider nicht unbegründet. Von den dreihundert Zuaven waren, als die Offiziere an die Stelle kamen, die sofort durch Wachen isolirt wurde, bereits vierzehn Mann von der Krankheit ergriffen; vier davon rangen in Todeskämpfen und starben während ihrer Anwesenheit.

Der Ältere der beiden Chirurgen erklärte, daß das Wasser des Brunnens den rapiden Ausbruch herbeigeführt haben müsse.

Der Colonel ließ Schildwachen an den Brunnen stellen und befahl, ihn bei dem nächsten Tageslicht zu untersuchen.

Außer den abseits lagernden und um die drohende Gefahr unbekümmerten Moslems schlossen nur Wenige in dieser Nacht die Augen. Die Rapports der Ärzte wiederholten sich von Stunde zu Stunde; als die Morgendämmerung anbrach, waren bereits vierunddreißig Erkrankungen unter den Zuaven, drei unter den Spahi's, gemeldet.

Der Vicomte befahl den Aufbruch, und – indem er es nicht über sich gewinnen konnte, die Kranken ihrem Schicksale zu überlassen, – deren Aufnahme in die nachfolgenden Araba's. Während er nach der Hütte der Zigeuner schickte, um den Führer holen zu lassen, – entstand ein wüthendes Geschrei in der Gegend des Brunnens.

Mit aschbleichem Gesicht trat der alte Major zu ihm; bei dem Tapfern, der vor keiner Gefahr gebebt, malte sich Abscheu und Entsetzen in allen Zügen.

»Die Höllenbrut!« sagte er, »meine Leute haben so eben auf dem Grunde dieser Cisterne, deren Wasser wir getrunken, drei Leichname russischer Soldaten gefunden. Der Schurke von Zigeuner mußte darum wissen, die ganze Familie soll baumeln!«

Aber die Ordonnanz brachte die Nachricht, daß die Hütte leer war. Selbst der Kranke war verschwunden. Eine Nachfrage bei den Wachtposten ergab, daß schon im Anfang der Nacht der Zigeuner und seine Schwester mehrmals hin und her gegangen waren, was die Wachen, da der ausdrückliche Befehl des Colonel[335] lautete, die Familie nicht zu belästigen, nicht beachtet hatten. So war es ihnen leicht geworden, auch über die Linie der ausgestellten Vorposten zu entwischen.

Der Eindruck, den der schauerliche, Ekel erregende Fund machte, war kaum zu bewältigen. Schon während der kurzen Anstalten des Aufbruchs mehrte sich die Zahl der Kranken. Als die Colonne sich über die öde Fläche beim ersten Sonnenstrahl bewegte, blieben mehrere Soldaten auf dem Wege zurück – alle Ermahnungen der Offiziere halfen Nichts, – die Krankheit machte bei Einzelnen so rasche Fortschritte, daß schon nach kurzer Zeit das Delirium eintrat.

Man war noch keine zwei Lieues marschirt, als der Major der Zuaven den Colonel rufen ließ, der sich bald bei dem Vortrab der Spahi's, bald bei dem Nachzug der Kranken-Escorte aufhielt, überall anordnend, antreibend.

»Freund,« sagte er ihm, »meine Stunde ist gekommen, der Ekel wird mich tödten. Ich fühle die Krankheit in meinen Eingeweiden; es bleibt keine Rettung für Sie und die Colonne, als daß Sie streng den Befehl des Generals befolgen. Lassen Sie mich mit den Andern zurück und suchen Sie das Corps Yussuf's zu erreichen, wo wenigstens Feld-Apotheken zur Hand sind. Ich empfehle Ihnen meine Braven, Kamerad, – retten Sie, was Sie können, davon. Dieser Feldzug wird viele französische Leben kosten.«

Der tapfere Veteran war vom Pferde gestiegen und saß an einem der Steppenhügel; schon zeigten sich die Vorboten der Krankheit, doch wollten ihn seine wackern Krieger unter keinen Umständen verlassen. Der Vicomte am wenigsten. Es mußte ein rascher Entschluß gefaßt werden; Méricourt ließ die Vorhut der Spahi's Halt machen.

»Fünfzig Mann des ersten Tabor's sitzen ab und schicken ihre Pferde für die Kranken zurück, die sie zu Fuß escortiren! In gleicher Weise wird mit den Kranken der Reiterei verfahren.«

Der Mulasim1 übersetzte die Ordre; ein rebellisches Geheul der befehligten Abtheilung folgte.

»Fluch über die Dschaur's! Wir wollen ihre Mütter verdammt sehen, ehe wir den ungläubigen Hunden unsere Pferde geben! Mögen sie umkommen, es ist ihr Schicksal!«[336]

Das Rebellenblut der alten Baschi-Bozuks drohte in vollen Flammen auszubrechen, doch der Colonel verstand es zu behandeln.

»On-Baschi Jussuf!«

Der riesige Mohr, Nursädih's Bruder, ritt vor. Er verstand genug die Lingua franca, um die Befehle des Kommandirenden zu begreifen und war ein Liebling desselben, der sich, wie einst seine gemordete Gebieterin Mariam, auf seinen blinden Gehorsam verlassen konnte.

»Laß' den Burschen dort absitzen und sein Pferd zurückführen! – Bei der geringsten Weigerung weißt Du, was Du zu thun hast.«

»Pek äji, Beh!«

Der Mohr wandte sich zu dem nächsten Reiter:

»Inshallah! ist es Dir gefällig, von Deinem Pferde zu steigen, mein Bruder?«

»Olmas!«

Der Halunke starrte gemüthlich hinaus in die Luft, als sei der militairische Gehorsam ihm trotz der zahlreichen Prügel bei der Organisation ein unbekanntes Ding geblieben.

Ohne ein Wort zu sagen, schlug der Mohr ihn mit dem Knauf seiner Pistole so gewaltig an den kahlen Schädel, daß er aus dem Sattel zu Boden stürzte. Dann wandte er sich mit der gleich höflichen Frage an den Zweiten, der, so schnell es sein Phlegma erlaubte, dem Befehle gehorchte. Die Mulasim's machten es auf der anderen Flanke eben so und in fünf Minuten waren die Sättel geräumt und die Pferde zum Transport der Kranken bereit. So wie die Sache einmal durchgesetzt war, hörte man keinen Laut des Widerspruches mehr, und die Bozuks leisteten willig den Kranken alle Hilfe.

Trotz alles Beistandes jedoch kam der Zug nur langsam vorwärts und eine immer mehr anwachsende Zahl von Leichen bezeichnete seinen schaurigen Weg, je höher die Sonne stieg, je heißer ihre Strahlen über die Fläche brannten.

Aber Seuche und Öde sollten nicht ihr einziger Feind bleiben!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Angabe des Zigeuners, daß Krankheit des Bruders die Familie in dem Tartarendorf der Dobrudscha zurückgehalten, war insofern Wahrheit, als eines der Mitglieder der kleinen Gesellschaft allerdings am Fieber litt, doch war die Krankheit bereits den Heilmitteln[337] der Kinder der Steppe gewichen und hätte sie nicht an der Flucht gehindert. Das Zurückbleiben geschah vielmehr absichtlich, denn der junge Zigeuner war Mungo, der russische Spion, mit Sarscha, seiner Schwester und deren Liebhaber, Aleko Pelin, dem Bojarensohn, und streifte im Auftrage der russischen Befehlshaber durch die südlichen Steppen der Dobrudscha, um nach der Kunde, die der Knabe Mauro von dem Aufbruch der Expedition gebracht, den Weg der französischen Truppen zu belauern.

Als Sarscha ihr Unglück verkündendes Lied gesungen, schritt sie einsam und finster in den Abendnebeln davon, ohne in die Hütte zurückzukehren. Sie verachtete das Gewerbe des Bruders, ja, sie achtete wohl selbst nur wenig der leidenschaftlichen Liebe des jungen Bojaren, dennoch trieb sie die Vereinsamung, die auf ihrem Stamm lag, aus den Kreisen des Volkes und ließ sie dem Manne sich anschließen, der ein Herz für sie zeigte. Überdies lastete in der Heimath das Gerücht auf ihr, daß die Familie den Russen den Weg durch die Sümpfe von Oltenitza verrathen, und wenn auch Zinka, ihre Mutter, vor jeder Gefahr durch den Ruf des bösen Auges gesichert und in ihrer einsamen Sumpfhütte unbelästigt blieb, warfen die walachischen Bauern doch schlimme Blicke auf Sohn und Tochter. Darum hatte Mungo nach seiner Rückkehr von Krajowa Sarscha und ihren Liebhaber beredet, ihm auf das rechte Ufer der Donau in's Lager der Russen zu folgen.

Der junge Zigeuner stand durch die Schlauheit und Kühnheit, die er bei jeder Gelegenheit an den Tag gelegt und die durch Capitain Meyendorf gebührend gerühmt worden, bei den russischen Oberoffizieren in dem Rufe eines ihrer besten und zuverlässigsten Spione, und es fehlte ihm daher nicht an reichen Belohnungen, deren Ertrag er in der einsamen Hütte seiner Mutter verbarg. Umsichtig, keinen Laut verlierend, beobachtete er unter der Maske der kriechenden Angst und Demuth jetzt den Kreis der französischen Offiziere und die Aufregung, die bei der plötzlichen Kunde von dem Ausbruch der Seuche sich bald durch das ganze Bivouac verbreitete. Der günstige Augenblick der Flucht schien ihm gekommen, und indem er in die Hütte zurückkehrte, hieß er den Bojarensohn, sich der Krankenvermummung entledigen und sich dagegen in ein altes Gewand und Tuch Sarscha's verhüllen. Dann öffneten sie in der Rückwand der Hütte ein mit getrocknetem Schilf verstopftes Loch und krochen in's Freie. Der Nebel und die allgemeine Unruhe[338] erleichterten ihr Entkommen, und zwischen dem hohen Gras der Steppe gelangten sie bald außerhalb der Postenkette. Hier fanden sie Sarscha und alle Drei eilten nun über die öde Fläche einer etwa eine Meile entfernten Stelle zu, wo zwischen zwei Hügeln die halbverfallene steinerne Umfassung eines cisternenartigen Brunnens sich erhob, der gutes Wasser enthielt, dessen Dasein aber der Spion sorgfältig den Franzosen verschwiegen hatte.

In der Vertiefung des Bodens ruhten hier fünf jener kleinen Steppenpferde, auf denen der Kosack die Ebenen der Dobrudscha, wie die des Dnjepr und Don durchschweift. Auf der Mauer des Brunnens saß eine dunkle Figur, die lange schlank am Nachthimmel sich abzeichnende Lanze zeigte den Kosacken; ein zweiter lag schlafend am Boden.

»Stoi! – Wer da?«

»Gutfreund, Brüderchen,« lachte der Zigeuner. »Wecke rasch den Lieutenant, wir bringen Nachricht. Die Franzosen sind in der Falle.«

Der Ruhende sprang empor; es war der junge Kosackenoffizier, der die Meldung des unglücklichen aber tapferen Selwan in der Nacht des großen Ausfalls vor Silistria zu den Schanzen an der Donau hatte bringen sollen.

»Gott und die Heiligen mögen Deinen Weg segnen, Bursche. Was bringst Du für Nachricht? – Du hast mich lange warten lassen!«

Mungo berichtete, während Sarscha und ihr Liebhaber sich an dem Wasser des Brunnens erfrischten.

»K tschortu!« fluchte der Kosack, »es wird unmöglich sein, sie diese Nacht zu überfallen, denn der General ist zurückgegangen und steht über zwanzig Werste von hier entfernt. Gleichviel, er muß die Nachricht erhalten, und wenn Du die Richtung ihres Marsches gut verstanden, sind wir ihnen zur rechten Zeit auf den Fersen. Zu Pferde, Freunde! zu Pferde!«

Wenige Minuten darauf jagte die kleine Schaar nach Norden zu durch die einsame Steppe.

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Es war um Mittagszeit, als die Franzosen und Spahi's auf ihrem traurigen Rückzug an einer Hügelkette angelangt waren, die sich nach dem Trajanswall hinzog. Hier ließ der Lieutenant-Colonel die Colonne rasten, denn selbst die Gesunden vermochten in der[339] brennenden Hitze nicht mehr vorwärts zu kommen. Die Krankheit wüthete furchtbar in den Reihen, das heitere Gelächter, der übermüthige Gesang der Zuaven war verstummt, – von den beiden Compagnieen fehlten bereits sechsundsiebenzig Leute, darunter der tapfere Major, der, eine Lieue von dem Halt entfernt, sein aus zehn blutigen Schlachten gerettetes Leben ausgehaucht. Eine tiefe Niedergeschlagenheit, ja Muthlosigkeit hatte sich der französischen Soldaten bemächtigt, während die Moslems jetzt die Zähigkeit ihres Charakters bekundeten und sich gleichgültig in alles Ungemach und alle Leiden des Zuges fügten.

Der Vicomte hatte verschiedene kleine Trupps zur Recognoscirung und zu Nachforschungen nach Wasser ausgesandt und sich eben finster und erschöpft auf den Boden gesetzt, um einige Augenblicke auszuruhen, während unsern von ihm mehrere Soldaten eine breite Grube in den dürren Boden schaufelten, bestimmt, die Leichen des Majors und der nach der Ankunft auf dem Lagerplatz gestorbenen Krieger aufzunehmen. Ringsum zeigte die Gegend den eigenthümlichen Charakter dieser Wüste. Auf den uralten Hünenhügeln saßen und flatterten mächtige Adler, gleich als begleiteten sie Tod und Beute witternd den Zug. Zahllose Völker von Rebhühnern stürzten schwirrend unter den Hufen der Pferde aus dem dürren Grase hervor, wenn einzelne Wachen von Hügel zu Hügel ritten. Große Heerden von Trappen strichen durch die Ebene, gleichsam zur Jagd verlockend – aber den Jägern fehlte die Lust und die Kraft, denn auf ihren Fersen saß selbst ein grimmer Feind, – der Tod in seiner furchtbarsten Gestalt! – Rechts und links und hinter ihm die stummen Gruppen der Soldaten, auf das glühende Erdreich geworfen, in finsterer Apathie erwartend, daß der Drache der Krankheit auch sie erfassen und verschlingen werde; – nur die Schildwachen, dem Gebote der militairischen Disciplin gehorchend, auf und ab gehend, oder mit bleichem Gesicht, auf das Gewehr gestützt, nach dem Hintergrund des Lagers hinhorchend, von wo der Leidensruf, das Todesstöhnen so manches tapfern Kameraden klang. Und über dies Bild von wilder Natur und menschlichem Elend, menschlicher Schwäche und Ohnmacht, der helle klare Himmel, der glühende, versengende Strahl der Julisonne! Der Vicomte schauderte bei der Betrachtung dieses seltsam-schrecklichen Bildes, als plötzlich der On-Baschi Jussuf mit zwei Begleitern mit verhängtem Zügel über die wellenförmige[340] Ebene dahersprengte. Zugleich vernahm das scharfe Ohr des Offiziers den entfernten Knall von Pistolenschüssen, und von mehreren Punkten her sah man die einzelnen Patrouillen zurückgejagt kommen.

Noch ehe der On-Baschi die Schildwachen der kleinen Lagerstätte erreicht hatte, war der Commandant auf den Füßen und ließ Allarm schlagen. Der Ruf: »Die Russen! die Russen!« ging mit Gedankenschnelle durch die Gruppen, und gleich als hätte das Wort, das ihnen einen neuen Feind verkündete, den Bann des Grauens und der verzweifelnden Apathie von Aller Glieder gelöst, kam Bewegung in die Menge, ordneten sich die Reihen rasch auf das Wort der Offiziere.

Die Ankunft des Mohren, der vor dem Colonel sein Pferd parirte, brachte die Bestätigung:

»Die Kosacken, Bey! sie sind zahllos wie die Heuschrecken!«

Der Vicomte hatte kaum Zeit, seine Anordnungen zu treffen, die mit raschem Überblick der Gefahr dahin gingen, die Seite des Hügelrückens zu halten. Während die Kranken sich selbst überlassen blieben, warfen die Offiziere die Zuaven vor als Postenkette rings um die Stellung. Ihnen schlossen sich die abgesessenen Spahi's an, die ihre Pferde zum Transport der Wagen und Kranken gestellt hatten; im Kreise dieser Kette ordneten sich die Reiterhaufen der Spahi's.

Es war das erste Mal, daß die Franzosen in diesem Kriege ihre alten Gegner von 1812 und 1813 wiedersahen, die Söhne der Steppe, wie ihre Feinde in Algerien die Söhne der Wüste waren. Es bedurfte kaum des Zurufs, der Ermunterung der Offiziere, um die Leute, die sich auf die Knie in dem hohen dürren Grase geworfen, auf einen tapfern Empfang des Feindes vorzubereiten.

Noch während die Spahi's in der Formirung ihrer Reihen begriffen waren, sah man über den Kamm der gegenüberliegenden Hügel die kleinen, hurtigen, beweglichen, grauen Gestalten auf unansehnlichen, aber lebendigen Pferden jagen, die schlanken, spitzen Lanzen in der Faust, diese gefürchtete Waffe, die einst die Franzosen von Moskau bis Paris gejagt hatte. Das »Kuli! Kuli!« der halbwilden Steppenkrieger schallte durch die klare dünne Luft Unheil drohend herüber, und im nächsten Augenblick erschien die dunkle Phalanx eines Kosacken-Regiments auf den Hügeln.

Kaum fünf Minuten lang hielt der Feind an, um sich zu sammeln[341] und die Front zu bilden. Man sah die Offiziere hin und her sprengen, auf die sichtbaren Schwadronen der orientalischen Spahi's deutend und dann diesen Wald von Lanzen sich senken und an den Hals der kleinen Pferde pressen. Ein gellender langgezogener Schrei erfüllte die Luft, dann kam, gleich einer Schwalbe im Stoß, die ganze dunkle Reihe im Galopp daher gejagt.

Der Tod bringende Empfang belehrte jedoch die russischen Offiziere bald, daß sie hier auf andere Gegner gestoßen, als auf ihre gewohnten Erbfeinde, die Moslems.

Der Chok des Kosacken-Regiments ging im vollen Galopp bis auf ungefähr 100 Schritt vor den ruhigen Colonnen der Spahi's. Da plötzlich entwickelte sich auf den Wirbel der Trommeln ein Feuer auf der ganzen Vertheidigungslinie, kaum 30 Schritt von den Anstürmenden, das mit sicheren Schüssen Pferde und Reiter zu Boden warf. Im Nu sprangen zugleich die Zuaven empor und bildeten eine Phalanx von Bajonetten, an denen die Wenigen zurückprallten, die das tödtliche Feuer noch so weit halte vordringen lassen.

Die Reihen des anstürmenden Regiments lösten sich rechts und links in wilder Flucht.

»Vive l'Empereur!«

»En avant, mes braves!«

Der Säbel des Colonel winkte. Im Carriere brachen die halbcivilisirten türkischen Reitermassen vorwärts und jagten die Kosacken weit hinüber über das Thal.

Erst der langgedehnte Ton der Hörner rief die Bozuks zurück. Das Auge des tapfern und umsichtigen Führers umfaßte das Schlachtfeld. Da links debouchirten dichte Massen von Feinden über die Hügelreihe herauf: ein zweites Regiment Kosacken und eine Colonne Infanterie, auf den Pferden der Steppenreiter mit zur Stelle befördert, kam über die Anhöhen.

Die Signale hatten die französisch-türkische Reiterei zurückgeführt. Die Zuaven sammelten sich in Gliedern zur kühnen Vertheidigung des Platzes, auf dem sie vielleicht dennoch bald ihr Leben der schrecklichen Seuche zum Opfer bringen sollten. Der Colonel war überall und ermunterte die Seinen.

Es that Noth, denn jeder Blick rückwärts lehrte, daß die ekle widrige Krankheit unaufhaltsam ihre Opfer forderte.

Der leichtherzige gascognische Capitain wankte an ihm vorüber,[342] die Faust, die noch den tapfer geschwungenen Säbel hielt, auf den Magen gepreßt.

»Das höllische Wasser wühlt mir im Leib! Ich muß zum Doctor, leben Sie wohl, Colonel – die Lanze eines Russen möge Ihnen ein besseres Ende geben, als meines!«

Er stürzte nach wenigen Schritten in Zuckungen zu Boden; der Vicomte ließ ihn aufheben und zu den Chirurgen tragen. Die zurückkehrenden Leute meldeten, daß nur der Eine noch seinen Dienst erfülle, der Zweite aber sich gleichfalls in den Schmerzen der Krankheit winde.

Einen traurigen verzweifelnden Blick warf der brave Commandant hinauf zu dem lichten, klaren Mittagshimmel, der so viel Elend überwölbte. Nicht die Überzeugung entmuthigte ihn, daß hier ihr Aller Grab gegraben – nur die bittere Empfindung, daß hier Krankheit ihr Sieger und Würger werde und die tapfere Schaar fast widerstandslos in die Hand des Feindes gegeben habe.

Und dieser ließ nicht warten. In aufgelösten Reihen plänkelte die Hälfte der Kosacken und die Infanterie rings gegen den Lagerplatz der Franzosen, während das neu angekommene Regiment in geschlossenen Sotnien den günstigen Augenblick abzuwarten schien, um sich auf die Bedrängten zu werfen. Der Colonel ließ im Rücken, wo das fliegende Lager sich an die hintern Hügel lehnte, so gut es in der kurzen Zeit ging, durch das Aufwerfen eines Grabens und die Aufstellung der Araba's, welche das Gepäck und die Kranken bisher geführt, eine Art Verschanzung bilden, welche wenigstens von dieser Seite gegen einen Choc der Reiterei sichern konnte, und sandte die Hälfte seiner Spahi's gegen die Plänkler, die andern und die geschmolzenen Glieder der Zuaven gegen einen Massenangriff zurückbehaltend.

Über die von hohem Steppengras bedeckte Ebene, die zwischen den zwei niedern Hügelzügen sich dehnte, entspann sich jetzt ein lebendiges Reitergefecht, in dem die Chancen ziemlich gleich waren, da beide Theile auf dieses Plänkeln und diesen Einzelnkampf gewöhnt und geübt waren. Nur hüteten die Kosacken sich, nachdem die Kugeln der Zuaven mehrere Sättel geräumt hatten, der Stellung dieser Gegner zu nahe zu kommen.

Eine Stunde mochte so vergangen sein, als der militairische Blick des Colonels bemerkte, daß ein neuer Impuls unter die Russen zu kommen schien. Reiter sprengten auf dem Hügelrücken[343] hin und her, die Signale riefen die Plänkler zum Sammeln und offenbar bereitete sich ein allgemeiner Angriff vor, der bei der Überzahl der Russen vernichtend wirken mußte.

Dennoch wollte er Leben und Sieg so lange als möglich vertheidigen und traf alle Anstalten zu einem kräftigen Empfange der Gegner. Das frühere Manöver konnte jetzt nicht mehr glücken und es galt, die Lanzenreiter festen Fußes zu empfangen. Der Colonel ließ die Zuaven die Mitte und die Spitze des Halbkreises einnehmen, und die Spahi's die Seiten bilden.

Der Sturm kam und das zweite Kosacken-Regiment in vollem Galopp heran, während zwei Sotnien des andern rechts und links angriffen. Der Stoß war rasch und blutig, aber das regelmäßige Feuer, die kecke sichere Haltung der Franzosen schlug noch einmal den Ansturm ab, während an den beiden Flanken der Stellung ein wildes Handgemenge entstand. Hierhin warfen die russischen Offiziere ihre Infanterie und der Vicomte sah, daß in wenigen Momenten der Kampf sich zu seinem Nachtheil entscheiden mußte.

In diesem Augenblicke vernahm er den unerwarteten Knall eines Feldgeschützes und das Pfeifen einer Kugel über ihren Köpfen hinweg. Ein zweiter und dritter Schuß folgten rasch dem ersten, bevor er noch Zeit hatte, sich aus dem Kampfgewühl los zu machen und von einer freien Stelle sich umzuschauen.

Die Kugeln waren gegen die vier Sotnien der Russen gerichtet, welche als Reserve vor den jenseitigen Anhöhen aufgestellt waren.

Von der Hügelwand über und hinter ihnen in einiger Entfernung qualmte der Rauch der Geschütze und blitzte das Feuer aus dem Pulverdampf, und auf den Anhöhen entlang jagten türkische Spahi's.

Hilfe in der Noth – das konnten nur französische Feldgeschütze, die Avantgarde des Generals Yussuf mußte in der Nähe sein – die Russen wußten davon und hatten einen letzten Coup versucht!

»Haltet Euch! Haltet Euch, meine Braven! Französische Hilfe rückt an!«

Aber es war zu spät – in demselben Augenblick durchbrach die russische Infanterie die gedehnte schwache Vertheidigungslinie, die Kosacken folgten, und einige Minuten lang war das ganze so tapfer vertheidigte Gelände eine wirre Masse von Kämpfenden,[344] so dicht gedrängt, daß oft nur der Stoß des Säbelgriffs gegen den Feind gebraucht werden konnte. Pferde stürzten und traten ihre Herren unter die Hufe, über Kranke und Sterbende ging das Gewühl schonungslos hinweg, Reiter und Infanteristen kämpften neben- und miteinander, oft nicht den Freund vom Feind unterscheidend, Weh- und Wuthgeschrei, der donnernde Siegesruf der Russen, das herausfordernde Kampfgeschrei der Franzosen, der Jammer der Sterbenden und Zertretenen, dazwischen die zum Rückzug rufenden russischen Signale – –

Mit Mühe gelang es endlich den russischen Offizieren, ihre Mannschaften aus dem Gewirr zu lösen und sie zurückzuführen. Aber der Rückzug löste sich bald in wilde Flucht, denn in Masse schwärmten jetzt die Spahi's des französischen Generals heran und von den näher gekommenen Geschützen hagelten Kartätschen und Granaten über den Steppengrund. Erst auf den jenseitigen Höhen, wo die vier Sotnien die Reserve bildeten, sammelten sich die Regimenter und traten, von der türkischen Reiterei umschwärmt, einen langsamen Rückzug an.

Auf der Stätte des kurzen aber blutigen Kampfes lagen die Leichen, Verwundeten und Kranken wüst durcheinander, Menschen und Pferde, die verstümmelten, von den Hufen der Pferde zertretenen Opfer der Seuche neben den Opfern des Säbels und der Lanze, Zuaven, Spahi's und Russen. Wer verschont geblieben von dem blutigen Gemetzel, selbst die Verwundeten und Kranken, schleppte sich jubelnd den Rettern entgegen, die jetzt in geschlossenen Colonnen, den General mit seinem Stabe voran, über die Hügel daherkamen.

Der Säbelhieb eines Kosacken hatte den Colonel über die Stirn getroffen und eine blutende, wenn auch nicht gefährliche Wunde zurückgelassen. Der starke Arm des On-Baschi Jussuf hieb einen Zweiten vom Pferde, dessen Lanze den Vicomte im Rücken bedrohte. Von dem Mohren und einigen Offizieren begleitet, sprengte der Vicomte jetzt dem berühmten Namensvetter seines Lebensretters entgegen.

»Ah ciel, Monsieur le Colonel! Sie bluten, die Russen haben Ihnen scharf zugesetzt; wir kamen, von dem Schießen geleitet, zur rechten Zeit!«

Der Vicomte rapportirte das Geschehene. Der weltberühmte kühne Abenteurer, der frühere Gouverneur von Constantine und französische Brigade-General, der einst der Kabburha, der Tochter[345] des Bey von Tunis Zunge, Hand und Auge des verrätherischen Mohren sandte, der ihre Schäferstunde belauscht, war, obgleich über die erste Blüthe des Mannesalters hinaus, doch noch immer ein Mann von kühner schöner Haltung, klein und zierlich von Wuchs, aber ein vollendeter Reiter. Sein scharf und ausdrucksvoll geschnittenes Gesicht verdüsterte sich merklich, als er von dem Ausbruch der Cholera in dem Detachement vernahm.

»Das ändert meinen Vorsatz,« sagte er, »und läßt diese Spitzbuben da drüben ungeschoren entkommen, deren Gros bei Babadagh ich mit einem Nachtmarsch überfallen wollte. Ich kann es nicht mißbilligen, Lieutenant-Colonel, daß Sie Ihre kranken Leute nicht im Stich gelassen, und scheere mich selbst den Henker wenig um die unmenschliche Ordre des Marschalls. Mit unserm Vordringen aber ist's vorbei und wir müssen unsere nächsten Lazarethe oder wenigstens bewohnte Gegenden wieder zu erreichen suchen. Sir folgen uns, Vicomte, mit dem Rest Ihrer Leute; ich werde ihnen sogleich Ärzte senden. Die Kranken und Verwundeten müssen auf die Bagagewagen vertheilt werden.«

Ehe eine Stunde verging, waren die Gräber zur Beerdigung der Gefallenen gegraben und das Corps auf dem Rückmarsch.

Es ist nicht unsere Aufgabe, die schrecklichen Leiden der einzelnen Abtheilung der Expedition weiter zu verfolgen. Der Tod, der in ihren Reihen wüthete, verbreitete sich bald auch unter die Truppen des Generals.

Um 8 Uhr Abends hatte man bereits 150 Todte und 350 Sterbende. Es war ein schreckliches Schauspiel, das die muthigsten Herzen mit Grauen erfüllte. Es handelte sich nicht mehr darum, einen Feind zu verfolgen, der stets vor den Blicken am unermeßlichen Horizont der Steppe verschwand, sondern einer Geißel Gottes zu entrinnen. Nur die Energie des tapfern Afrikaners trieb die Truppen auf dem Wege nach der Küste vorwärts, wo man hoffen konnte, Schiffe zu finden und durch die frische Seeluft die Krankheit gemildert zu sehen.

Die Colonne des Generals Espinasse war bis Kergeluk vorgedrungen, und der Todesengel hatte sie mit gleicher Wuth getroffen. Das brave Infanterie-Regiment, das die Kranken aus dem brennenden Lazareth in Varna getragen, hatte den Giftstoff der Ansteckung in seinen Adern mit in die Wüste gebracht und die Anstrengungen des Steppenmarsches ließen ihn bald zur vollen[346] Wuth ausbrechen. Todte und Sterbende lagen haufenweise unter den Zelten. Man hatte keinen Feind gesehen und dennoch bedeckten Leichen den Boden, wie nach einer Schlacht; man grub Gräber, um die gestorbenen Gefährten zu begraben, aber bei dem Aufwerfen der Schollen entquollen pestilenzialische Dünste dem Boden; so Mancher, der dem Kameraden ein Grab grub, legte die Schaufel nieder, ehe das Werk vollendet war, und warf sich schweigend an, den Rand der halboffenen Gruft, um nicht mehr aufzustehen. Die noch Lebenden wurden auf die Pferde gehoben oder von den Kameraden getragen, sogar auf die Fahrzeuge der Artillerie mußte man die Kranken laden. Diese verhängnißvolle Nacht war die zum 30. Juli. An dem andern Tage vereinigten sich die Colonnen der beiden Generale, und man konnte deutlich sehen, wie die Furcht vor einem ruhmlosen Ende auch die Häupter der Unerschrockensten zu Boden drückte. Da gegenseitige Hülfe nicht denkbar war, so galt es, jede größere Anhäufung von Menschen zu vermeiden. Die Yussuf'sche Colonne ging ohne Aufenthalt an den Kampfgefährten vorüber und bewegte sich gegen Mangalia, indem sie auf ihrem Wege als verhängnißvolle Etappen zahlreiche Gräber zurückließ, die den Pfad anzeigten, den sie gewandert. Bei diesem Marsch war es, daß der Vicomte durch ein kurzes Wiedersehen des deutschen Arztes die erste Nachricht von seiner Rettung erhielt. Doctor Welland war in voller Thätigkeit und lohnte mit energischer Aufopferung das edelherzige Einschreiten des Generals. So schrecklich die Verhältnisse waren, unter denen man sich wiederfand, so herzlich war die Begrüßung im Leben von beiden Seiten, und mit Vergnügen hörte der Vicomte, daß, wenn der schwarze Tod sie verschonte, sie bei seinem eigenen Regiment sich wiederfinden sollten.

Die Espinasse'sche Division erreichte mittlerweile ihr ehemaliges Bivouac bei Pallas, wo sie ein Bataillon mit den Tornistern der Infanterie, eine Section der Ambulancen und ihr anderes Gepäck zurückgelassen hatte. Da es unmöglich wurde, alle Kranken noch weiter zu schaffen und die Führer darüber einig waren, der grausamen Anweisung des Marschalls so lange als möglich keine Folge zu geben, so ließ man hier bei der Ambulance einen Theil der Kranken zurück und zugleich zwei Bataillone zu ihrem Schutze. Die Seuche wuchs an Heftigkeit und jede Minute vermehrte sich die Chiffre der Sterblichkeit. Am 31. war die Division vereinigt und entledigte sich ihrer Kranken nach Küstendsche, wo der »Pluto«[347] sie aufnahm. Bisher waren die Zuaven am meisten heimgesucht, obwohl alle Corps ohne Ausnahme viel zu leiden hatten. Warten war hier gleichbedeutend mit Sterben. Der General bestimmte daher, daß den anderen Morgen um halb 5 Uhr der weitere Rückmarsch nach Varna angetreten werden sollte – aber noch denselben Abend um 10 Uhr traf unerwartet der General Canrobert von seiner Argonautenfahrt vor Küstendsche auf dem »Cazique« ein. Von allen Seiten erhoben sich bei dem Anblicke des geliebten Führers in diesem durch die schrecklichste aller Krankheiten decimirten Lager die lebhaftesten Zurufe, Aller Arme streckten sich ihm entgegen; die Sterbenden erhoben sich, um ihrem General entgegen zu gehen; denn dem Unglücklichen erscheint jede Veränderung seiner Lage als eine Besserung, und nicht bald war ein General so von den Seinigen geliebt, wie Canrobert. Welches Schauspiel entrollte sich aber seinen Blicken. Auf allen Seiten lagen unter dem Schutze der Zeltdächer die Fieberkranken ausgestreckt. Überall hörte man Gestöhne, und der Tod mähte mit unbarmherziger Sichel in den Reihen der erschöpften Krieger. So fand Canrobert seinen schönen, stolzen, kriegslustigen Heerhaufen wieder, den er voll Leben und Kampfesdurst verlassen hatte. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er seiner Umgebung die Hände und man sah Thränen seinen Wangen entrollen. Dann durchschritt er die Zeltgassen, hatte ein Wort des Trostes für alle Leidenden, belebte den Muth der Gesunden durch die Hoffnung auf nahen ruhmvollen Kampf, und beugte sich mitfühlend über jene herab, die im Begriffe waren, eine Beute des Todes zu werden. Mittlerweile wuchs die Sterblichkeit in der schreckbarsten Weise. In der Nacht und an dem folgenden Morgen wurden alle disponiblen Pferde der Artillerie, so wie die Packmaulthiere der Offiziere, requirirt, um 800 Neuerkrankte nach Küstendsche zu schaffen. Am 1. August verließ man Pallas und am 2. war die Zahl der Erkrankungen wieder so groß, daß die Sänften und Araba's nicht mehr genügten, um die von der Seuche Ergriffenen fortzuschaffen; man mußte endlich zu den Pferden der Offiziere und Generale seine Zuflucht nehmen. Zu allem Überflusse begannen unbegreiflicherweise die Lebensmittel zu fehlen. Canrobert gab einem von Küstendsche mit Cholerakranken abgehenden Schiffe die Weisung mit, von Varna Lebensmittel als Rückfracht nach Mangalia zu bringen. Zugleich wurde in der Nacht der Capitain Marcel zu Yussuf geschickt, der um einen Tagesmarsch voraus[348] war, mit der dringenden Aufforderung, den General mit Transport- und Lebensmitteln zu versehen. Glücklicherweise hatte eben ein Schiff in Mangalia Lebensmittel ausgeladen; Offiziere und Soldaten halfen 600 Pferde beladen und machten zu Fuß, die Pferde am Zügel, 6 Lieues, um ihren leidenden Brüdern Hilfe zu bringen. – General Espinasse, von der Cholera ergriffen und von seinem Geretteten treulich gepflegt, blieb mit einem Regimente zurück, um die nicht transportirbaren Kranken zu bewachen. Der Rest setzte sich in Marsch und stieß endlich auf die 600 Packpferde Yussuf's. Die braven Baschi-Bozuks gingen nun mit den leeren Pferden noch weiter zurück, um Espinasse's Regiment abzuholen, da aber die meisten Kranken kein Pferd mehr besteigen konnten, requirirte Canrobert Araba's, um sie zu befördern. Endlich kamen, als man Mangalia erreicht hatte, welches am Meere gelegen ist, Schiffe in Sicht, die 2000 Cholerakranke nach Varna schafften.

Das war das schaurige Ende der ersten französischen Expedition gegen die Russen!

1

Lieutenant.

Quelle:
Herrmann Goedsche (unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe): Sebastopol. 4 Bände, Band 3, Berlin 1856, S. 324-349.
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