1790

[14] Meine frühern Verhältnisse zur Universität Jena, wodurch wissenschaftliche Bemühungen angeregt und begünstigt worden, eilte ich sogleich wieder anzuknüpfen. Die dortigen Museen fernerhin unter Mitwirkung vorzüglicher sachkundiger Männer vermehrt aufzustellen, zu ordnen und zu erhalten war eine so angenehme als lehrreiche Beschäftigung, und ich fühlte mich beim Betrachten der Natur, beim Studium einer weitumhergreifenden Wissenschaft für den Mangel an Kunstleben einigermaßen entschädigt. »Die Metamorphose der Pflanzen« ward als Herzenserleichterung geschrieben. Indem ich sie abdrucken ließ, hoffte ich ein Specimen pro loco den Wissenden darzulegen. Ein botanischer Garten ward vorbereitet.

Malerische Farbengebung war zu gleicher Zeit mein Augenmerk, und als ich auf die ersten physischen Elemente dieser Lehre zurückging, entdeckte ich zu meinem großen Erstaunen: die Newtonische Hypothese sei falsch und nicht zu halten. Genaueres Untersuchen bestätigte mir nur meine Überzeugung, und so war mir abermals eine Entwickelungskrankheit eingeimpft, die auf Leben und Tätigkeit den größten Einfluß haben sollte.

Angenehme häuslich-gesellige Verhältnisse geben mir Mut und Stimmung, die »Römischen Elegien« auszuarbeiten und zu redigieren. Die »Venezianischen Epigramme« gewann ich unmittelbar darauf. Ein längerer Aufenthalt in der wunderbaren Wasserstadt, erst in Erwartung der von Rom zurückkehrenden Herzogin Amalia, sodann aber ein längeres Verweilen daselbst im Gefolge dieser alles um sich her, auswärts und zu Hause, belebenden Fürstin, brachten mir die größten Vorteile.[14] Eine historische Übersicht der unschätzbaren venezianischen Schule ward mir anschaulich, als ich erst allein, sodann aber mit den römischen Freunden, Heinrich Meyer und Bury, nach Anleitung des höchst schätzbaren Werkes »Della pittura Veneziana«, 1771, von den damals noch unverrückten Kunstschätzen, insofern sie die Zeit verschont hatte und wie man sie zu erhalten und herzustellen suchte, vollständige Kenntnis nahm.

Die verehrte Fürstin mit dem ganzen Gefolge besuchte Mantua und ergötzte sich an dem Übermaß dortiger Kunstschätze. Meyer ging nach seinem Vaterlande, der Schweiz, Bury nach Rom zurück; die weitere Reise der Fürstin gab Genuß und Einsicht.

Kaum nach Hause gelangt, ward ich nach Schlesien gefordert, wo eine bewaffnete Stellung zweier großen Mächte den Kongreß von Reichenbach begünstigte. Erst gaben Kantonierungsquartiere Gelegenheit zu einigen Epigrammen, die hie und da eingeschaltet sind. In Breslau hingegen, wo ein soldatischer Hof und zugleich der Adel einer der ersten Provinzen des Königreichs glänzte, wo man die schönsten Regimenter ununterbrochen marschieren und manövrieren sah, beschäftigte mich unaufhörlich, so wunderlich es auch klingen mag, die vergleichende Anatomie, weshalb mitten in der bewegtesten Welt ich als Einsiedler in mir selbst abgeschlossen lebte. Dieser Teil des Naturstudiums war sonderbarlich angeregt worden. Als ich nämlich auf den Dünen des Lido, welche die venezianischen Lagunen von dem Adriatischen Meere sondern, mich oftmals erging, fand ich einen so glücklich geborstenen Schafschädel, der mir nicht allein jene große, früher von mir erkannte Wahrheit: die sämtlichen Schädelknochen seien aus verwandelten Wirbelknochen entstanden, abermals betätigte, sondern auch den Übergang innerlich ungeformter organischer Massen durch Aufschluß nach außen zu fortschreitender Veredelung höchster Bildung und Entwicklung in die vorzüglichsten Sinneswerkzeuge vor Augen stellte und zugleich meinen alten, durch Erfahrung bestärkten Glauben wieder auffrischte, welcher sich fest darauf begründet, daß die Natur kein Geheimnis[15] habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor die Augen stellt.

Da ich nun aber einmal mitten in der bewegtesten Lebensumgebung zum Knochenbau zurückgekehrt war, so mußte meine Vorarbeit, die ich auf den Zwischenknochen vor Jahren verwendet, abermals rege werden. Loder, dessen unermüdliche Teilnahme und Einwirkung ich immerfort zu rühmen habe, gedenkt derselben in seinem »Anatomischen Handbuch« von 1788. Da aber die dazugehörige kleine Abhandlung, deutsch und lateinisch, noch unter meinen Papieren liegt, so erwähne ich kürzlich nur soviel: Ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose sich erhebender Typus gehe durch die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, lasse sich in allen seinen Teilen auf gewissen mittlern Stufen gar wohl beobachten und müsse auch noch da anerkannt werden, wenn er sich auf der höchsten Stufe der Menschheit ins Verborgene bescheiden zurückzieht.

Hierauf waren alle meine Arbeiten, auch die in Breslau, gerichtet; die Aufgabe war indessen so groß, daß sie in einem zerstreuten Leben nicht gelöst werden konnte.

Eine Lustfahrt nach den Salinen von Wieliczka und ein bedeutender Gebirgs- und Landritt, über Adersbach, Glatz usw. unternommen, bereicherte mit Erfahrung und Begriffen. Einiges findet sich aufgezeichnet.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 16, Berlin 1960 ff, S. 14-16.
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