Erster Akt

[340] Saal, im guten Geschmacke dekoriert.

Mana und Sora begegnen einander.


MANA. Wo willst du hin, Sora?

SORA. In den Garten, Mana.

MANA. Hast du soviel Zeit? Wir erwarten den König jeden Augenblick; verliere dich nicht vom Schlosse.[340]

SORA. Ich kann es unmöglich aushalten; ich bin den ganzen Tag noch nicht an die freie Luft gekommen.

MANA. Wo ist die Prinzessin?

SORA. In ihrem Zimmer. Sie probiert mit der kleinen Mela einen Tanz und läuft jeden Augenblick ans Fenster, zu sehen, ob der Bruder kommt.

MANA. Es ist eine rechte Not, seitdem die großen Herren auf das Inkognito gefallen sind. Man weiß gar nicht mehr, woran man ist. Sonst wurden sie monatelang voraus angekündigt, und wenn sie sich näherten, war alles in Bewegung; Kuriere sprengten herbei, man konnte sich schicken und richten. Jetzo, eh man sich's versieht, sind sie einem auf dem Nacken. Wahrhaftig, das letztemal hat er mich in der Nachtmütze überrascht.

SORA. Darum warst du heut so frühe fertig?

MANA. Ich finde keine Lust daran. – Wenn mir ein Fremder auf der Treppe begegnet, wird mir's immer bang; ich denke gleich, es ist wieder einmal ein König oder ein Kaiser, der seinen gnädigen Spaß mit uns zu treiben kommt.

SORA. Diesmal ist er nun gar zu Fuße. Andre lassen sich doch ins Gebirge zum Orakel in Sänften tragen, er nicht so; allein, mit einem tüchtigen Stabe in der Hand, trat er seine Reise an.

MANA. Schade, daß er nicht zu Theseus' Zeiten gelebt hat!


Feria tritt auf, mit ihr Mela.


FERIA. Seht ihr noch niemand? Wenn ihm nur kein Unglück begegnet ist!

SORA. Seid ruhig, meine Fürstin! Die Gefahren und der üble Humor scheinen sich beide vor ihm zu fürchten.

FERIA. Er will mich nur einen Augenblick sprechen und dann gleich wieder fort.


Lato tritt auf.


LATO. Der König kommt.[341]

FERIA. Wohl! sehr wohl!

LATO. Ich sah hinüber in das Tal und erblickte ihn eben, als er über den Bach schritt.

FERIA. Laßt uns ihm entgegengehen.

SORA. Da ist er.


Andrason kommt.


FERIA. Sei uns willkommen! herzlich willkommen!

ALLE. Willkommen!

ANDRASON. Ich umarme dich, meine Schwester! Ich grüße euch, meine Kinder! Eure Freude macht mich glücklich, eure Liebe tröstet mich.

FERIA. Mein Bruder, bedarfst du noch Trostes? Hat das Orakel dir keinen gegeben? Möchtest du doch immer vergnügt sein! Möchte dir doch immer wohl sein! Wir waren, seit du uns ehegestern verließest, voller Hoffnung für dich und dein Anliegen.

MANA. Majestät! –

ANDRASON. Schönheit!

SORA. Herr!

ANDRASON. Gebieterin!

LATO. Wie soll man Euch denn nennen?

ANDRASON. Ihr wißt, daß ihr keine Umstände mit mir machen sollt.

MANA für sich. Nur damit er auch keine mit uns zu machen braucht.

LATO. Wir möchten von dem Orakel hören.

SORA. Hat das Orakel nichts Gutes gesagt?

MELA. Habt Ihr das Orakel nicht unsertwegen gefragt?

ANDRASON. Liebe Kinder, das Orakel ist eben ein Orakel.

LATO. Sonderbar!

ANDRASON. Daß ein zartes Herz, voller Gefühle, Hoffnungen und Ahnungen, das einer ungewissen Zukunft sehnsuchtsvoll entgegenlebt, nach Würfeln hascht, den Becher schüttelt, Wurf über Wurf versucht und in dem Glückstäfelchen sorgfältig forscht, was ihm die Würfe[342] bedeuten, und dann fröhlich oder traurig einen halben Tag verlebt, das mag hingehn, mag recht gut sein.

LATO für sich. Woher er alles weiß? Damit habe ich mich erst heute beschäftigt.

ANDRASON. Daß ein schönes Kind Punkte über Punkte tüpfelt, nachschlägt und sucht, was ihr für ein Gatte werden möchte? ob der Liebhaber treu ist? und so weiter, das find ich wohlgetan.

MELA für sich. Er ist ein Hexenmeister! Wenn wir allein sind, wissen wir nichts Bessers.

ANDRASON. Aber wer ein positives Übel, Zahnweh oder Unfrieden, im Hause hat, der frage keinen Arzt und kein Orakel! Ihr Wissen und ihre Kunst fällt zu kurz; dies und jenes Mittelchen und vorzüglich Geduld ist, was sie euch empfehlen.

FERIA. Kannst du, darfst du uns sagen? Hat's dir eine Antwort gegeben? Darfst du sie entdecken?

ANDRASON. Ich will sie in vier Sprachen übersetzen und an allen Landstraßen aufhängen lassen, es weiß doch kein Mensch, was es soll.

FERIA. Wie?

ANDRASON. Da ich ankomme und eingeführt werde –

SORA. Wie sieht's im Tempel aus?

MANA. Ist der recht prächtig?

FERIA. Ruhe, ihr Mädchen!

ANDRASON. Wie mich die Priester zur heiligen Höhle bringen –

MELA. Die ist wohl schwarz und dunkel?

ANDRASON. Wie deine Augen. – Ich trete vor die Tiefe und sage klar und vernehmlich: »Geheimnisvolle Weisheit! hier tritt ein Mann auf, der sich bisher für den Glücklichsten hielt; denn es geht ihm nichts ab; alles, was die Götter einem Menschen Gutes zueignen können, schenkten sie mir, selbst das köstlichste aller Besitztümer versagten sie mir nicht: ein treffliches Weib. Aber – ach! daß Aber und Aber sich immer zu dem Danke gesellen, den[343] wir den Göttern zu bringen haben! – Diese Frau, dieses Muster der Liebe und Treue, nimmt seit kurzem unglücklicherweise an einem Menschen teil, der sich ihr aufdringt und der mir verhaßt ist. Dir, hohe Weisheit, der alles bekannt ist, sag ich nichts weiter und bitte: enthülle mir mein Schicksal! gib mir Rat und, was mehr ist, Hülfe!« – Ich dächte, das hieße sich deutlich erklären?

LATO. Wir verstehn es wohl.

FERIA. Und die Antwort?

ANDRASON. Wer sagen könnte: ich verstehe sie!

SORA. Ich bin höchst neugierig – Haben wir doch manches Rätsel erraten!

MELA. Geschwinde!

ANDRASON. Ich steh und horche, und es fängt von unten auf an – erst leise – dann vernehmlich – dann vernehmlicher:

»Wenn wird ein greiflich Gespenst von schönen Händen entgeistert« –

ALLE. Oh!

ANDRASON. Gebt mir ein Licht. Das greifliche Gespenst soll entgeistert werden.

LATO. Von schönen Händen.

ANDRASON. Die fänden sich allenfalls. Ein greiflich Gespenst, das ist etwas aus der neuen Poesie, die mir immer unbegreiflich gewesen ist.

FERIA. Es ist arg.

ANDRASON. Wartet nur und merkt; es kommt noch besser:

»Wenn wird ein greiflich Gespenst von schönen Händen entgeistert

Und der leinene Sack seine Geweide verleiht« –

ALLE. Oh! oh! Ei! Oh! ah! ha! ha!

ANDRASON. Seht! Ein leinen Gespenst und ein greiflicher Sack und Eingeweide von schönen Händen! Nein, was zuviel ist, bleibt zuviel! Was so ein Orakel nicht alles sagen darf![344]

MANA. Wiederholt es uns!

ANDRASON. Nicht wahr, ihr hört gar zu gerne, was erhaben klingt, wenn ihr's gleich nicht versteht?

»Wenn wird ein greiflich Gespenst von schönen Händen entgeistert

Und der leinene Sack seine Geweide verleiht« –

Seid ihr nun klüger, meine Lieben? Nun aber merkt auf:

»Wird die geflickte Braut mit dem Verliebten vereinet:

Dann kommt Ruhe und Glück, Fragender, über dein Haus.«

SORA. Nein, das ist nicht möglich!

ANDRASON. O ja; die Götter haben sich diesmal sehr ihrer poetischen Freiheit bedient.

LATO. Habt Ihr es nicht aufgeschrieben?

ANDRASON. Freilich! Hier ist die Rolle, wie ich sie aus den Händen der Priester erhielt.

LATO. Laßt es uns lesen, vielleicht wird es uns klärer.


Andrason bringt eine Rolle aus dem Gürtel und wickelt sie auf. Die Frauenzimmer drängen sich wechselsweise zu, lesen, lachen und machen ihre Anmerkungen. Es kommt auf den guten Humor der Schauspielerinnen an, dieses munter und angenehm vorzustellen; deswegen ihnen überlassen bleibt; hier

zu extemporieren. Die Hauptabsicht dieser Wiederholung ist, daß das Publikum mit dem Orakelspruch recht bekannt werde.


FERIA. Das ist höchst sonderbar und unbegreiflich! Wie ist es dir weiter ergangen? Hast du nicht irgendeine Aufklärung gefunden?

ANDRASON. Nicht Aufklärung, aber Hoffnung. Verwundert über die unverschämte Dunkelheit der Antwort, aber nicht außer Fassung gebracht, trat ich aus der Höhle. Ich sah den ältesten Priester auf einem goldenen Sessel sitzen. Ich nahte mich ihm, und indem ich einige Edelsteine in seinen Schoß legte, rief ich aus: »O welche Fülle der Weisheit kommt uns von den Göttern! Wie erleuchtet werden wir, die wir auf dunkeln Wegen irren, durch ihre Offenbarungen![345] Aber nicht raten allein, helfen müssen die Unsterblichen. Der Jüngling, über den ich mich beklage, der mir das Leben verbittert, wird ehstens hier erscheinen, voll Zutrauens und Gehorsams. Möge die alles durchdringende Stimme der Götter ihn ergreifen, sein Herz fassen und ihm gebieten, nie wieder einen Fuß über meine Schwelle zu setzen! Mein Dank würde ohne Grenzen bleiben.« – Der Alte nickte mit dem Kopfe, sein weißer Bart bewegte sich murmelnd; ich ging mit wechselnder Hoffnung und Sorgen zurück und bin nun hier.

FERIA. Möge alles zum Besten ausschlagen! – Du verzeihst, Bruder; ich muß vor Tafel mit meinen Räten, die schon lange warten, noch einige Geschäfte abtun; ich lasse dir die Kinder; unterhalte dich mit meinem muntern Geschlechte.

ANDRASON. Ich danke dir, Schwester. Wenn ich dich missen soll, weiß ich nichts Bessers als diese freundlichen Augen.

FERIA. Bald seh ich dich wieder. Ab.

SORA. Sagt uns nun, Herr, was Ihr denkt.

ANDRASON. Von der geflickten Braut?

SORA. Ich meine, was Ihr tun wollt.

ANDRASON. Tun! als ob das Orakel nichts gesagt hätte; mit meinem Übel beladen wieder nach Hause gehn und nach meiner Frau sehen, die ich in wunderbaren Zuständen anzutreffen fürchte.

SORA. Was macht sie denn indessen?

ANDRASON. Sie geht im Mondscheine spazieren, schlummert an Wasserfällen und hält weitläufige Unterredungen mit den Nachtigallen. Denn seitdem der Prinz weg ist, einen Zug durch seine Provinzen und hiernächst zum Orakel zu tun, ist's nicht anders, als ob ihre Seele in einen langen Faden gezogen wäre, der bis zu ihm hinüberreichte. Eins noch, an dem sie großes Vergnügen findet, ist, daß sie Monodramen aufführt.

MANA. Was sind das für Dinge?

ANDRASON. Wenn ihr Griechisch könntet, würdet ihr gleich[346] wissen, daß das ein Schauspiel heißt, wo nur eine Person spielt.

LATO. Mit wem spielt sie denn?

ANDRASON. Mit sich selbst, das versteht sich.

LATO. Pfui, das muß ein langweilig Spiel sein!

ANDRASON. Für den Zuschauer wohl. Denn eigentlich ist die Person nicht allein, sie spielt aber doch allein; denn es können noch mehr Personen dabeisein, Liebhaber, Kammerjungfern, Najaden, Oreaden, Hamadryaden, Ehemänner, Hofmeister; aber eigentlich spielt sie für sich, es bleibe ein Monodrama. Es ist eben eine von den neuesten Erfindungen; es läßt sich nichts darüber sagen. Solche Dinge finden großen Beifall.

SORA. Und das spielt sie ganz allein für sich?

ANDRASON. O ja! Oder, wenn etwa Dolch oder Gift zu bringen ist – denn es geht meistens etwas bunt her –, wenn eine schreckliche Stimme aus dem Felsen oder durchs Schlüsselloch zu rufen hat, solche wichtige Rollen nimmt der Prinz über sich, wenn er da ist, oder in seiner Abwesenheit ihr Kammerdiener, ein sehr alberner Bursche; aber das ist eins.

MELA. Wir wollen auch einmal so spielen.

ANDRASON. Laßt's doch gut sein und dankt Gott, daß es noch nicht bis zu euch gekommen ist! Wenn ihr spielen wollt, so spielt zu zweien wenigstens; das ist seit dem Paradiese her das üblichste und gescheiteste gewesen. Nun noch eins, meine Besten – daß wir die Zeit nicht mit fremden Dingen verplappern –, meine Hoffnung, wieder glücklich zu werden, ruht nicht allein bei den Göttern, sondern auch auf euch, ihr Mädchen.

SORA. Auf uns?

ANDRASON. Ja, auf euch! und ich hoffe, ihr werdet das Eure tun.

MANA. Wie soll das werden?

ANDRASON. Der Prinz, wenn er nach dem Orakel geht, wird hier vorbeikommen, euch seine Ehrerbietung zu[347] bezeigen, wie Fremde gewöhnlich tun, die diesen Weg nehmen. Meine Schwester wird artig sein und ihm Quartier anbieten; ihm anbieten, daß sie seine Leute, sein Gepäcke beherbergen will, indes er sich ins Gebirge nach dem Orakel tragen läßt, wo jeder, er sei, wer er wolle, allein, ohne Gefolge anlangen muß. Wenn er nun kommt, meine Besten, so sucht sein Herz zu rühren. – Ihr seid liebenswürdig. Ich will die als eine Göttin verehren, die ihn an sich zieht und mich von ihm befreit.

SORA. Gut! Euch ist er unerträglich, und uns wollt Ihr ihn zuschieben! Wenn er uns nun auch unerträglich ist?

ANDRASON. Seid ruhig, Kinder! Das findet sich. Ihr andern liebt meistenteils an den Männern, was Männer an sich untereinander nicht leiden können. Und gewiß, er ist so übel nicht und wäre, denk ich, noch zu kurieren.

MELA. Wie sollen wir es denn anfangen?

ANDRASON. Bravo, liebes Kind! du zeigst doch guten Willen! Ich muß erst eure Anlagen ein wenig kennenlernen. Laßt sehn! Stellt euch vor, ich sei der Prinz; ich will ankommen, schmachtend und traurig tun – wie wollt ihr mich empfangen?


Sie beginnen einen lebhaften Tanz.


ANDRASON. Nicht doch, Kinder, nicht doch! Meint ihr, daß alles Wild nach einer Witterung geht? Mit einem solchen Bauerntanz wollt ihr meinen sublimierten Helden gewinnen? Nein! seht auf mich! das muß in einem andern Geiste traktiert werden.


Sanfte Musik.

Er macht ihnen die hergebrachten Bewegungen vor, womit die Schauspieler gewöhnlich die Empfindungen auszudrücken denken.


ANDRASON. Habt ihr wohl achtgegeben, Kinder? Erstlich, immer den Leib vorwärtsgebogen und mit den Knien[348] geknickt, als wenn ihr kein Mark in den Knochen hättet! Hernach immer eine Hand an der Stirne und eine am Herzen, als wenn's euch in Stücken springen wollte; mitunter tief Atem geholt, und so weiter. Die Schnupftücher nicht vergessen!


Die Musik geht fort, und die Fräulein befolgen seine Vorschrift. Er stellt den Prinzen vor; bald korrigiert er sie, bald nimmt er die Person des Prinzen wieder an; endlich hört man eine Trompete in der Ferne.


ANDRASON. Aha!

LATO. Es wird aufgetragen.

ANDRASON. Es heißt zu Pferde und zu Tische! Beides eine schöne Einladung. Kommt! diese Empfindsamkeit zuletzt hat mich hungriger gemacht als meine Reisen bisher.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 5, Berlin 1960 ff, S. 340-349.
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