Über Natur und Naturwissenschaft

[642] Begriff ist Summe, Idee Resultat der Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses zu erfassen, Vernunft erfordert.


Was man Idee nennt: das, was immer zur Erscheinung kommt und daher als Gesetz aller Erscheinungen uns entgegentritt.


Nur im Höchsten und im Gemeinsten trifft Idee und Erscheinung zusammen; auf allen mittlern Stufen des Betrachtens und Erfahrens trennen sie sich. Das Höchste ist das Anschauen des Verschiednen als identisch; das Gemeinste ist die Tat, das aktive Verbinden des Getrennten zur Identität.


Was uns so sehr irremacht, wenn wir die Idee in der Erscheinung anerkennen sollen, ist, daß sie oft und gewöhnlich den Sinnen widerspricht.

Das Kopernikanische System beruht auf einer Idee, die schwer zu fassen war und noch täglich unseren Sinnen widerspricht. Wir sagen nur nach, was wir nicht erkennen noch begreifen.
[642]

Die Metamorphose der Pflanzen widerspricht gleich falls unsren Sinnen.


Das Erhabene, durch Kenntnis nach und nach vereinzelt, tritt vor unserm Geist nicht leicht wieder zusammen, und so werden wir stufenweise um das Höchste gebracht, was uns gegönnt war, um die Einheit, die uns in vollem Maß zur Mitempfindung des Unendlichen erhebt, dagegen wir bei vermehrter Kenntnis immer kleiner werden. Da wir vorher mit dem Ganzen als Riesen standen, sehen wir uns als Zwerge gegen die Teile.


Es ist ein angenehmes Geschäft, die Natur zugleich und sich selbst zu erforschen, weder ihr noch seinem Geiste Gewalt anzutun, sondern beide durch gelinden Wechseleinfluß miteinander ins Gleichgewicht zu setzen.


Sich den Objekten in der Breite gleichstellen heißt lernen; die Objekte in ihrer Tiefe auffassen heißt erfinden.


Was man erfindet, tut man mit Liebe, was man gelernt hat, mit Sicherheit.


Was ist denn das Erfinden? Es ist der Abschluß des Gesuchten.


Was ist der Unterschied zwischen Axiom und Enthymem? Axiom: was wir von Haus aus, ohne Beweis anerkennen; Enthymem: was uns an viele Fälle erinnert und das zusammenknüpft, was wir schon einzeln erkannten.


Die Freude des ersten Gewahrwerdens, des sogenannten Entdeckens kann uns niemand nehmen. Verlangen wir aber auch Ehre davon, die kann uns sehr verkümmert werden; denn wir sind meistens nicht die ersten.
[643]

Was heißt auch erfinden, und wer kann sagen, daß er dies oder jenes erfunden habe? Wie es denn überhaupt, auf Priorität zu pochen, wahre Narrheit ist; denn es ist nur bewußtloser Dünkel, wenn man sich nicht redlich als Plagiarier bekennen will.


Mit den Ansichten, wenn sie aus der Welt verschwinden, gehen oft die Gegenstände selbst verloren. Kann man doch im höheren Sinne sagen, daß die Ansicht der Gegenstand sei.


Es ist viel mehr schon entdeckt, als man glaubt.

Da die Gegenstände durch die Ansichten der Menschen erst aus dem Nichts hervorgehoben werden, so kehren sie, wenn sich die Ansichten verlieren, auch wieder ins Nichts zurück: Rundung der Erde, Platos Bläue.


Es sind zwei Gefühle die schwersten zu überwinden: gefunden zu haben, was schon gefunden ist, und nicht gefunden zu sehen, was man hätte finden sollen.


Denken ist interessanter als Wissen, aber nicht als Anschauen.


Das Wissen beruht auf der Kenntnis des zu Unterscheidenden, die Wissenschaft auf der Anerkennung des nicht zu Unterscheidenden.


Das Wissen wird durch das Gewahrwerden seiner Lücken, durch das Gefühl seiner Mängel zur Wissenschaft geführt, welche vor, mit und nach allem Wissen besteht.


Im Wissen und Nachsinnen ist Falsches und Wahres. Wie das sich nun das Ansehn der Wissenschaft gibt, so wird's ein wahr-lügenhaftes Wesen.
[644]

Wir würden unser Wissen nicht für Stückwerk erklären, wenn wir nicht einen Begriff von einem Ganzen hätten.


Die Wissenschaften so gut als die Künste bestehen in einem überlieferbaren (realen), erlernbaren Teil und in einem unüberlieferbaren (idealen), unlernbaren Teil.


In der Geschichte der Wissenschaften hat der ideale Teil ein ander Verhältnis zum realen als in der übrigen Weltgeschichte.


Geschichte der Wissenschaften: der reale Teil sind die Phänomene, der ideale die Ansichten der Phänomene.


Vier Epochen der Wissenschaften:


kindliche,

poetische, abergläubische;

empirische,

forschende, neugierige;

dogmatische,

didaktische, pedantische;

ideelle,

methodische, mystische.


»Nur die gegenwärtige Wissenschaft gehört uns an, nicht die vergangne noch die zukünftige.«


Im sechzehnten Jahrhundert gehören die Wissenschaften nicht diesem oder jenem Menschen, sondern der Welt. Diese hat sie, besitzt sie pp., der Mensch ergreift nur den Reichtum.


Die Wissenschaften zerstören sich auf doppelte Weise selbst: durch die Breite, in die sie gehen, und durch die Tiefe, in die sie sich versenken.
[645]

Alles, was man (in Wissenschaften) fordert, ist so ungeheuer, daß man recht gut begreift, daß gar nichts geleistet wird.


Was die Wissenschaften am meisten retardiert, ist, daß diejenigen, die sich damit beschäftigen, ungleiche Geister sind.


Der Fehler schwacher Geister ist, daß sie im Reflektieren sogleich vom Einzelnen ins Allgemeine gehen, anstatt daß man nur in der Gesamtheit das Allgemeine suchen kann.


In der Geschichte der Naturforschung bemerkt man durchaus, daß die Beobachter von der Erscheinung zu schnell zur Theorie hineilen und dadurch unzulänglich, hypothetisch werden.


Man datiert von Baco von Verulam eine Epoche der Erfahrungs-Naturwissenschaften. Ihr Weg ist jedoch durch theoretische Tendenzen oft durchschnitten und ungangbar gemacht worden. Genau besehen, kann und soll man von jedem Tag eine neue Epoche datieren.


Das Jahrhundert ist vorgerückt; jeder Einzelne aber fängt doch von vorne an.


Jeden Tag hat man Ursache, die Erfahrung aufzuklären und den Geist zu reinigen.


Da diejenigen, welche wissenschaftliche Versuche anstellen, selten wissen, was sie eigentlich wollen und was dabei herauskommen soll, so verfolgen sie ihren Weg meistenteils mit großem Eifer; bald aber, da eigentlich nichts Entschiedenes entstehen will, so lassen sie die Unternehmung fahren und suchen sie sogar andern verdächtig zu machen.
[646]

Nachdem man in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts dem Mikroskop so unendlich viel schuldig geworden war, so suchte man zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts dasselbe geringschätzig zu behandeln.


Nachdem man in der neuern Zeit die meteorologischen Beobachtungen auf den höchsten Grad der Genauigkeit getrieben hatte, so will man sie nunmehr aus den nördlichen Gegenden verbannen und will sie nur dem Beobachter unter den Tropen zugestehen.


Ward man doch auch des Sexualsystems, das, im höhern Sinne genommen, so großen Wert hat, überdrüssig und wollt es verbannt wissen! Geht es doch mit der alten Kunstgeschichte ebenso, in der man seit funfzig Jahren sich gewissenhaft zu üben und die Unterschiede der aufeinanderfolgenden Zeiten einzusehen sich auf das genauste bestrebt hat! Das soll nun alles vergebens gewesen und alles Aufeinanderfolgende als identisch und ununterscheidbar anzusehen sein.


Nach unserm Rat bleibe jeder auf dem eingeschlagenen Wege und lasse sich ja nicht durch Autorität imponieren durch allgemeine Übereinstimmung bedrängen und durch Mode hinreißen.


Autorität: Ohne sie kann der Mensch nicht existieren, und doch bringt sie ebensoviel Irrtum als Wahrheit mit sich. Sie verewigt im einzelnen, was einzeln vorübergehen sollte, lehnt ab und läßt vorübergehen, was festgehalten werden sollte, und ist hauptsächlich Ursache, daß die Menschheit nicht vom Flecke kommt.


Der gemeine Wissenschäftler hält alles für überlieferbar und fühlt nicht, daß die Niedrigkeit seiner Ansichten ihm sogar das eigentlich Überlieferbare nicht fassen läßt.
[647]

Das Unzulängliche widerstrebt mehr, als man denken sollte, dem Auslangenden.


Vor zwei Dingen kann man sich nicht genug in acht nehmen: beschränkt man sich in seinem Fache, vor Starrsinn, tritt man heraus, vor Unzulänglichkeit.


Wenn in Wissenschaften alte Leute retardieren, so retrogradieren junge. Alte leugnen die Vorschritte, wenn sie nicht mit ihren früheren Ideen zusammenhängen; junge, wenn sie der Idee nicht gewachsen sind und doch auch etwas Außerordentliches leisten möchten.


Es ist ihnen wohl Ernst, aber sie wissen nicht, was sie mit dem Ernst machen sollen.


Von dem, was sie verstehen, wollen sie nichts wissen.


In Neuyork sind neunzig verschiedene christliche Konfessionen, von welchen jede auf ihre Art Gott und den Herrn bekennt, ohne weiter aneinander irre zu werden. In der Naturforschung, ja in jeder Forschung müssen wir es so weit bringen; denn was will das heißen, daß jedermann von Liberalität spricht und den andern hindern will, nach seiner Weise zu denken und sich auszusprechen?


Alle Individuen und, wenn sie tüchtig sind und auf andre wirken, ihre Schulen sehen das Problematische in den Wissenschaften als etwas an, wofür oder wogegen man streiten soll, eben als wenn es eine andre Lebenspartei wäre, anstatt daß das Wissenschaftliche eine Auflösung, Ausgleichung oder eine Aufstellung unausgleichbarer Antinomien fordert. In diesem Falle ist auch Aguillonius.


Wenn jemand spricht, er habe mich widerlegt, so bedenkt er nicht, daß er nur eine Ansicht der meinigen entgegen[648] aufstellt; dadurch ist ja noch nichts ausgemacht. Ein Dritter hat eben das Recht, und so ins Unendliche fort.


Bei wissenschaftlichen Streitigkeiten nehme man sich in acht, die Probleme nicht zu vermehren.


In Wissenschaften, sowie auch sonst, wenn man sich über das Ganze verbreiten will, bleibt zur Vollständigkeit am Ende nichts übrig, als Wahrheit für Irrtum, Irrtum für Wahrheit gelten zu machen. Er kann nicht alles selbst untersuchen, muß sich an Überlieferung halten und, wenn er ein Amt haben will, den Meinungen seiner Gönner frönen. Mögen sich die sämtlichen akademischen Lehrer hiernach prüfen!


Das wäre wohl der werteste Professor der Physik, der die Nichtigkeit seines Kompendiums und seiner Figuren, gegen die Natur und gegen die höhren Forderungen des Geists gehalten, durchaus zur Anschauung bringen könnte.


Nicht alles Wünschenswerte ist erreichbar, nicht alles Erkennenswerte erkennbar.


Derjenige, der sich mit Einsicht für beschränkt erklärt, ist der Vollkommenheit am nächsten.


Die Menschen, da sie zum Notwendigen nicht hinreichen, bemühen sich ums Unnütze.


Das Tier wird durch seine Organe belehrt; der Mensch belehrt die seinigen und beherrscht sie.


Anaxagoras lehrt, daß alle Tiere die tätige Vernunft haben, aber nicht die leidende, die gleichsam der Dolmetscher des Verstandes ist.
[649]

Die Alten vergleichen die Hand der Vernunft.

Die Vernunft ist die Kunst der Künste, die Hand die Technik alles Handwerks.


Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.


Der Mensch ist genugsam ausgestattet zu allen wahren irdischen Bedürfnissen, wenn er seinen Sinnen traut und sie dergestalt ausbildet, daß sie des Vertrauens wert bleiben.


Man leugnet dem Gesicht nicht ab, daß es die Entfernung der Gegenstände, die sich neben- und übereinander befinden, zu schätzen wisse; das Hintereinander will man nicht gleichmäßig zugestehen.


Und doch ist dem Menschen, der nicht stationär, sondern beweglich gedacht wird, hierin die sicherste Lehre durch Parallaxe verliehen.


Die Lehre von dem Gebrauch der korrespondierenden Winkel ist, genau besehen, darin eingeschlossen.


Kant beschränkt sich mit Vorsatz in einen gewissen Kreis und deutet ironisch immer darüber hinaus.


Man hat sich lange mit der Kritik der Vernunft beschäftigt; ich wünschte eine Kritik des Menschenverstandes. Es wäre eine wahre Wohltat fürs Menschengeschlecht, wenn man dem Gemeinverstand bis zur Überzeugung nachweisen könnte, wie weit er reichen kann, und das ist gerade so viel, als er zum Erdenleben vollkommen bedarf.


»Genau besehen, ist alle Philosophie nur der Menschenverstand in amphigurischer Sprache.«


Der Menschenverstand, der eigentlichst aufs Praktische angewiesen ist, irrt nur alsdann, wenn er sich an die Auflösung[650] höherer Probleme wagt; dagegen weiß aber auch eine höhere Theorie sich selten in den Kreis zu finden, wo jener wirkt und west.


Die Dialektik ist die Ausbildung des Widersprechungsgeistes, welcher dem Menschen gegeben, damit er den Unterschied der Dinge erkennen lerne.


Eine tätige Skepsis: welche unablässig bemüht ist, sich selbst zu überwinden, um durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter Zuverlässigkeit zu gelangen.


Das Allgemeine eines solchen Geistes ist die Tendenz: zu erforschen, ob irgend einem Objekt irgend ein Prädikat wirklich zukomme, und geschieht diese Untersuchung in der Absicht, das als geprüft Gefundene in praxi mit Sicherheit anwenden zu können.


Der lebendige begabte Geist, sich in praktischer Absicht ans Allernächste haltend, ist das Vorzüglichste auf Erden.


Je weiter man in der Erfahrung fortrückt, desto näher kommt man dem Unerforschlichen; je mehr man die Erfahrung zu nutzen weiß, desto mehr sieht man, daß das Unerforschliche keinen praktischen Nutzen hat.


Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.


Wir leben innerhalb der abgeleiteten Erscheinungen und wissen keineswegs, wie wir zur Urfrage gelangen sollen.


Alles ist einfacher, als man denken kann, zugleich verschränkter, als zu begreifen ist.
[651]

Es ist das Eigne zu bemerken, daß der Mensch sich mit dem einfachen Erkennbaren nicht begnügt, sondern auf die verwickelteren Probleme losgeht, die er vielleicht nie erfassen wird. Jenes einfache Faßliche ist durchaus anwendbar und nützlich und kann uns ein ganzes Leben durch beschäftigen, wenn es uns genügt und belebt.


Man erkundige sich ums Phänomen, nehme es so genau damit als möglich und sehe, wie weit man in der Einsicht und in praktischer Anwendung damit kommen kann, und lasse das Problem ruhig liegen. Umgekehrt handeln die Physiker: Sie gehen gerade aufs Problem los und verwickeln sich unterwegs in so viel Schwierigkeiten, daß ihnen zuletzt jede Aussicht verschwindet.


Deshalb hat die Petersburger Akademie auf ihre Preisfrage keine Antwort erhalten; auch der verlängerte Termin wird nichts helfen. Sie sollte jetzt den Preis verdoppeln und ihn demjenigen versprechen, der sehr klar und deutlich vor Augen legte, warum keine Antwort eingegangen ist und warum sie nicht erfolgen konnte. Wer dies vermöchte, hätte jeden Preis wohl verdient.


Schon jetzt erklären die Meister der Naturwissenschaften die Notwendigkeit monographischer Behandlung und also des Interesse an Einzelnheiten. Dies aber ist nicht denkbar ohne eine Methode, die das Interesse an der Gesamtheit offenbart; hat man das erlangt, so braucht man freilich nicht in Millionen Einzelnheiten umherzutasten.


Zur Methode wird nur der getrieben, dem die Empirie lästig wird.


Cartesius schrieb sein Buch »De Methodo« einige Male um, und wie es jetzt liegt, kann es uns doch nichts helfen. Jeder, der eine Zeitlang auf dem redlichen Forschen verharrt, muß seine Methode irgendeinmal umändern.
[652]

Das neunzehnte Jahrhundert hat alle Ursache, hierauf zu achten.


So ganz leere Worte wie die von der Dekomposition und Polarisation des Lichts müssen aus der Physik hinaus, wenn etwas aus ihr werden soll. Doch wäre es möglich, ja es ist wahrscheinlich, daß diese Gespenster noch bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinüberspuken.


Man nehme das nicht übel. Eben dasjenige, was niemand zugibt, niemand hören will, muß desto öfter wiederholt werden.


Wer das Falsche verteidigen will, hat alle Ursache, leise aufzutreten und sich zu einer feinen Lebensart zu bekennen. Wer das Recht auf seiner Seite fühlt, muß derb auftreten: ein höfliches Recht will gar nichts heißen.


Zum Ergreifen der Wahrheit braucht es ein viel höheres Organ als zur Verteidigung des Irrtums.


Alle Hypothesen hindern den 'Αναϑεωρισμοσ' das Wiederbeschauen, das Betrachten der Gegenstände, der fraglichen Erscheinungen von allen Seiten.


Hypothesen sind Gerüste, die man vor dem Gebäude aufführt und die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist. Sie sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das Gerüste nicht für das Gebäude ansehn.


Wenn man den menschlichen Geist von einer Hypothese befreit, die ihn unnötig einschränkte, die ihn zwang, falsch oder halb zu sehen, falsch zu kombinieren, anstatt zu schauen zu grübeln, anstatt zu urteilen zu sophistisieren, so hat man ihm schon einen großen Dienst erzeigt. Er sieht die Phänomene freier, in anderen Verhältnissen und Verbindungen[653] an, er ordnet sie nach seiner Weise, und er erhält wieder die Gelegenheit, selbst und auf seine Weise zu irren, eine Gelegenheit, die unschätzbar ist, wenn er in der Folge bald dazu gelangt, seinen Irrtum selbst wieder einzusehen.


Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt.


Aus dem Größten wie aus dem Kleinsten – nur durch künstlichste Mittel dem Menschen zu vergegenwärtigen – geht die Metaphysik der Erscheinungen hervor; in der Mitte liegt das Besondere, unsern Sinnen Angemessene, worauf ich angewiesen bin, deshalb aber die Begabten von Herzen segne, die jene Regionen zu mir heranbringen.


Wer kann sagen, daß er eine Neigung zur reinen Erfahrung habe? Was Baco dringend empfohlen hatte, glaubte jeder zu tun, und wem gelang es?


Wer ein Phänomen vor Augen hat, denkt schon oft drüber hinaus; wer nur davon erzählen hört, denkt gar nichts.


Die Phänomene sind nichts wert, als wenn sie uns eine tiefere, reichere Einsicht in die Natur gewähren oder wenn sie uns zum Nutzen anzuwenden sind.


Die Konstanz der Phänomene ist allein bedeutend; was wir dabei denken, ist ganz einerlei.


Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele, zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, das für Theorie gelten könnte.
[654]

Theorie und Erfahrung/Phänomen stehen gegeneinander in beständigem Konflikt. Alle Vereinigung in der Reflexion ist eine Täuschung; nur durch Handeln können sie vereinigt werden.


Etwas Theoretisches populär zu machen, muß man es absurd darstellen. Man muß es erst selbst ins Praktische einführen, dann gilt's für alle Welt.


Man sagt gar gehörig: das Phänomen ist eine Folge ohne Grund, eine Wirkung ohne Ursache. Es fällt dem Menschen so schwer, Grund und Ursache zu finden, weil sie so einfach sind, daß sie sich dem Blick verbergen.


Der denkende Mensch irrt besonders, wenn er sich nach Ursach und Wirkung erkundigt: sie beide zusammen machen das unteilbare Phänomen. Wer das zu erkennen weiß, ist auf dem rechten Wege zum Tun, zur Tat.


Das genetische Verfahren leitet uns schon auf bessere Wege, ob man gleich damit auch nicht ausreicht.


Der eingeborenste Begriff, der notwendigste, von Ursach und Wirkung wird in der Anwendung die Veranlassung zu unzähligen, sich immer wiederholenden Irrtümern.


Ein großer Fehler, den wir begehen, ist, die Ursache der Wirkung immer nahe zu denken wie die Sehne dem Pfeil, den sie fortschnellt, und doch können wir ihn nicht vermeiden, weil Ursache und Wirkung immer zusammengedacht und also im Geiste angenähert werden.


Die nächsten faßlichen Ursachen sind greiflich und eben deshalb am begreiflichsten; weswegen wir uns gern als mechanisch denken, was höherer Art ist.
[655]

Indem wir der Einbildungskraft zumuten, das Entstehen statt des Entstandenen, der Vernunft, die Ursache statt der Wirkung zu reproduzieren und auszusprechen, so haben wir zwar beinahe nichts getan, weil es nur ein Umsetzen der Anschauung/Vorstellung ist, aber genug für den Menschen, der vielleicht im Verhältnis zur/gegen die Außenwelt nicht mehr leisten kann.


Es gibt jetzt eine böse Art, in den Wissenschaften abstrus zu sein: man entfernt sich vom gemeinen Sinne, ohne einen höhern aufzuschließen, transzendiert, phantasiert, fürchtet lebendiges Anschauen, und wenn man zuletzt ins Praktische will und muß, wird man auf einmal atomistisch und mechanisch.


Der Granit verwittert auch sehr gern in Kugel- und Eiform; man hat daher keineswegs nötig, die in Norddeutschland häufig gefundenen Blöcke solcher Gestalten wegen als im Wasser hin- und hergeschoben und durch Stoßen und Wälzen enteckt und entkantet zu denken.


Fall und Stoß: dadurch die Bewegung der Weltkörper erklären zu wollen, ist eigentlich ein versteckter Anthropomorphismus; es ist des Wanderers Gang über Feld. Der aufgehobene Fuß sinkt nieder, der zurückgebliebene strebt vorwärts und fällt, und immer so fort vom Ausgehen bis zum Ankommen.


Wie wäre es, wenn man auf demselben Wege den Vergleich von dem Schrittschuhfahren hernähme, wo das Vorwärtsdringen dem zurückbleibenden Fuße obliegt, indem er zugleich die Obliegenheit übernimmt, noch eine solche Anregung zu geben, daß sein nunmehriger Hintermann auch wieder eine Zeitlang sich vorwärts zu bewegen die Bestimmung erhält?
[656]

Das Zurückführen der Wirkung auf die Ursache ist bloß ein historisches Verfahren, zum Beispiel die Wirkung, daß ein Mensch getötet, auf die Ursache der losgefeuerten Büchse.


Induktion habe ich zu stillen Forschungen bei mir selbst nie gebraucht, weil ich zeitig genug deren Gefahr empfand.


Dagegen aber ist mir's unerträglich, wenn ein anderer sie gegen mich brauchen, mich durch eine Art Treibejagen mürbe machen und in die Enge schließen will.


Mitteilung durch Analogien halt ich für so nützlich als angenehm: der analoge Fall will sich nicht aufdringen, nichts beweisen; er stellt sich einem andern entgegen, ohne sich mit ihm zu verbinden. Mehrere analoge Fälle vereinigen sich nicht zu geschlossenen Reihen, sie sind wie gute Gesellschaft, die immer mehr anregt als gibt.


Irren heißt, sich in einem Zustande befinden, als wenn das Wahre gar nicht wäre; den Irrtum sich und andern entdecken, heißt rückwärts erfinden.


Die Kreise des Wahren berühren sich unmittelbar; aber in den Intermundien hat der Irrtum Raum genug, sich zu ergehen und zu walten.


Die Natur bekümmert sich nicht um irgendeinen Irrtum; sie selbst kann nicht anders als ewig recht handeln, unbekümmert, was daraus erfolgen möge.


Die Natur füllt mit ihrer grenzenlosen Produktivität alle Räume. Betrachten wir nur bloß unsre Erde: Alles, was wir bös, unglücklich nennen, kommt daher, daß sie nicht allem Entstehenden Raum geben, noch weniger ihm Dauer verleihen kann.
[657]

Alles, was entsteht, sucht sich Raum und will Dauer; deswegen verdrängt es ein anderes vom Platz und verkürzt seine Dauer.


Das Lebendige hat die Gabe, sich nach den vielfältigsten Bedingungen äußerer Einflüsse zu bequemen und doch eine gewisse errungene entschiedene Selbständigkeit nicht aufzugeben.


Man gedenke der leichten Erregbarkeit aller Wesen, wie der mindeste Wechsel einer Bedingung, jeder Hauch gleich in den Körpern Polarität manifestiert, die eigentlich in ihnen allen schlummert.


Spannung ist der indifferent scheinende Zustand eines energischen Wesens in völliger Bereitschaft, sich zu manifestieren, zu differenzieren, zu polarisieren.


Die Vögel sind ganz späte Erzeugnisse der Natur.


Natur hat zu nichts gesetzmäßige Fähigkeit, was sie nicht gelegentlich ausführte und zutage brächte.


Nicht allein der freie Stoff, sondern auch das Derbe und Dichte drängt sich zur Gestalt: ganze Massen sind von Natur und Grund aus kristallinisch; in einer gleichgültigen, formlosen Masse entsteht durch stöchiometrische Annäherung und Übereinandergreifen die porphyrartige Erscheinung, welche durch alle Formationen durchgeht.


Die schönste Metamorphose des unorganischen Reiches ist, wenn beim Entstehen das Amorphe sich ins Gestaltete verwandelt. Jede Masse hat hiezu Trieb und Recht. Der Glimmerschiefer verwandelt sich in Granaten und bildet oft Gebirgsmassen, in denen der Glimmer beinahe ganz aufgehoben ist und nur als geringes Bindungsmittel sich zwischen jenen Kristallen befindet.
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Die Mineralienhändler beklagen sich, daß sich Liebhaberei zu ihrer Ware in Deutschland vermindere, und geben der eindringlichen Kristallographie die Schuld. Es mag sein; jedoch in einiger Zeit wird gerade das Bestreben, die Gestalt genauer zu erkennen, auch den Handel wieder beleben, ja gewisse Exemplare kostbarer machen.


Kristallographie sowie Stöchiometrie vollendet auch den Oryktognosten; ich aber finde, daß man seit einiger Zeit in der Lehrmethode geirrt hat. Lehrbücher zu Vorlesungen und zugleich zum Selbstgebrauch, vielleicht gar als Teile zu einer wissenschaftlichen Enzyklopädie sind nicht zu billigen; der Verleger kann sie bestellen, der Schüler nicht wünschen.


Lehrbücher sollen anlockend sein; das werden sie nur, wenn sie die heiterste, zugänglichste Seite des Wissens und der Wissenschaft hinbieten.


Alle Männer vom Fach sind darin sehr übel dran, daß ihnen nicht erlaubt ist, das Unnütze zu ignorieren.


»Wir gestehen lieber unsre moralischen Irrtümer, Fehler und Gebrechen als unsre wissenschaftlichen.«


Das kommt daher, weil das Gewissen demütig ist und sich sogar in der Beschämung gefällt; der Verstand aber ist hochmütig, und ein abgenötigter Widerruf bringt ihn in Verzweiflung.


Daher kommt, daß offenbarte Wahrheiten erst im stillen zugestanden werden, sich nach und nach verbreiten, bis dasjenige, was man hartnäckig geleugnet hat, endlich als etwas ganz Natürliches erscheinen mag.


Unwissende werfen Fragen auf, welche von Wissenden vor tausend Jahren schon beantwortet sind.
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Bei Erweitung des Wissens macht sich von Zeit zu Zeit eine Umordnung nötig; sie geschieht meistens nach neueren Maximen, bleibt aber immer provisorisch.


Männer vom Fach bleiben im Zusammenhange; dem Liebhaber dagegen wird es schwerer, wenn er die Notwendigkeit fühlt nachzufolgen.


Deswegen sind Bücher willkommen, die uns sowohl das neu empirisch Aufgefundene als die neubeliebten Methoden darlegen.


In der Mineralogie ist dies höchst nötig, wo die Kristallographie so große Forderungen macht und wo die Chemie das Einzelne näher zu bestimmen und das Ganze zu ordnen unternimmt. Zwei willkommene: Leonhard und Cleaveland.


Wenn wir das, was wir wissen, nach anderer Methode oder wohl gar in fremder Sprache dargelegt finden, so erhält es einen sonderbaren Reiz der Neuheit und frischen Ansehens.


Wenn zwei Meister derselben Kunst in ihrem Vortrag voneinander differieren, so liegt wahrscheinlicherweise das unauflösliche Problem in der Mitte zwischen beiden.


Die »Geognosie« des Herren d'Aubuisson de Voisins, übersetzt vom Herrn Wiemann, wie sie mir zu Handen kommt, fördert mich in diesem Augenblicke auf vielfache Weise, ob sie mich gleich im Hauptsinne betrübt, denn hier ist die Geognosie, welche doch eigentlich auf der lebendigen Ansicht der Weltoberfläche ruhen sollte, aller Anschauung beraubt und nicht einmal in Begriffe verwandelt, sondern auf Nomenklatur zurückgeführt, in welcher letzten Rücksicht sie freilich einem jeden und auch mir förderlich und nützlich ist.
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Das Große, Überkolossale der Natur eignet man so leicht sich nicht an; denn wir haben nicht reine Verkleinerungsgläser, wie wir Linsen haben, um das unendlich Kleine zu gewahren. Und da muß man doch noch Augen haben wie Carus und Nees, wenn dem Geiste Vorteil entstehen soll.

Da jedoch die Natur im Größten wie im Kleinsten sich immer gleich ist und eine jede trübe Scheibe so gut die schöne Bläue darstellt wie die ganze weltüberwölkende Atmosphäre, so find ich es geraten, auf Musterstücke aufmerksam zu sein und sie vor mir zusammenzulegen. Hier nun ist das Ungeheuere nicht verkleinert, sondern im Kleinen, und ebenso unbegreiflich als im Unendlichen.


Wenn in der Mathematik der menschliche Geist seine Selbständigkeit und unabhängige Tätigkeit gewahr wird und dieser ohne weitere Rücksicht ins Unendliche zu folgen sich geneigt fühlt, so flößt er zugleich der Erfahrungswelt ein solches Zutrauen ein, daß sie es an gelegentlichen Aufforderungen nicht fehlen läßt. Astronomie, Mechanik, Schiffsbau, Festungsbau, Artillerie, Spiel, Wasserleitung, Schnitt der Bausteine, Verbesserung der Fernröhre riefen in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts die Mathematik wechselsweise zu Hülfe.


Die Mathematiker sind wunderliche Leute; durch das Große, was sie leisteten, haben sie sich zur Universalgilde aufgeworfen und wollen nichts anerkennen, als was in ihren Kreis paßt, was ihr Organ behandlen kann. Einer der ersten Mathematiker sagte bei Gelegenheit, da man ihm ein physisches Kapitel andringlich empfehlen wollte: »Aber läßt sich denn gar nichts auf den Kalkül reduzieren?«


Falsche Vorstellung, daß man ein Phänomen durch Kalkül oder durch Worte abtun und beseitigen könne.
[661]

Die Mathematiker sind eine Art Franzosen: redet man zu ihnen, so übersetzen sie es in ihre Sprache, und dann ist es alsobald ganz etwas anders.


Es folgt eben gar nicht, daß der Jäger, der das Wild erlegt, auch zugleich der Koch sein müsse, der es zubereitet. Zufälligerweise kann ein Koch mit auf die Jagd gehen und gut schießen; er würde aber einen bösen Fehlschluß tun, wenn er behauptete, um gut zu schießen, müsse man Koch sein. So kommen mir die Mathematiker vor, die behaupten, daß man in physischen Dingen nichts sehen, nichts finden könne, ohne Mathematiker zu sein, da sie doch immer zufrieden sein könnten, wenn man ihnen in die Küche bringt, das sie mit Formeln spicken und nach Belieben zurichten können.


Wir müssen erkennen und bekennen, was Mathematik sei, wozu sie der Naturforschung wesentlich dienen könne, wo hingegen sie nicht hingehöre und in welche klägliche Abirrung Wissenschaft und Kunst durch falsche Anwendung seit ihrer Regeneration geraten sei.


Die große Aufgabe wäre, die mathematisch-philosophischen Theorien aus den Teilen der Physik zu verbannen, in welchen sie Erkenntnis, anstatt sie zu fördern, nur verhindern und in welchen die mathematische Behandlung durch Einseitigkeit der Entwicklung der neuern wissenschaftlichen Bildung eine so verkehrte Anwendung gefunden hat.


Darzutun wäre, welches der wahre Weg der Naturforschung sei: wie derselbe auf dem einfachsten Fortgange der Beobachtung beruhe, die Beobachtung zum Versuch zu steigern sei und wie dieser endlich zum Resultat führe.


Tycho de Brahe, ein großer Mathematiker, vermochte sich nur halb von dem alten System loszulösen, das wenigstens[662] den Sinnen gemäß war, das er aber aus Rechthaberei durch ein kompliziertes Uhrwerk ersetzen wollte, das weder den Sinnen zu schauen noch den Gedanken zu erreichen war.


Newton als Mathematiker steht in so hohem Ruf, daß der ungeschickteste Irrtum, nämlich das klare, reine, ewig ungetrübte Licht sei aus dunklen Lichtern zusammengesetzt, bis auf den heutigen Tag sich erhalten hat, und sind es nicht Mathematiker, die dieses Absurde noch immer verteidigen und gleich dem gemeinsten Hörer in Worten wiederholen, bei denen man nichts denken kann?


Der Mathematiker ist angewiesen aufs Quantitative, auf alles, was sich durch Zahl und Maß bestimmen läßt, und also gewissermaßen auf das äußerlich erkennbare Universum. Betrachten wir aber dieses, insofern uns Fähigkeit gegeben ist, mit vollem Geiste und aus allen Kräften, so erkennen wir, daß Quantität und Qualität als die zwei Pole des erscheinenden Daseins gelten müssen; daher denn auch der Mathematiker seine Formelsprache so hoch steigert, um, insofern es möglich, in der meßbaren und zählbaren Welt die unmeßbare mitzubegreifen. Nun erscheint ihm alles greifbar, faßlich und mechanisch, und er kommt in den Verdacht eines heimlichen Atheismus, indem er ja das Unmeßbarste, welches wir Gott nennen, zu gleich mitzuerfassen glaubt und daher dessen besonderes oder vorzügliches Dasein aufzugeben scheint.


Der Sprache liegt zwar die Verstandes- und Vernunftsfähigkeit des Menschen zum Grunde, aber sie setzt bei dem, der sich ihrer bedient, nicht eben reinen Verstand, ausgebildete Vernunft, redlichen Willen voraus. Sie ist ein Werkzeug, zweckmäßig und willkürlich zu gebrauchen; man kann sie ebensogut zu einer spitzfindig-verwirrenden Dialektik wie zu einer verworren-verdüsternden Mystik[663] verwenden, man mißbraucht sie bequem zu hohlen und nichtigen prosaischen und poetischen Phrasen, ja man versucht, prosodisch untadelhafte und doch nonsensikalische Verse zu machen.

Unser Freund, der Ritter Ciccolini, sagt: »Ich wünschte wohl, daß alle Mathematiker in ihren Schriften des Genies und der Klarheit eines La Grange sich bedienten«, das heißt: möchten doch alle den gründlich-klaren Sinn eines La Grange besitzen und mit solchem Wissen und Wissenschaft behandeln!


Der Newtonische Versuch, auf dem die herkömmliche Farbenlehre beruht, ist von der vielfachsten Komplikation; er verknüpft folgende Bedingungen.

Damit das Gespenst erscheine, ist nötig:

1. ein gläsern Prisma;

2. dieses dreiseitig,

3. klein;

4. ein Fensterladen;

5. eine Öffnung darin;

6. diese sehr klein;

7. Sonnenbild, das hereinfällt;

8. in einer gewissen Entfernung, in einer

9. gewissen Richtung aufs Prisma fällt;

10. sich auf einer Tafel abbildet,

11. die in einer gewissen Entfernung hinter das Prisma gestellt ist.

Nehme man von diesen Bedingungen 3., 6. und 11. weg: man mache die Öffnung groß, man nehme ein großes Prisma, man stelle die Tafel nah heran, und das beliebte Spektrum kann und wird nicht zum Vorschein kommen.


Man spricht geheimnisvoll von einem wichtigen Experimente, womit man die Lehre erst recht befestigen will; ich kenn es recht gut und kann es auch darstellen: Das ganze Kunststück ist, daß zu obigen Bedingungen noch ein paar[664] hinzugefügt werden, wodurch das Hokuspokus sich noch mehr verwickelt.


Der Fraunhoferische Versuch, wo Querlinien im Spektrum erscheinen, ist von derselben Art, so wie auch die Versuche, wodurch eine neue Eigenschaft des Lichts entdeckt werden soll. Sie sind doppelt und dreifach kompliziert; wenn sie was nützen sollten, müßten sie in ihre Elemente zerlegt werden, welches dem Wissenden nicht schwerfällt, welches aber zu fassen und zu begreifen kein Laie weder Vorkenntnis noch Geduld, kein Gegner weder Intention noch Redlichkeit genug mitbringt: Man nimmt lieber überhaupt an, was man sieht, und zieht die alte Schlußfolge daraus.


Ich weiß wohl, daß diese Worte vergebens dastehen; aber sie mögen als offenbares Geheimnis der Zukunft bewahrt bleiben. Vielleicht interessiert sich auch noch einmal ein La Grange für diese Angelegenheit.


Da seit einiger Zeit meiner »Farbenlehre« mehr nachgefragt wird, machen sich frisch illuminierte Tafeln nötig. Indem ich nun dieses kleine Geschäft besorge, muß ich lächeln, welche unsägliche Mühe ich mir gegeben, das Vernünftige sowohl als das Absurde palpabel zu machen. Nach und nach wird man beides erfassen und anerkennen.


Der Newtonische Irrtum steht so nett im Konversationslexikon, daß man die Oktavseite nur auswendig lernen darf, um die Farbe fürs ganze Leben los zu sein.


Der Kampf mit Newton geht eigentlich in einer sehr niedern Region vor. Man bestreitet ein schlecht gesehnes, schlecht entwickeltes, schlecht angewendetes, schlecht theoretisiertes Phänomen. Man beschuldigt ihn in den früheren Versuchen einer Unvorsichtigkeit, in den folgenden[665] einer Absichtlichkeit, beim Theoretisieren der Übereilung, beim Verteidigen der Hartnäckigkeit und im ganzen einer halb bewußtlosen, halb bewußten Unredlichkeit.


Hundert graue Pferde machen nicht einen einzigen Schimmel.


Diejenigen, die das einzige grundklare Licht aus farbigen Lichtern zusammensetzen, sind die eigentlichen Obskuranten.


Wer sich an eine falsche Vorstellung gewöhnt, dem wird jeder Irrtum willkommen sein.


Deswegen sagte man ganz richtig: »Wer die Menschen betrügen will, muß vor allen Dingen das Absurde plausibel machen.«


Licht und Geist, jenes im Physischen, dieser im Sittlichen herrschend, sind die höchsten denkbaren unteilbaren Energien.


Ich habe nichts dagegen, wenn man die Farbe sogar zu fühlen glaubt; ihr eigenes Eigenschaftliche würde nur dadurch noch mehr betätigt.


Auch zu schmecken ist sie. Blau wird alkalisch, Gelbrot sauer schmecken. Alle Manifestationen der Wesenheiten sind verwandt.


Und gehört die Farbe nicht ganz eigentlich dem Gesicht an?[666]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 18, Berlin 1960 ff, S. 642-667.
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