Fünfter Auftritt

[84] Die Nichte. Der Domherr.

Die Nichte setzt sich in die Laube und hält die Rose in der Hand.


DER DOMHERR der von der entgegengesetzten Seite aus dem Grunde des Theaters hervorkommt. Eine tiefe Stille weissagt mir meine nahe Glückseligkeit. Ich vernehme keinen Laut in diesen Gärten, die sonst durch die Gunst des Fürsten allen Spaziergängern[84] offenstehn und bei schönen Abenden oft von einem einsamen unglücklich Liebenden, öfter von einem glücklichen frohen Paar besucht werden. O ich danke dir, himmlisches Licht, daß du dich heute in einen stillen Schleier hülltest! Du erfreuest mich, rauher Wind, du drohende trübe Regenwolke, daß ihr die leichtsinnigen Gesellschaften verscheuchet, die in diesen Gängen oft umsonst hin und wider schwärmen, die Lauben mit Gelächter füllen und ohne eigenen Genuß andere an den süßesten Vergnügungen stören. O ihr schönen Bäume, wie scheint ihr mir seit den wenigen Sommern gewachsen, seit mich der traurige Bann von euch entfernte! Ich seh euch nun wieder, seh euch mit den schönsten Hoffnungen wieder, und meine Träume, die mich einst in euern jungen Schatten beschäftigten, werden nunmehr erfüllt. Ich bin der glücklichste von allen Sterblichen.

MARQUISE die leise zu ihm tritt. Sind Sie es, Domherr? Nähern Sie sich, nähern Sie sich Ihrem Glück! Sehn Sie dort in der Laube?

DOMHERR. O ich bin auf dem Gipfel der Seligkeit!


Die Marquise tritt zurück.


DER DOMHERR tritt an die Laube und wirft sich der Nichte zu Füßen. Anbetungswürdige Sterbliche, erste der Frauen! Lassen Sie mich zu Ihren Füßen verstummen, lassen Sie mich auf dieser Hand meinen Dank, mein Leben aushauchen.

NICHTE. Mein Herr –

DOMHERR. Öffnen Sie mir nicht Ihre Lippen, Göttliche! es ist an Ihrer Gegenwart genug. Verschwinden Sie mir wieder, ich habe jahrelang an diesem glücklichen Augenblicke zu genießen. Die Welt ist voll von Ihrer Vortrefflichkeit; Ihre Schönheit, Ihr Verstand, Ihre Tugend entzückt alle Menschen. Sie sind wie eine Gottheit; niemand naht sich ihr, als um sie anzubeten, als um das Unmögliche von ihr zu bitten. Und so bin ich auch hier, meine Fürstin –[85]

NICHTE. O stehn Sie auf, mein Herr –

DOMHERR. Unterbrechen Sie mich nicht. So bin ich auch hier, aber nicht um zu bitten, sondern um zu danken, für das göttliche Wunder zu danken, womit Sie mein Leben retteten.

NICHTE indem sie aufsteht. Es ist genug!

DOMHERR kniend und sie zurückhaltend. Jawohl, der Worte genug, der Worte schon zuviel! Vergeben Sie! Die Götter selbst verzeihen, wenn wir mit Worten umständlich bitten, ob sie gleich unsre Bedürfnisse, unsre Wünsche lange schon kennen. Vergeben Sie meinen Worten! Was hat der arme Mensch Bessers als Worte, wenn er das hingeben möchte, was ihm ganz zugehört. Sie geben den Menschen viel, erhabene Fürstin; kein Tag, der nicht durch Wohltaten ausgezeichnet wäre; aber ich darf mir in diesem glücklichen Augenblicke sagen, daß ich der einzige bin, der Ihre Huld in diesem Grade erfährt, der sich sagen kann: Sie bezeigt dir Vergebung auf eine Weise, die dich höher erhebt, als du jemals tief fallen konntest. Sie kündigt dir ihre Gnade an auf eine Art, die dir ein ewiges Pfand dieser Gesinnungen ist; sie macht dein Glück, sie befestigt's, sie verewigt's, alles in einem Augenblick.

DIE NICHTE macht eine Bewegung vorwärts, die den Domherrn nötigt, aufzustehn. Entfernen Sie sich; man kommt! Wir sehn uns wieder. Sie hat ihm, indem er aufstand, die Hand gereicht und läßt ihm, da sie sich zurückzieht, die Rose in den Händen.

DOMHERR. Ja nun will ich eilen, ich will scheiden, will dem brennenden Verlangen widerstehn, das mich zur größten Verwegenheit treibt. Er naht sich ihr mit Heftigkeit und tritt gleich wieder zurück. Nein, befürchten Sie nichts! Ich gehe, aber lassen Sie mich es aussprechen, denn es hängt doch nur mein künftiges Leben von Ihren Winken ab. Ich darf alles bekennen, weil ich Macht genug über mich selbst habe, diesem glücklichen Augenblick hier gleichsam zu trotzen. Verbannen Sie mich auf ewig von Ihrem Angesicht,[86] wenn Sie mir die Hoffnung nehmen, jemals in diesen Armen von allen verdienten und unverdienten Qualen auszuruhn. Sagen Sie ein Wort. Sie bei der Hand fassend.

NICHTE ihm die Hände drückend. Alles, alles, nur jetzt verlassen Sie mich!

DOMHERR auf ihren Händen ruhend. Sie machen mich zum glücklichsten Menschen, gebieten Sie unumschränkt über mich.


Es lassen sich in der Ferne zwei Waldhörner hören, die eine höchst angenehme Kadenz miteinander ausführen. Der Domherr ruht indessen auf den Händen der Nichte.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Berlin 1960 ff, S. 84-87.
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