Dritter Auftritt


[220] König. Graf.


KÖNIG.

Kennst du den Anlaß der Begebenheit?

GRAF.

Vor meinen Augen hat sie sich ereignet.

Ein starker Trupp von Reitern, welcher sich

Durch Zufall von der Jagd getrennt gesehn,

Geführt von dieser Schönen, zeigte sich

Auf jener Klippen waldbewachsner Höhe.

Sie hören, sehen unten in dem Tal

Den Jagdgebrauch vollendet. Sehn den Hirsch

Als Beute liegen seiner kläffenden

Verfolger. Schnell zerstreuet sich die Schar,

Und jeder sucht sich einzeln seinen Pfad,

Hier oder dort, mehr oder weniger

Durch einen Umweg. Sie allein besinnt

Sich keinen Augenblick und nötiget

Ihr Pferd von Klipp' zu Klippe, grad herein.

Des Frevels Glück betrachten wir erstaunt;

Denn ihr gelingt es eine Weile, doch

Am untern steilen Abhang gehn dem Pferde

Die letzten, schmalen Klippenstufen aus,

Es stürzt herunter, sie mit ihm. So viel

Konnt' ich bemerken, eh' der Menge Drang

Sie mir verdeckte. Doch ich hörte bald

Nach deinem Arzte rufen. So erschein' ich nun

Auf deinen Wink, den Vorfall zu berichten.

KÖNIG.

O möge sie ihm bleiben! Fürchterlich

Ist einer, der nichts zu verlieren hat.

GRAF.

So hat ihm dieser Schrecken das Geheimnis

Auf einmal abgezwungen, das er sonst

Mit so viel Klugheit zu verbergen strebte?

KÖNIG.

Er hatte schon sich völlig mir vertraut.

GRAF.

Die Lippen öffnet ihm der Fürstin Tod,

Nun zu bekennen, was für Hof und Stadt

Ein offenbar Geheimnis lange war.

Es ist ein eigner, grillenhafter Zug,

Daß wir durch Schweigen das Geschehene

Für uns und andre zu vernichten glauben.[220]

KÖNIG.

O laß dem Menschen diesen edlen Stolz.

Gar vieles kann, gar vieles muß geschehn,

Was man mit Worten nicht bekennen darf.

GRAF.

Man bringt sie, fürcht' ich, ohne Leben her!

KÖNIG.

Welch unerwartet, schreckliches Ereignis!


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 220-221.
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