Triumph der Tugend

[19] Erste Erzählung


Von stiller Wollust eingeladen,

Drang in den Tempel der Dryaden

Mit seinem Mädchen Daphnis ein,

Um zärtlich ohnbemerkt zu sein.

Des Taxus Nacht umgab den Fuß der Eichen,

Nur Vögel hüpften auf den Zweigen,

Rings um sie her lag feierliches Schweigen,

Als wären sie auf dieser Welt allein.


Sie saßen tändelnd in dem Kühlen.

Allein, dem Herzen nah, das uns so zärtlich liebt –

Wem Amor solch ein Glücke gibt,

Wird der nicht mehr als sonsten fühlen?

Und unser Paar fing bald an, mehr zu fühlen.


Des Mädchens zärtlich Herz lag ganz in ihrem Blicke,

Halb lächelnd nennt sie ihn ihr bestes, größtes Glücke.

Sein Herz, von heißem Blut erfüllt,

Drückt sich an ihrs, läßt nach, drückt wieder;

Und wenn das Blut einmal von Liebe schwillt,

Reißt es gar leicht der Ehrfurcht Grenzen nieder.


Konnt Daphnis wohl dem Reiz des Busens widerstehn?

Bei jedem Kuß durchglüht' ihn neues Feuer,

Bei jedem Kusse ward er freier,

Und sie – und sie – ließ es geschehn.
[19]

Der Schäfer fühlt ein taumelndes Entzücken,

Und da sie schweigt, da jetzt in ihren Blicken

Anstatt der Munterkeit ein sanfter Kummer liegt,

Glaubt er sie auf dem Grad von feurigen Entzücken,

Wo man die Mädchen leicht besiegt.


Sie war an seine Brust gesunken,

Und er zuletzt, von Wollust trunken,

Erbat sich, Amor, Sieg von dir.

Doch schnell entriß sie sich den Armen,

Die sie umfaßten: »Aus Erbarmen«,

Rief sie, »komm, eile weg von hier.«

Bestürzt und zitternd folgt er ihr.


Da sprach sie zärtlich: »Laß nicht mehr

Dich die Gelegenheit verführen;

O Freund, ich liebe dich zu sehr,

Um dich unwürdig zu verlieren.«


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 2, Berlin 1960 ff, S. 19-20.
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