Sechster Auftritt

[390] EPIMENIDES.

Und welch Erwachen! wunderbar genug!

Die Pforten öffnen sich bei düstrer Nacht.

Täuscht mich der Genien sonst so treuer Dienst?

Kein Stern am Himmel?


Es erscheint ein Komet, ungeheuer.


Welch ein furchtbar Zeichen

Erschreckt den Blick mit Rutenfeuerschein!

Wo bin ich denn? – In eine Wüstenei,

Von Fels und Baum beschränkt, bin ich begraben.


Wie war es sonst! als mir die Flügeltüren

Beim ersten Morgenlicht von Geisterhand

Sich öffneten, das liebe Himmelspaar

Mich in die holde Welt herunterführte,

Mich Tempel und Palast, und nah und fern

Die herrlichste Natur mich glänzend grüßte.

Wie düster jetzt! und was der Feuerschein

Mir ahnungsvoll entdeckt, ist grausenhaft.

Wer leitet mich? wer rettet vom Verderben?

Verdient wohl euer Freund, ihr Götter, so zu sterben?


Die Genien treten, oben an der Pforte, hervor mit

Fackeln.


Doch ihr erhört des treuen Priesters Ruf!

Ich sehe neuen goldnen Schein umschimmern:

Die Lieben sind's! o, wo sie leuchtend gehn,

Liegt keine Wüste, haust kein Schrecknis mehr.


Sie sind heruntergekommen und stehen neben ihm.


O sagt mir an, ihr Holden, welchen Traum

Von Ängstlichkeiten schafft ihr um mich her?


Sie legen den Finger auf den Mund.


Ich träume, ja! wo nicht, so hat ein Gott

In tiefe Wüsteneien mich verschlagen

Hier – keine Spur von jenem alten Glanz,

Nicht Spur von Kunst, von Ordnung keine Spur!

Es ist der Schöpfung wildes Chaos hier,

Das letzte Grauen endlicher Zerstörung.


Genien deuten hinüber und herüber.
[390]

Was deutet ihr? Ich soll mich hier erkennen!


Die Genien leuchten voran nach der einen Seite.


Euch folgen? wohl! ihr leuchtet dieserseits.

Was seh' ich hier! ein wohlbekanntes Bild!

In Marmorglanze, Glanz vergangner Tage.

»Der Vater ruht auf seinem breiten Polster,

Die Frau im Sessel, Kinder stehn umher

Von jedem Alter; Knechte tragen zu,

Das Pferd sogar es wiehert an der Pforte;

Die Tafel ist besetzt, man schwelgt und ruht.«

Fürwahr! es ist die Stätte noch, wo mir

Des Freudentages hellste Sonne schien;

Ist alles doch in Schutt und Graus versunken.


Sie deuten, und leiten ihn nach der andern Seite.


Noch weiter? Nein, ihr Guten, nein, ach nein!

Ich glaub' es auch, es ist die alte Stätte;

Doch während meines Schlafes hat ein Gott

Die Erd' erschüttert, daß Ruinen hier

Sich aufeinander türmen, durch ein Wunder

Der Bäume, der Gesträuche Trieb beschleunigt.

So ist es hin, was alles ich gebaut

Und was mit mir von Jugend auf emporstieg.

O, wär' es herzustellen! Nein, ach nein!


Ihr nötigt mich an diese Tafel hin!

Zerschlagen ist sie, nicht mehr leserlich.

Hinweg von mir! O mein Gedächtnis! O!

Du hältst das Lied noch fest, du wiederholst es.

UNSICHTBARES CHOR.

Hast du ein gegründet Haus,

Fleh' die Götter alle,

Daß es, bis man dich trägt hinaus,

Nicht zu Schutt zerfalle

Und noch lange hinterdrein

Kindeskindern diene,

Und umher ein frischer Hain

Immer neu ergrüne.

EPIMENIDES.

Dämonen seid ihr, keine Genien!

Der Hölle, die Verzweiflung haucht, entstiegen.[391]

Sie haucht mich an, durchdringt, erstarrt die Brust,

Umstrickt das Haupt, zerrüttet alle Sinnen.


Er beugt seine Knie, richtet sich aber gleich wieder auf.


Nein, kniee nicht! sie hören dich nicht mehr;

Die Genien schweigen, wünsche dir den Tod.

Denn wo der Mensch verzweifelt, lebt kein Gott,

Und ohne Gott will ich nicht länger leben.


Er wendet sich ab, verzweifelnd.


GENIEN sich einander zuwinkend.

Komm! wir wollen dir versprechen

Rettung aus dem tiefsten Schmerz

Pfeiler, Säulen kann man brechen,

Aber nicht ein freies Herz:

Denn es lebt ein ewig Leben,

Es ist selbst der ganze Mann,

In ihm wirken Lust und Streben,

Die man nicht zermalmen kann.

EPIMENIDES wehmütig.

O sprecht! o helft! mein Knie, es trägt mich kaum:

Ihr wollt euch bittern Spott erlauben?

GENIEN.

Komm mit! den Ohren ist's ein Traum;

Den Augen selbst wirst du nicht glauben.


Es wird auf einmal Tag. Von ferne kriegerische Musik. Epimenides und die Genien stehen vor der Pforte.


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 390-392.
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Des Epimenides Erwachen
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