Über Kunst und Kunstgeschichte

[632] Aphorismen.

Freunden und Gegnern zur Beherzigung


Wer gegenwärtig über Kunst schreiben oder gar streiten will, der sollte einige Ahndung haben von dem, was die Philosophie in unsern Tagen geleistet hat und zu leisten fortfährt.
[632]

Wer einem Autor Dunkelheit vorwerfen will, sollte erst sein eigen Inneres beschauen, ob es denn da auch recht hell ist: in der Dämmerung wird eine sehr deutliche Schrift unlesbar.


Wer streiten will, muß sich hüten, bei dieser Gelegenheit Sachen zu sagen, die ihm niemand streitig macht.


Wer Maximen bestreiten will, sollte fähig sein, sie recht klar aufzustellen und innerhalb dieser Klarheit zu kämpfen, damit er nicht in den Fall gerate, mit selbstgeschaffenen Luftbildern zu fechten.


Die Dunkelheit gewisser Maximen ist nur relativ: nicht alles ist dem Hörenden deutlich zu machen, was dem Ausübenden einleuchtet.


Ein Künstler, der schätzbare Arbeiten verfertiget, ist nicht immer imstande, von eignen oder fremden Werken Rechenschaft zu geben.


Natur und Idee läßt sich nicht trennen, ohne daß die Kunst sowie das Leben zerstört werde.


Wenn Künstler von Natur sprechen, subintelligieren sie immer die Idee, ohne sich's deutlich bewußt zu sein.


Eben so geht's allen, die ausschließlich die Erfahrung anpreisen; sie bedenken nicht, daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist.


Erst hört man von Natur und Nachahmung derselben; dann soll es eine schöne Natur geben. Man soll wählen. Doch wohl das Beste! Und woran soll man's erkennen? Nach welcher Norm soll man wählen? Und wo ist denn die Norm? Doch wohl nicht auch in der Natur?
[633]

Und gesetzt, der Gegenstand wäre gegeben, der schönste Baum im Walde, der in seiner Art als vollkommen auch vom Förster anerkannt würde. Nun, um den Baum in ein Bild zu verwandeln, gehe ich um ihn herum und suche mir die schönste Seite. Ich trete weit genug weg, um ihn völlig zu übersehen, ich warte ein günstiges Licht ab, und nun soll von dem Naturbaum noch viel auf das Papier übergegangen sein!


Der Laie mag das glauben; der Künstler, hinter den Kulissen seines Handwerks, sollte aufgeklärter sein.


Gerade das, was ungebildeten Menschen am Kunstwerk als Natur auffällt, das ist nicht Natur (von außen), sondern der Mensch (Natur von innen).


Wir wissen von keiner Welt als im Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist.


Wer zuerst im Bilde auf seinen Horizont die Zielpunkte des mannigfaltigen Spiels waagerechter Linien bannte, erfand das Prinzip der Perspektive.


Wer zuerst aus der Systole und Diastole, zu der die Retina gebildet ist, aus dieser Synkrisis und Diakrisis, mit Plato zu sprechen, die Farbenharmonie entwickelte, der hat die Prinzipien des Kolorits entdeckt.


Suchet in euch, so werdet ihr alles finden, und erfreuet euch, wenn da draußen, wie ihr es immer heißen möget, eine Natur liegt, die ja und amen zu allem sagt, was ihr in euch gefunden habt!


Gar vieles kann lange erfunden, entdeckt sein, und es wirkt nicht auf die Welt; es kann wirken und doch nicht bemerkt werden, wirken und nicht ins Allgemeine greifen.[634] Deswegen jede Geschichte der Erfindung sich mit den wunderbarsten Rätseln herumschlägt.


Es ist so schwer, etwas von Mustern zu lernen, als von der Natur.


Die Form will so gut verdauet sein als der Stoff; ja sie verdaut sich viel schwerer.


Mancher hat nach der Antike studiert und sich ihr Wesen nicht ganz zugeeignet: ist er darum scheltenswert?


Die höheren Forderungen sind an sich schon schätzbarer, auch unerfüllt, als niedrige, ganz erfüllte.


Das Trocken-Naive, das Steif-Wackere, das Ängstlich-Rechtliche, und womit man ältere deutsche Kunst charakterisieren mag, gehört zu jeder früheren, einfacheren Kunstweise. Die alten Venezianer, Florentiner usw. haben das alles auch.


Und wir Deutsche sollen uns dann nur für original halten, wenn wir uns nicht über die Anfänge erheben?


Weil Albrecht Dürer bei dem unvergleichlichen Talent sich nie zur Idee des Ebenmaßes der Schönheit, ja sogar nie zum Gedanken einer schicklichen Zweckmäßigkeit erheben konnte, sollen wir auch immer an der Erde kleben?


Albrecht Dürern förderte ein höchst innigstes realistisches Anschauen, ein liebenswürdiges menschliches Mitgefühl aller gegenwärtigen Zustände; ihm schadete eine trübe, form- und bodenlose Phantasie.


Wie Martin Schön neben ihm steht und wie das deutsche Verdienst sich dort beschränkt, wäre interessant zu zeigen,[635] und nützlich zu zeigen, daß dort nicht aller Tage Abend war.


Löste sich doch in jeder italienischen Schule der Schmetterling aus der Puppe los!


Sollen wir ewig als Raupen herumkriechen, weil einige nordische Künstler ihre Rechnung dabei finden?


Nachdem uns Klopstock vom Reim erlöste und Voß uns prosodische Muster gab, so sollen wir wohl wieder Knittelverse machen wie Hans Sachs?


Laßt uns doch vielseitig sein! Märkische Rübchen schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien, und diese beiden edlen Früchte wachsen weit auseinander.


Erlaubt uns in unsern vermischten Schriften doch neben den abend- und nordländischen Formen auch die morgen- und südländischen!


Man ist nur vielseitig, wenn man zum Höchsten strebt, weil man muß (im Ernst), und zum Geringern herabsteigt, wenn man will (zum Spaß).


Laßt doch den deutschen Dichtern den frommen Wunsch, auch als Homeriden zu gelten! Deutsche Bildhauer, es wird euch nicht schaden, zum Ruhm der letzten Praxiteliden zu streben!


Was hat ein Maler zu studieren, bis er eine Pfirsche sehen kann wie Huysum, und wir sollen nicht versuchen, ob es möglich sei, den Menschen zu sehen, wie ihn ein Grieche gesehen hat?
[636]

Wer Proportion (das Meßbare) von der Antike neh men muß, sollte uns nicht gehässig sein, weil wir das Unmeßbare von der Antike nehmen wollen.


Es ist schon genug, daß Kunstliebhaber das Vollkommene übereinstimmend anerkennen und schätzen; über das Mittlere läßt sich der Streit nicht endigen.


Alles Prägnante, was allein an einem Kunstwerke vortrefflich ist, wird nicht anerkannt, alles Fruchtbare und Fördernde wird beseitigt, eine tiefumfassende Synthesis begreift nicht leicht jemand.


Ihr wählt euch ein Muster, und damit vermischt ihr eure Individualität: das ist alle eure Kunst. Da ist an keine Grundsätze, an keine Schule, an keine Folge zu denken, alles willkürlich und wie es einem jeden einfällt. Daß man sich von Gesetzen losmacht, die bloß durch Tradition geheiligt sind, dagegen ist nichts zu sagen; aber daß man nicht denkt, es müssen doch Gesetze sein, die aus der Natur jeder Kunst entspringen, daran denkt niemand.


Jedes gute und schlechte Kunstwerk, sobald es entstanden ist, gehört zur Natur. Die Antike gehört zur Natur, und zwar, wenn sie anspricht, zur natürlichsten Natur, und diese edle Natur sollen wir nicht studieren, aber die gemeine!


Denn das Gemeine ist's eigentlich, was den Herren Natur heißt! Aus sich schöpfen mag wohl heißen, mit dem eben fertig werden, was uns bequem wird!


Kunst: eine andere Natur, auch geheimnisvoll, aber verständlicher; denn sie entspringt aus dem Verstande.


Die Natur wirkt nach Gesetzen, die sie sich in Eintracht mit dem Schöpfer vorschrieb, die Kunst nach Regeln, über die sie sich mit dem Genie einverstanden hat.
[637]

Die Kunst ruht auf einer Art religiosem Sinn, auf einem tiefen, unerschütterlichen Ernst; deswegen sie sich auch so gern mit der Religion vereinigt. Die Religion bedarf keines Kunstsinnes, sie ruht auf ihrem eignen Ernst; sie verleiht aber auch keinen, sowenig sie Geschmack gibt.


Realität in der höchsten Nützlichkeit (Zweckmäßigkeit) wird auch schön sein.


Vollkommenheit ist schon da, wenn das Notwendige geleistet wird, Schönheit, wenn das Notwendige geleistet, doch verborgen ist.


Vollkommenheit kann mit Disproportion bestehen, Schönheit allein mit Proportion.


Werke der Kunst werden zerstört, sobald der Kunstsinn verschwindet.


Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei.


Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.


In Rembrandts trefflicher Radierung, der Austreibung der Käufer und Verkäufer aus den Tempelhallen, ist die Glorie, welche gewöhnlich des Herrn Haupt umgibt, in die vorwärts wirkende Hand gleichsam gefahren, welche nun in göttlicher Tat, glanzumgeben, derb zuschlägt. Um das Haupt ist's, wie auch das Gesicht, dunkel.
[638]

Jeder große Künstler reißt uns weg, steckt uns an. Alles, was in uns von eben der Fähigkeit ist, wird rege, und da wir eine Vorstellung vom Großen und einige Anlage dazu haben, so bilden wir uns gar leicht ein, der Keim davon stecke in uns.


Gemüt hat jedermann, Naturell manche, Kunstbegriffe sind selten.


In allen Künsten gibt es einen gewissen Grad, den man mit den natürlichen Anlagen, sozusagen allein erreichen kann. Zugleich aber ist es unmöglich, denselben zu überschreiten, wenn nicht die Kunst zu Hülfe kommt.


Man sagt wohl zum Lobe des Künstlers: er hat alles aus sich selbst. Wenn ich das nur nicht wieder hören müßte! Genau besehen, sind die Produktionen eines solchen Originalgenies meistens Reminiszenzen; wer Erfahrung hat, wird sie meist einzeln nachweisen können.


Das sogenannte Aus-sich-Schöpfen macht gewöhnlich falsche Originale und Manieristen.


Warum schelten wir das Manierierte so sehr, als weil wir glauben, das Umkehren daher auf den rechten Weg sei unmöglich?


Die Kunst soll das Penible nicht vorstellen.


Was die letzte Hand tun kann, muß die erste schon entschieden aussprechen. Hier muß schon bestimmt sein, was getan werden soll.


»An meinen Bildern müßt ihr nicht schnuffeln, die Farben sind ungesund.« Rembrandt.
[639]

Aus vielen Skizzen endlich ein Ganzes hervorzubringen, gelingt selbst den Besten nicht immer.


Selbst das mäßige Talent hat immer Geist in Gegenwart der Natur; deswegen einigermaßen sorgfältige Zeichnungen der Art immer Freude machen.


Ursache des Dilettantismus: Flucht vor der Manier, Unkenntnis der Methode, törichtes Unternehmen, gerade immer das Unmögliche leisten zu wollen, welches die höchste Kunst erforderte, wenn man sich ihm je nähern könnte.


Fehler der Dilettanten: Phantasie und Technik unmittelbar verbinden zu wollen.


Es ist eine Tradition, Dädalus, der erste Plastiker, habe die Erfindung der Drehscheibe des Töpfers beneidet. Von Neid möchte wohl nichts vorgekommen sein; aber der große Mann hat wahrscheinlich vorempfunden, daß die Technik zuletzt in der Kunst verderblich werden müsse.


Die Technik im Bündnis mit dem Abgeschmackten ist die fürchterlichste Feindin der Kunst.


Bei Gelegenheit der berlinischen »Vorbilder für Fabrikanten« kam zur Sprache, ob so großer Aufwand auf die höchste Ausführung der Blätter wäre nötig gewesen; wobei sich ergab, daß gerade den talentvollen jungen Künstler und Handwerker die Ausführung am meisten reizt und daß er durch Beachtung und Nachbildung derselben erst befähigt wird, das Ganze und den Wert der Formen zu begreifen.


Chodowiecki ist ein sehr respektabler und wir sagen idealer Künstler. Seine guten Werke zeugen durchaus von [640] Geist und Geschmack. Mehr Ideales war in dem Kreise, in dem er arbeitete, nicht zu fordern.


Das Schrecklichste für den Schüler ist, daß er sich am Ende doch gegen den Meister wiederherstellen muß. Je kräftiger das ist, was dieser gibt, in desto größerem Unmut, ja Verzweiflung ist der Empfangende.


Ein edler Philosoph sprach von der Baukunst als einer erstarrten Musik und mußte dagegen manches Kopfschütteln gewahr werden. Wir glauben diesen schönen Gedanken nicht besser nochmals einzuführen, als wenn wir die Architektur eine verstummte Tonkunst nennen.

Man denke sich den Orpheus, der, als ihm ein großer wüster Bauplatz angewiesen war, sich weislich an dem schicklichsten Ort niedersetzte und durch die belebenden Töne seiner Leier den geräumigen Marktplatz um sich her bildete. Die von kräftig gebietenden, freundlich lockenden Tönen schnell ergriffenen, aus ihrer massenhaften Ganzheit gerissenen Felssteine mußten, indem sie sich enthusiastisch herbeibewegten, sich kunst- und handwerksgemäß gestalten, um sich sodann in rhythmischen Schichten und Wänden gebührend hinzuordnen. Und so mag sich Straße zu Straßen anfügen! An wohlschützenden Mauern wird's auch nicht fehlen.

Die Töne verhallen, aber die Harmonie bleibt. Die Bürger einer solchen Stadt wandlen und weben zwischen ewigen Melodien; der Geist kann nicht sinken, die Tätigkeit nicht einschlafen, das Auge übernimmt Funktion, Gebühr und Pflicht des Ohres, und die Bürger am gemeinsten Tage fühlen sich in einem ideellen Zustand: ohne Reflexion, ohne nach dem Ursprung zu fragen, werden sie des höchsten sittlichen und religiosen Genusses teilhaftig. Man gewöhne sich, in Sankt Peter auf und ab zu gehen, und man wird ein Analogon desjenigen empfinden, was wir auszusprechen gewagt.[641]

Der Bürger dagegen in einer schlecht gebauten Stadt, wo der Zufall mit leidigem Besen die Häuser zusammenkehrte, lebt unbewußt in der Wüste eines düstern Zustandes; dem fremden Eintretenden jedoch ist es zumute, als wenn er Dudelsack, Pfeifen und Schellentrommeln hörte und sich bereiten müßte, Bärentänzen und Affensprüngen beiwohnen zu müssen.


Antike Tempel konzentrieren den Gott im Menschen; des Mittelalters Kirchen streben nach dem Gott in der Höhe.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 18, Berlin 1960 ff, S. 632-642.
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