Erster Auftritt


[265] Eugenie, in einen Schleier gehüllt, auf einer Bank im Grunde, mit dem Gesicht nach der See. Hofmeisterin, Gerichtsrat im Vordergrunde.


HOFMEISTERIN.

Drängt unausweichlich ein betrübt Geschäft

Mich aus dem Mittelpunkt des Reiches, mich

Aus dem Bezirk der Hauptstadt an die Grenze

Des festen Lands, zu diesem Hafenplatz,

So folgt mir streng die Sorge, Schritt vor Schritt,

Und deutet mir bedenklich in die Weite.

Wie müssen Rat und Anteil eines Manns,

Der allen edel, zuverlässig gilt,

Mir als ein Leitstern wonniglich erscheinen!

Verzeih daher, wenn ich mit diesem Blatt,

Das mich zu solcher schweren Tat berechtigt,

Zu dir mich wendend komme, den so lange

Man im Gericht, wo viel Gerechte wirken,

Erst pries als Beistand, nun als Richter preist.

GERICHTSRAT der indessen das Blatt nachdenkend angesehen.

Nicht mein Verdienst, nur mein Bemühen war

Vielleicht zu preisen. Sonderbar jedoch

Will es mich dünken, daß du eben diesen,

Den du gerecht und edel nennen willst,

In solcher Sache fragen, ihm getrost

Solch ein Papier vors Auge bringen magst,

Worauf er nur mit Schauder blicken kann.

Nicht ist von Recht, noch von Gericht die Rede:

Hier ist Gewalt! entsetzliche Gewalt,

Selbst wenn sie klug, selbst wenn sie weise handelt.

Anheimgegeben ward ein edles Kind,

Auf Tod und Leben – sag' ich wohl zu viel? –,

Anheimgegeben deiner Willkür. Jeder,

Sei er Beamter, Kriegsmann, Bürger, alle[265]

Sind angewiesen, dich zu schützen, sie

Nach deines Worts Gesetzen zu behandeln.


Er gibt das Blatt zurück.


HOFMEISTERIN.

Auch hier beweise dich gerecht und laß

Nicht dies Papier allein als Kläger sprechen,

Auch mich, die hart Verklagte, höre nun

Und meinen offnen Vortrag günstig an.

Aus edlem Blut entsproß die Treffliche;

Von jeder Gabe, jeder Tugend schenkt'

Ihr die Natur den allerschönsten Teil,

Wenn das Gesetz ihr andre Rechte weigert.

Und nun verbannt! Ich sollte sie dem Kreise

Der Ihrigen entführen, sie hierher,

Hinüber nach den Inseln sie geleiten.

GERICHTSRAT.

Gewissem Tod entgegen, der im Qualm

Erhitzter Dünste schleichend überfällt.

Dort soll verwelken diese Himmelsblume,

Die Farbe dieser Wange dort verbleichen!

Verschwinden die Gestalt, die sich das Auge

Mit Sehnsucht immer zu erhalten wünscht.

HOFMEISTERIN.

Bevor du richtest, höre weiter an!

Unschuldig ist – bedarf es wohl Beteurung? –,

Doch vieler Übel Ursach dieses Kind.

Sie, als des Haders Apfel, warf ein Gott

Erzürnt ins Mittel zwischen zwei Parteien,

Die sich, auf ewig nun getrennt, bekämpfen.

Sie will der eine Teil zum höchsten Glück

Berechtigt wissen, wenn der andre sie

Hinabzudrängen strebt. Entschieden beide. –

Und so umschlang ein heimlich Labyrinth

Verschmitzten Wirkens doppelt ihr Geschick,

So schwankte List um List im Gleichgewicht,

Bis ungeduld'ge Leidenschaft zuletzt

Den Augenblick entschiedenen Gewinns

Beschleunigte. Da brach von beiden Seiten

Die Schranke der Verstellung, drang Gewalt,

Dem Staate selbst gefährlich drohend, los,

Und nun, sogleich der Schuld'gen Schuld zu hemmen,

Zu tilgen, trifft ein hoher Götterspruch[266]

Des Kampfs unschuld'gen Anlaß, meinen Zögling,

Und reißt, verbannend, mich mit ihm dahin.

GERICHTSRAT.

Ich schelte nicht das Werkzeug, rechte kaum

Mit jenen Mächten, die sich solche Handlung

Erlauben können. Leider sind auch sie

Gebunden und gedrängt. Sie wirken selten

Aus freier Überzeugung. Sorge, Furcht

Vor größerm Übel nötiget Regenten

Die nützlich ungerechten Taten ab.

Vollbringe, was du mußt, entferne dich

Aus meiner Enge reingezognem Kreis.

HOFMEISTERIN.

Den eben such' ich auf! da dring' ich hin!

Dort hoff' ich Heil! du wirst mich nicht verstoßen.

Den werten Zögling wünscht' ich lange schon

Vom Glück zu überzeugen, das im Kreise

Des Bürgerstandes hold genügsam weilt.

Entsagte sie der nicht gegönnten Höhe,

Ergäbe sich des biedern Gatten Schutz

Und wendete von jenen Regionen,

Wo sie Gefahr, Verbannung, Tod umlauern,

Ins Häusliche den liebevollen Blick:

Gelöst wär' alles, meiner strengen Pflicht

Wär' ich entledigt, könnt' im Vaterland

Vertrauter Stunden mich verweilend freuen.

GERICHTSRAT.

Ein sonderbar Verhältnis zeigst du mir!

HOFMEISTERIN.

Dem klug entschloßnen Manne zeig' ich's an.

GERICHTSRAT.

Du gibst sie frei, wenn sich ein Gatte findet?

HOFMEISTERIN.

Und reichlich ausgestattet geb ich sie.

GERICHTSRAT.

So übereilt, wer dürfte sich entschließen?

HOFMEISTERIN.

Nur übereilt bestimmt die Neigung sich.

GERICHTSRAT.

Die Unbekannte wählen wäre Frevel.

HOFMEISTERIN.

Dem ersten Blick ist sie gekannt und wert.

GERICHTSRAT.

Der Gattin Feinde drohen auch dem Gatten.

HOFMEISTERIN.

Versöhnt ist alles, wenn sie Gattin heißt.

GERICHTSRAT.

Und ihr Geheimnis, wird man's ihm entdecken?

HOFMEISTERIN.

Vertrauen wird man dem Vertrauenden.

GERICHTSRAT.

Und wird sie frei solch einen Bund erwählen?[267]

HOFMEISTERIN.

Ein großes Übel dränget sie zur Wahl.

GERICHTSRAT.

In solchem Fall zu werben, ist es redlich?

HOFMEISTERIN.

Der Rettende faßt an und klügelt nicht.

GERICHTSRAT.

Was forderst du vor allen andern Dingen?

HOFMEISTERIN.

Entschließen soll sie sich im Augenblick.

GERICHTSRAT.

Ist euer Schicksal ängstlich so gesteigert?

HOFMEISTERIN.

Im Hafen regt sich emsig schon die Fahrt.

GERICHTSRAT.

Hast du ihr früher solchen Bund geraten?

HOFMEISTERIN.

Im allgemeinen deutet ich dahin.

GERICHTSRAT.

Entfernte sie unwillig den Gedanken?

HOFMEISTERIN.

Noch war das alte Glück ihr allzu nah.

GERICHTSRAT.

Die schönen Bilder, werden sie entweichen?

HOFMEISTERIN.

Das hohe Meer hat sie hinweggeschreckt.

GERICHTSRAT.

Sie fürchtet, sich vom Vaterland zu trennen?

HOFMEISTERIN.

Sie fürchtet's, und ich fürcht' es wie den Tod.

O laß uns, Edler, glücklich Aufgefundner,

Vergebne Worte nicht bedenklich wechseln!

Noch lebt in dir, dem Jüngling, jede Tugend,

Die mächt'gen Glaubens, unbedingter Liebe

Zu nie genug geschätzter Tat bedarf.

Gewiß umgibt ein schöner Kreis dich auch

Von Ähnlichen – von Gleichen sag' ich nicht!

O sieh dich um in deinem eignen Herzen,

In deiner Freunde Herzen sieh umher,

Und findest du ein überfließend Maß

Von Liebe, von Ergebung, Kraft und Mut,

So werde dem Verdientesten dies Kleinod

Mit stillem Segen heimlich übergeben!

GERICHTSRAT.

Ich weiß, ich fühle deinen Zustand, kann

Und mag nicht mit mir selbst bedächtig erst,

Wie Klugheit forderte, zu Rate gehn!

Ich will sie sprechen.

HOFMEISTERIN tritt zurück gegen Eugenien.

GERICHTSRAT.

Was geschehen soll,

Es wird geschehn! In ganz gemeinen Dingen

Hängt viel von Wahl und Wollen ab; das Höchste,

Was uns begegnet, kommt wer weiß woher.[268]


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 265-269.
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