Fünfter Akt


[302] Straße vor dem Hause Guilberts. Nacht.

Das Haus ist offen. Vor der Türe stehen drei in schwarze Mantel gehüllte Männer mit Fackeln. Clavigo, in einen Mantel gewickelt, den Degen unterm Arm, kommt. Ein Bedienter geht voraus mit einer Fackel.


CLAVIGO. Ich sagte dir's, du solltest diese Straße meiden.

BEDIENTER. Wir hätten einen gar großen Umweg nehmen müssen, und Sie eilen so. Es ist nicht weit von hier, wo Don Carlos sich aufhält.

CLAVIGO. Fackeln dort?

BEDIENTER. Eine Leiche. Kommen Sie, mein Herr.

CLAVIGO. Mariens Wohnung! Eine Leiche! Mir fährt ein Todesschauer durch alle Glieder. Geh, frag, wen sie begraben?

BEDIENTER geht zu den Männern. Wen begrabt ihr?

DIE MÄNNER. Marien Beaumarchais.

CLAVIGO setzt sich auf einen Stein und verhüllt sich.[302]

BEDIENTER kommt zurück. Sie begraben Marien Beaumarchais.

CLAVIGO aufspringend. Mußtest du's wiederholen, Verräter! Das Donnerwort wiederholen, das mir alles Mark aus meinen Gebeinen schlägt!

BEDIENTER. Stille, mein Herr, kommen Sie! Bedenken Sie die Gefahr, in der Sie schweben!

CLAVIGO. Geh in die Hölle! ich bleibe.

BEDIENTER. O Carlos! O daß ich dich fände, Carlos! Er ist außer sich! Ab.


Clavigo. In der Ferne die Leichenmänner.


CLAVIGO. Tot! Marie tot! Die Fackeln dort! ihre traurigen Begleiter! – Es ist ein Zauberspiel, ein Nachtgesicht, das mich erschreckt, das mir einen Spiegel vorhält, darin ich das Ende meiner Verrätereien ahndungsweise erkennen soll. – Noch ist es Zeit! Noch! – Ich bebe, mein Herz zerfließt in Schauer! Nein! Nein! du sollst nicht sterben. Ich komme! Ich komme! – Verschwindet, Geister der Nacht, die ihr euch mit ängstlichen Schrecknissen mir in den Weg stellt – Er geht auf sie los. Verschwindet! – Sie stehen! Ha! sie sehen sich nach mir um! Weh! Weh mir! es sind Menschen wie ich. – Es ist wahr – Wahr? – Kannst du's fassen? – Sie ist tot – Es ergreift mich mit allem Schauer der Nacht das Gefühl: sie ist tot! Da liegt sie, die Blume, zu deinen Füßen – und du – Erbarm dich meiner, Gott im Himmel, ich habe sie nicht getötet! – Verbergt euch, Sterne, schaut nicht hernieder, ihr, die ihr so oft den Missetäter saht in dem Gefühl des innigsten Glückes diese Schwelle verlassen durch eben diese Straße mit Saitenspiel und Gesang in goldnen Phantasieen hinschweben, und sein am heimlichen Gegitter lauschendes Mädchen mit wonnevollen Erwartungen entzünden! – und du füllst nun das Haus mit Wehklagen und Jammer! und diesen Schauplatz deines Glückes mit Grabgesang! – Marie! Marie! nimm mich mit dir! nimm mich mit dir! Eine traurige Musik tönt einige Laute von innen. Sie beginnen den Weg zum Grabe! Haltet, haltet! Schließt den Sarg nicht! Laßt mich sie noch einmal sehen! Er geht aufs Haus los. Ha! wem, wem wag ich's unters Gesicht zu treten? wem in seinen entsetzlichen[303] Schmerzen zu begegnen? – Ihren Freunden? Ihrem Bruder? dem wütender Jammer den Busen füllt! Die Musik geht wieder an. Sie ruft mir! sie ruft mir! Ich komme! Welche Angst umgibt mich! Welches Beben hält mich zurück!


Die Musik fängt zum dritten Male an und fährt fort. Die Fackeln bewegen sich vor der Tür, es treten noch drei andere zu ihnen, die sich in Ordnung reihen, um den Leichenzug einzufassen, der aus dem Hause kommt. Sechs tragen die Bahre, darauf der bedeckte Sarg steht.

Guilbert, Buenco, in tiefer Trauer.


CLAVIGO hervortretend. Haltet!

GUILBERT. Welche Stimme!

CLAVIGO. Haltet! Die Träger stehen.

BUENCO. Wer untersteht sich, den ehrwürdigen Zug zu stören?

CLAVIGO. Setzt nieder!

GUILBERT. Ha!

BUENCO. Elender! Ist deiner Schandtaten kein Ende? Ist dein Opfer im Sarge nicht sicher vor dir?

CLAVIGO. Laßt! macht mich nicht rasend! die Unglücklichen sind gefährlich! Ich muß sie sehen! Er wirft das Tuch ab. Marie liegt weiß gekleidet und mit gefalteten Händen im Sarge.


Clavigo tritt zurück und verbirgt sein Gesicht.


BUENCO. Willst du sie erwecken, um sie wieder zu töten?

CLAVIGO. Armer Spötter! – Marie! Er fällt vor dem Sarge nieder.


Beaumarchais kommt.


BEAUMARCHAIS. Buenco hat mich verlassen. Sie ist nicht tot, sagen sie, ich muß sehen, trotz dem Teufel! Ich muß sie sehen. Fackeln! Leiche! Er rennt auf sie los, erblickt den Sarg und fällt sprachlos drüber hin; man hebt ihn auf, er ist wie ohnmächtig. Guilbert hält ihn.

CLAVIGO der an der andern Seite des Sargs aufsteht. Marie! Marie!

BEAUMARCHAIS auffahrend. Das ist seine Stimme! Wer ruft Marie? Wie mit dem Klang der Stimme sich eine glühende Wut in meine Adern goß!

CLAVIGO. Ich bin's.

BEAUMARCHAIS wild hinsehend und nach dem Degen greifend. Guilbert hält ihn.

CLAVIGO. Ich fürchte deine glühenden Augen nicht, nicht[304] die Spitze deines Degens! Sieh hierher, dieses geschlossene Auge, diese gefalteten Hände!

BEAUMARCHAIS. Zeigst du mir das? Er reißt sich los, dringt auf Clavigo ein, der zieht, sie fechten, Beaumarchais stößt ihm den Degen in die Brust.

CLAVIGO sinkend. Ich danke dir, Bruder! Du vermählst uns. Er sinkt auf den Sarg.

BEAUMARCHAIS ihn wegreißend. Weg von dieser Heiligen, Verdammter!

CLAVIGO. Weh! Die Träger halten ihn.

BEAUMARCHAIS. Blut! Blick auf, Marie, blick auf deinen Brautschmuck, und dann schließ deine Augen auf ewig. Sieh, wie ich deine Ruhestätte geweiht habe mit dem Blute deines Mörders! Schön! Herrlich!


Sophie kommt.


SOPHIE. Bruder! Gott! was gibt's?

BEAUMARCHAIS. Tritt näher, Liebe, und schau! Ich hoffte, ihr Brautbette mit Rosen zu bestreuen – sieh die Rosen, mit denen ich sie ziere auf ihrem Wege zum Himmel.

SOPHIE. Wir sind verloren!

CLAVIGO. Rette dich, Unbesonnener! rette dich, eh der Tag anbricht. Gott, der dich zum Rächer sandte, geleite dich! – Sophie – vergib mir! – Bruder – Freunde, vergebt mir!

BEAUMARCHAIS. Wie sein fließendes Blut alle die glühende Rache meines Herzens auslöscht! wie mit seinem wegfliehenden Leben meine Wut abschwindet!


Auf ihn losgehend.


Stirb, ich vergebe dir!

CLAVIGO. Deine Hand! und deine, Sophie! Und Eure!


Buenco zaudert.


SOPHIE. Gib sie ihm, Buenco!

CLAVIGO. Ich danke dir! du bist die alte. Ich danke euch! Und wenn du noch hier diese Stätte umschwebst, Geist meiner Geliebten, schau herab, sieh diese himmlische Güte, sprich deinen Segen dazu, und vergib mir auch! – Ich komme! ich komme! – Rette dich, mein Bruder! Sagt mir, vergab sie mir? Wie starb sie?

SOPHIE. Ihr letztes Wort war dein unglücklicher Name. Sie schied weg ohne Abschied von uns.

CLAVIGO. Ich will ihr nach, und ihr den eurigen bringen.


[305] Carlos. Ein Bedienter.


CARLOS. Clavigo? Mörder!

CLAVIGO. Höre mich, Carlos! Du siehest hier die Opfer deiner Klugheit – Und nun, um des Blutes willen, in dem mein Leben unaufhaltsam dahinfließt! rette meinen Bruder –

CARLOS. Mein Freund! Ihr steht da? Lauft nach Wundärzten!


Bedienter ab.


CLAVIGO. Es ist vergebens. Rette! rette den unglücklichen Bruder! – Deine Hand darauf! Sie haben mir vergeben, und so vergeb ich dir. Du begleitest ihn bis an die Grenze, und – ah!

CARLOS mit dem Fuße stampfend. Clavigo! Clavigo!

CLAVIGO sich dem Sarge nähernd, auf den sie ihn niederlassen. Marie! deine Hand! Er entfaltet ihre Hände und faßt die rechte.

SOPHIE zu Beaumarchais. Fort, Unglücklicher! fort!

CLAVIGO. Ich hab ihre Hand! Ihre kalte Totenhand! Du bist die Meinige – Und noch diesen Bräutigamskuß. Ah!

SOPHIE. Er stirbt! Rette dich, Bruder!

BEAUMARCHAIS fällt Sophien um den Hals.

SOPHIE umarmt ihn, indem sie zugleich eine Bewegung macht, ihn zu entfernen.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 4, Hamburg 1948 ff, S. 302-306.
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