Sechster Auftritt

[39] Die Marquise. Die Nichte.

Nichte. Da der Graf und der Marquis abgegangen sind, bleibt sie in einer trostlosen Stellung im Hintergrunde stehen.


MARQUISE an dem vordern Teile des Theaters für sich. Ich verstehe diese Winke; ich danke dir, Graf, daß du mich für deines gleichen hältst. Dein Schade soll es nicht sein, daß du mir nutzest. – Er merkt schon lange, daß ich dem Domherrn mit der Hoffnung schmeichle, die Prinzessin für ihn zu gewinnen. Von meinem großen Plan ahnet er nichts; er[39] glaubt, es sei auf kleine Prellereien angelegt. Nun denkt er mir zu nützen, indem er mich braucht; er gibt mir in die Hand, dem Domherrn durch meine Nichte vorzuspiegeln, was ich will, und ich kann es nicht tun, ohne den Glauben des Domherrn an die Geister zu stärken. Wohl, Graf! so müssen Kluge sich verstehen, um törichte leichtgläubige Menschen sich zu unterwerfen. Sich umkehrend. Nichtchen, wo sind Sie? Was machen Sie?

NICHTE. Ich bin verloren! Geht mit unsichern Schritten auf die Tante los und bleibt auf halbem Wege stehen.

MARQUISE. Fassen Sie sich, meine Liebe!

NICHTE. Ich kann – ich werde die Geister nicht sehen!

MARQUISE. Gutes Kind, dafür lassen Sie mich sorgen. Ich will Ihnen schon raten, schon durchhelfen.

NICHTE. Hier ist kein Rat, keine Hülfe! Retten Sie mich! Retten Sie eine Unglückliche vor öffentlicher Schmach! Der Zauberer wird mich verwerfen, ich werde keine Geister sehen! Ich werde beschämt vor allen dastehen!

MARQUISE für sich. Was kann das bedeuten?

NICHTE. Auf meinen Knien, ich bitte! Ich flehe! Erretten Sie mich! Alles will ich bekennen! Ach Tante! Ach liebe Tante! Wenn ich Sie noch so nennen darf! Sie sehen kein unschuldiges Mädchen vor sich. Verachten Sie mich nicht! Verstoßen Sie mich nicht!

MARQUISE für sich. Unerwartet genug! Gegen die Nichte. Stehn Sie auf, mein Kind!

NICHTE. Ich vermöchte nicht, wenn ich auch wollte! Meine Knie tragen mich nicht! Es tut mir wohl, so vor Ihnen zu liegen. Nur in dieser Stellung darf ich sagen: vielleicht bin ich zu entschuldigen! Meine Jugend! Meine Unerfahrenheit! Mein Zustand! Meine Leichtgläubigkeit –

MARQUISE. Unter den Augen Ihrer Mutter glaubt ich Sie sicherer als in einem Kloster. Stehen Sie auf. Sie hebt die Nichte auf.

NICHTE. Ach! Soll ich sagen, soll ich gestehn?[40]

MARQUISE. Nun?

NICHTE. Erst seit dem Tode meiner Mutter ist die Ruhe, die Glückseligkeit von mir gewichen.

MARQUISE. Wie? Abgewendet. Sollt es möglich sein? Laut. Reden Sie weiter!

NICHTE. O Sie werden mich hassen! Sie werden mich verwerfen! Unglückseliger Tag, an dem Ihre Güte selbst mich zugrunde richtete!

MARQUISE. Erklären Sie sich!

NICHTE. O Gott! Wie schwer ist es auszusprechen, was uns ein unglücklicher Augenblick so süß vorschmeichelt! – Vergeben Sie, daß ich ihn liebenswürdig fand! Wie liebenswürdig war er! Der erste Mann, der mir die Hand mit Inbrunst drückte, mir in die Augen sah und schwur, er liebe mich. Und in welcher Zeit? In den Augenblicken, da mein Herz, von dem traurigsten Verluste lange unaussprechlich gepreßt, sich endlich in heißen Tränen Luft machte, weich, ganz weich war; da ich in der öden Welt um mich her durch die Wolken des Jammers nur Mangel und Kummer erblickte; wie erschien er mir da als ein Engel; der Mann, den ich schon in meiner Kindheit verehrt hatte, erschien als mein Tröster! Er drückte sein Herz an das meinige. – Ich vergaß, daß er nie der Meine werden konnte – daß er Ihnen angehört – Es ist ausgesprochen! – Sie wenden Ihr Gesicht von mir weg? Hassen Sie mich, ich verdiene es! Verstoßen Sie mich! Lassen Sie mich sterben! Sie wirft sich in einen Sessel.

MARQUISE für sich. Verführt – durch meinen Gemahl! – Beides überrascht mich, beides kommt mir ungelegen. – – Fasse dich! – Weg mit allen kleinen beschränkten Gesinnungen! Hier ist die Frage, ob du nicht auch diesen Umstand benutzen kannst? – – Gewiß! – – Oh! sie wird nur desto geschmeidiger sein, mir blindlings gehorchen – – und über meinen Mann gibt mir diese Entdeckung auch neue Vorteile. – Wenn ich meine Absichten erreiche, so ist mir das übrige alles gleichgültig! – Laut. Kommen[41] Sie, Nichte, erholen Sie sich! Sie sind ein gutes, braves Kind! Alles vergebe ich! Kommen Sie, werfen Sie Ihren Schleier über, wir wollen ausfahren, Sie müssen sich zerstreuen.

NICHTE indem sie aufsteht und der Marquise um den Hals fällt. Beste, liebste Tante, wie beschämen Sie mich!

MARQUISE. Sie sollen eine Freundin, eine Vertraute an mir finden. Nur der Marquis darf nicht wissen, daß ich es bin; wir wollen ihm die Verlegenheit ersparen.

NICHTE. Welche Großmut!

MARQUISE. Sie werden ihn auf eine geschickte Weise vermeiden; ich werde Ihnen behülflich sein.

NICHTE. Ich bin ganz in Ihren Händen!

MARQUISE. Und was die Geister betrifft, will ich Ihnen die wunderbarsten Geheimnisse entdecken; und Sie sollen diese fürchterliche Gesellschaft lustig genug finden. Kommen Sie! Kommen Sie nur!

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Berlin 1960 ff, S. 39-42.
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