Zweiter Auftritt


[252] Herzog. Sekretär.


HERZOG.

Unsel'ges Licht! du rufst mich auf zum Leben,

Mich zum Bewußtsein dieser Welt zurück

Und meiner selbst. Wie öde, hohl und leer

Liegt alles vor mir da, und ausgebrannt,

Ein großer Schutt, die Stätte meines Glücks.

SEKRETÄR.

Wenn jeder von den Deinen, die um dich

In dieser Stunde leiden, einen Teil

Von deinen Schmerzen übertragen könnte,

Du fühltest dich erleichtert und gestärkt.

HERZOG.

Der Schmerz um Liebe, wie die Liebe, bleibt

Unteilbar und unendlich. Fühl' ich doch,

Welch ungeheures Unglück den betrifft,

Der seines Tags gewohntes Gut vermißt.

Warum o! laßt ihr die bekannten Wände

Mit Farb' und Gold mir noch entgegenscheinen,

Die mich an gestern, mich an ehegestern,

An jenen Zustand meines vollen Glücks

Mich kalt erinnern! O warum verhüllet

Ihr nicht Gemach und Saal mit schwarzem Krepp!

Daß, finster wie mein Innres, auch von außen

Ein ewig nächt'ger Schatten mich umfange.[252]

SEKRETÄR.

O möchte doch das viele, das dir bleibt

Nach dem Verlust, als etwas dir erscheinen.

HERZOG.

Ein geistverlaßner, körperlicher Traum!

Sie war die Seele dieses ganzen Hauses.

Wie schwebte beim Erwachen sonst das Bild

Des holden Kindes dringend mir entgegen!

Hier fand ich oft ein Blatt von ihrer Hand,

Ein geistreich, herzlich Blatt, zum Morgengruß.

SEKRETÄR.

Wie drückte nicht der Wunsch, dich zu ergetzen,

Sich dichtrisch oft in frühen Reimen aus.

HERZOG.

Die Hoffnung, sie zu sehen, gab den Stunden

Des mühevollen Tags den einz'gen Reiz.

SEKRETÄR.

Wie oft bei Hindernis und Zögrung hat

Man ungeduldig, wie nach der Geliebten

Den raschen Jüngling, dich nach ihr gesehn.

HERZOG.

Vergleiche doch die jugendliche Glut,

Die selbstischen Besitz verzehrend hascht,

Nicht dem Gefühl des Vaters, der entzückt,

In heil'gem Anschaun stille hingegeben,

Sich an Entwicklung wunderbarer Kräfte,

Sich an der Bildung Riesenschritten freut.

Der Liebe Sehnsucht fordert Gegenwart;

Doch Zukunft ist des Vaters Eigentum.

Dort liegen seiner Hoffnung weite Felder,

Dort seiner Saaten keimender Genuß.

SEKRETÄR.

O Jammer! diese grenzenlose Wonne,

Dies ewig frische Glück verlorst du nun.

HERZOG.

Verlor ich's? War es doch im Augenblick

Vor meiner Seele noch im vollen Glanz.

Ja, ich verlor's! du rufst's, Unglücklicher,

Die öde Stunde ruft mir's wieder zu.

Ja, ich verlor's! So strömt, ihr Klagen, denn!

Zerstöre, Jammer, diesen festen Bau,

Den ein zu günstig Alter noch verschont.

Verhaßt sei mir das Bleibende, verhaßt,

Was mir in seiner Dauer Stolz erscheint,

Erwünscht, was fließt und schwankt. Ihr Fluten, schwellt,

Zerreißt die Dämme, wandelt Land in See![253]

Eröffne deine Schlünde, wildes Meer,

Verschlinge Schiff und Mann und Schätze! Weit

Verbreitet euch, ihr kriegerischen Reihen,

Und häuft auf blut'gen Fluren Tod auf Tod!

Entzünde, Strahl des Himmels, dich im Leeren

Und triff der kühnen Türme sichres Haupt!

Zertrümmr', entzünde sie und geißle weit

Im Stadtgedräng der Flamme Wut umher,

Daß ich, von allem Jammer rings umfangen,

Dem Schicksal mich ergebe, das mich traf!

SEKRETÄR.

Das ungeheuer Unerwartete

Bedrängt dich fürchterlich, erhabner Mann.

HERZOG.

Wohl unerwartet kam's, nicht ungewarnt.

In meinen Armen ließ ein guter Geist

Sie von den Toten wieder auferstehn

Und zeigte mir gelind, vorübereilend,

Ein Schreckliches, nun ewig Bleibendes.

Da sollt' ich strafen die Verwegenheit,

Dem Übermut mich scheltend widersetzen,

Verbieten jene Raserei, die, sich

Unsterblich, unverwundbar wähnend, blind,

Wetteifernd mit dem Vogel, sich durch Wald

Und Fluß und Sträuche von dem Felsen stürzt.

SEKRETÄR.

Was oft und glücklich unsre Besten tun,

Wie sollt' es dir des Unglücks Ahnung bringen?

HERZOG.

Die Ahnung dieser Leiden fühlt' ich wohl,

Als ich zum letztenmal – Zum letztenmal!

Du sprichst es aus, das fürchterliche Wort,

Das deinen Weg mit Finsternis umzieht.

O hätt' ich sie nur einmal noch gesehn!

Vielleicht war dieses Unglück abzuleiten.

Ich hätte flehentlich gebeten, sie als Vater

Zum treulichsten ermahnt, sich mir zu schonen

Und von der Wut tollkühner Reiterei

Um unsres Glückes willen abzustehn.

Ach, diese Stunde war mir nicht gegönnt.

Und nun vermiss' ich mein geliebtes Kind!

Sie ist dahin! Verwegner ward sie nur

Durch jenen Sturz, dem sie so leicht entrann.[254]

Und niemand, sie zu warnen, sie zu leiten!

Entwachsen war sie dieser Frauenzucht.

In welchen Händen ließ ich solchen Schatz?

Verzärtelnden, nachgieb'gen Weiberhänden.

Kein festes Wort, den Willen meines Kinds

Zu mäßiger Vernünftigkeit zu lenken!

Zur unbedingten Freiheit ließ man ihr,

Zu jedem kühnen Wagnis offnes Feld.

Ich fühlt' es oft und sagt' es mir nicht klar:

Bei diesem Weibe war sie schlecht verwahrt.

SEKRETÄR.

O! tadle nicht die Unglückselige!

Vom tiefsten Schmerz begleitet, irrt sie nun,

Wer weiß, in welche Lande, trostlos hin.

Sie ist entflohn. Denn wer vermöchte dir

Ins Angesicht zu sehen, der auch nur

Den fernsten Vorwurf zu befürchten hätte.

HERZOG.

O! laß mich ungerecht auf andre zürnen,

Daß ich mich nicht verzweifelnd selbst zerreiße.

Wohl trag' ich selbst die Schuld und trag' sie schwer.

Denn rief ich nicht mit törigem Beginnen

Gefahr und Tod auf dieses teure Haupt?

Sie überall zu sehn als Meisterin,

Das war mein Stolz! Zu teuer büß' ich ihn.

Zu Pferde sollte sie, im Wagen sie,

Die Rosse bändigend, als Heldin glänzen.

Ins Wasser tauchend, schwimmend, schien sie mir

Den Elementen göttlich zu gebieten.

So, hieß es, kann sie jeglicher Gefahr

Dereinst entgehen. Statt sie zu bewahren,

Gibt Übung zur Gefahr den Tod ihr nun.

SEKRETÄR.

Des edlen Pflichtgefühles Übung gibt,

Ach! unsrer Unvergeßlichen den Tod.

HERZOG.

Erkläre dich!

SEKRETÄR.

Und weck' ich diesen Schmerz

Durch Schildrung kindlich edlen Unternehmens?

Ihr alter, erster, hochgeliebter Freund

Und Lehrer wohnt von dieser Stadt entfernt,

Verschränkt in Trübsinn, Krankheit, Menschenhaß.

Nur sie allein vermocht' ihn zu erheitern;[255]

Als Leidenschaft empfand sie diese Pflicht;

Nur allzu oft verlangte sie hinüber,

Und oft versagte man's. Nun hatte sie's

Planmäßig angelegt: sie nutzte kühn

Des Morgenrittes abgemeßne Stunden

Mit ungeheurer Schnelligkeit, zum Zweck,

Den alten, vielgeliebten Mann zu sehn.

Ein einz'ger Reitknecht nur war im Geheimnis,

Er unterlegt' ihr jedesmal das Pferd,

Wie wir vermuten; denn auch er ist fort.

Der arme Mensch und jene Frau verloren

Aus Furcht vor dir sich in die weite Welt.

HERZOG.

Die Glücklichen, die noch zu fürchten haben,

Bei denen sich der Schmerz um ihres Herrn

Verlornes Heil in leicht verwundene,

In leicht gehobne Bangigkeit verwandelt!

Ich habe nichts zu fürchten! nichts zu hoffen!

Drum laß mich alles wissen; zeige mir

Den kleinsten Umstand an, ich bin gefaßt.


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 252-256.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die natürliche Tochter
Goethes Werke: Band III. Götz von Berlichingen. Egmont. Clavigo. Stella. Die Geschwister. Iphigenie auf Tauris. Torquato Tasso. Die natürliche Tochter

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Barfüßele

Barfüßele

Die Geschwister Amrei und Dami, Kinder eines armen Holzfällers, wachsen nach dem Tode der Eltern in getrennten Häusern eines Schwarzwalddorfes auf. Amrei wächst zu einem lebensfrohen und tüchtigen Mädchen heran, während Dami in Selbstmitleid vergeht und schließlich nach Amerika auswandert. Auf einer Hochzeit lernt Amrei einen reichen Bauernsohn kennen, dessen Frau sie schließlich wird und so ihren Bruder aus Amerika zurück auf den Hof holen kann. Die idyllische Dorfgeschichte ist sofort mit Erscheinen 1857 ein großer Erfolg. Der Roman erlebt über 40 Auflagen und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon