Ilmenau

[371] am 3. September 1783


Anmutig Tal! du immergrüner Hain!

Mein Herz begrüßt euch wieder auf das beste;

Entfaltet mir die schwer behangnen Äste,

Nehmt freundlich mich in eure Schatten ein,

Erquickt von euren Höhn, am Tag der Lieb und Lust,

Mit frischer Luft und Balsam meine Brust!


Wie kehrt ich oft mit wechselndem Geschicke,

Erhabner Berg, an deinen Fuß zurücke.

O laß mich heut an deinen sachten Höhn

Ein jugendlich, ein neues Eden sehn!

Ich hab es wohl auch mit um euch verdienet:

Ich sorge still, indes ihr ruhig grünet.


Laßt mich vergessen, daß auch hier die Welt

So manch Geschöpf in Erdefesseln hält,

Der Landmann leichtem Sand den Samen anvertraut

Und seinen Kohl dem frechen Wilde baut,

Der Knappe karges Brot in Klüften sucht,

Der Köhler zittert, wenn der Jäger flucht.

Verjüngt euch mir, wie ihr es oft getan,

Als fing' ich heut ein neues Leben an.


Ihr seid mir hold, ihr gönnt mir diese Träume,

Sie schmeicheln mir und locken alte Reime.

Mir wieder selbst, von allen Menschen fern,

Wie bad ich mich in euren Duften gern![371]

Melodisch rauscht die hohe Tanne wieder,

Melodisch eilt der Wasserfall hernieder;

Die Wolke sinkt, der Nebel drückt ins Tal,

Und es ist Nacht und Dämmrung auf einmal.


Im finstern Wald, beim Liebesblick der Sterne,

Wo ist mein Pfad, den sorglos ich verlor?

Welch seltne Stimmen hör ich in der Ferne?

Sie schallen wechselnd an dem Fels empor.

Ich eile sacht, zu sehn, was es bedeutet,

Wie von des Hirsches Ruf der Jäger still geleitet.


Wo bin ich? ist's ein Zaubermärchenland?

Welch nächtliches Gelag am Fuß der Felsenwand?

Bei kleinen Hütten, dicht mit Reis bedecket,

Seh ich sie froh ans Feuer hingestrecket.

Es dringt der Glanz hoch durch den Fichtensaal;

Am niedern Herde kocht ein rohes Mahl;

Sie scherzen laut, indessen, bald geleeret,

Die Flasche frisch im Kreise wiederkehret.


Sagt, wem vergleich ich diese muntre Schar?

Von wannen kommt sie? um wohin zu ziehen?

Wie ist an ihr doch alles wunderbar! Soll ich sie grüßen?

Soll ich vor ihr fliehen?

Ist es der Jäger wildes Geisterheer?

Sind's Gnomen, die hier Zauberkünste treiben?

Ich seh im Busch der kleinen Feuer mehr;

Es schaudert mich, ich wage kaum zu bleiben.

Ist's der Ägyptier verdächtiger Aufenthalt?

Ist es ein flüchtiger Fürst wie im Ardennerwald?

Soll ich Verirrter hier in den verschlungnen Gründen

Die Geister Shakespeares gar verkörpert finden?

Ja, der Gedanke führt mich eben recht:

Sie sind es selbst, wo nicht ein gleich Geschlecht!

Unbändig schwelgt ein Geist in ihrer Mitten,

Und durch die Roheit fühl ich edle Sitten.
[372]

Wie nennt ihr ihn? Wer ist's, der dort gebückt

Nachlässig stark die breiten Schultern drückt?

Er sitzt zunächst gelassen an der Flamme,

Die markige Gestalt aus altem Heldenstamme.

Er saugt begierig am geliebten Rohr,

Es steigt der Dampf an seiner Stirn empor.

Gutmütig trocken weiß er Freud und Lachen

Im ganzen Zirkel laut zu machen,

Wenn er mit ernstlichem Gesicht

Barbarisch bunt in fremder Mundart spricht.


Wer ist der andre, der sich nieder

An einen Sturz des alten Baumes lehnt

Und seine langen, feingestalten Glieder

Ekstatisch faul nach allen Seiten dehnt

Und, ohne daß die Zecher auf ihn hören,

Mit Geistesflug sich in die Höhe schwingt

Und von dem Tanz der himmelhohen Sphären

Ein monotones Lied mit großer Inbrunst singt?


Doch scheinet allen etwas zu gebrechen.

Ich höre sie auf einmal leise sprechen,

Des Jünglings Ruhe nicht zu unterbrechen,

Der dort am Ende, wo das Tal sich schließt,

In einer Hütte, leicht gezimmert,

Vor der ein letzter Blick des kleinen Feuers schimmert,

Vom Wasserfall umrauscht, des milden Schlafs genießt.

Mich treibt das Herz, nach jener Kluft zu wandern,

Ich schleiche still und scheide von den andern.


Sei mir gegrüßt, der hier in später Nacht

Gedankenvoll an dieser Schwelle wacht!

Was sitzest du entfernt von jenen Freuden?

Du scheinst mir auf was Wichtiges bedacht.

Was ist's, daß du in Sinnen dich verlierest

Und nicht einmal dein kleines Feuer schürest?
[373]

»O frage nicht! denn ich bin nicht bereit,

Des Fremden Neugier leicht zu stillen;

Sogar verbitt ich deinen guten Willen;

Hier ist zu schweigen und zu leiden Zeit.

Ich bin dir nicht imstande, selbst zu sagen,

Woher ich sei, wer mich hierher gesandt;

Von fremden Zonen bin ich her verschlagen

Und durch die Freundschaft festgebannt.


Wer kennt sich selbst? Wer weiß, was er vermag?

Hat nie der Mutige Verwegnes unternommen?

Und was du tust, sagt erst der andre Tag,

War es zum Schaden oder Frommen.

Ließ nicht Prometheus selbst die reine Himmelsglut

Auf frischen Ton vergötternd niederfließen?

Und konnt er mehr als irdisch Blut

Durch die belebten Adern gießen?

Ich brachte reines Feuer vom Altar;

Was ich entzündet, ist nicht reine Flamme.

Der Sturm vermehrt die Glut und die Gefahr,

Ich schwanke nicht, indem ich mich verdamme.


Und wenn ich unklug Mut und Freiheit sang

Und Redlichkeit und Freiheit sonder Zwang,

Stolz auf sich selbst und herzliches Behagen,

Erwarb ich mir der Menschen schöne Gunst:

Doch ach! ein Gott versagte mir die Kunst,

Die arme Kunst, mich künstlich zu betragen.

Nun sitz ich hier, zugleich erhoben und gedrückt,

Unschuldig und gestraft, und schuldig und beglückt.


Doch rede sacht! denn unter diesem Dach

Ruht all mein Wohl und all mein Ungemach:

Ein edles Herz, vom Wege der Natur

Durch enges Schicksal abgeleitet,[374]

Das, ahnungsvoll, nun auf der rechten Spur

Bald mit sich selbst und bald mit Zauberschatten streitet

Und, was ihm das Geschick durch die Geburt geschenkt,

Mit Müh und Schweiß erst zu erringen denkt.

Kein liebevolles Wort kann seinen Geist enthüllen

Und kein Gesang die hohen Wogen stillen.


Wer kann der Raupe, die am Zweige kriecht,

Von ihrem künft'gen Futter sprechen?

Und wer der Puppe, die im Boden liegt,

Die zarte Schale helfen durchzubrechen?

Es kommt die Zeit, sie drängt sich selber los

Und eilt auf Fittichen der Rose in den Schoß.


Gewiß, ihm geben auch die Jahre

Die rechte Richtung seiner Kraft.

Noch ist bei tiefer Neigung für das Wahre

Ihm Irrtum eine Leidenschaft.

Der Vorwitz lockt ihn in die Weite,

Kein Fels ist ihm zu schroff, kein Steg zu schmal;

Der Unfall lauert an der Seite

Und stürzt ihn in den Arm der Qual.

Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung

Gewaltsam ihn bald da, bald dort hinaus,

Und von unmutiger Bewegung

Ruht er unmutig wieder aus.

Und düster wild an heitern Tagen,

Unbändig, ohne froh zu sein,

Schläft er, an Seel und Leib verwundet und zerschlagen,

Auf einem harten Lager ein:

Indessen ich hier still und atmend kaum

Die Augen zu den freien Sternen kehre

Und, halb erwacht und halb im schweren Traum,

Mich kaum des schweren Traums erwehre.«
[375]

Verschwinde, Traum!


Wie dank ich, Musen, euch,

Daß ihr mich heut auf einen Pfad gestellet,

Wo auf ein einzig Wort die ganze Gegend gleich

Zum schönsten Tage sich erhellet!

Die Wolke flieht, der Nebel fällt,

Die Schatten sind hinweg. Ihr Götter, Preis und Wonne!

Es leuchtet mir die wahre Sonne,

Es lebt mir eine schönre Welt;

Das ängstliche Gesicht ist in die Luft zerronnen,

Ein neues Leben ist's, es ist schon lang begonnen.


Ich sehe hier, wie man nach langer Reise

Im Vaterland sich wiederkennt,

Ein ruhig Volk in stillem Fleiße

Benutzen, was Natur an Gaben ihm gegönnt.

Der Faden eilet von dem Rocken

Des Webers raschem Stuhle zu;

Und Seil und Kübel wird in längrer Ruh

Nicht am verbrochnen Schachte stocken;

Es wird der Trug entdeckt, die Ordnung kehrt zurück,

Es folgt Gedeihn und festes ird'sches Glück.


So mög, o Fürst, der Winkel deines Landes

Ein Vorbild deiner Tage sein!

Du kennest lang die Pflichten deines Standes

Und schränkest nach und nach die freie Seele ein.

Der kann sich manchen Wunsch gewähren,

Der kalt sich selbst und seinem Willen lebt;

Allein wer andre wohl zu leiten strebt,

Muß fähig sein, viel zu entbehren.


So wandle du – der Lohn ist nicht gering –

Nicht schwankend hin, wie jener Sämann ging,

Daß bald ein Korn, des Zufalls leichtes Spiel,

Hier auf den Weg, dort zwischen Dornen fiel;[376]

Nein! streue klug wie reich, mit männlich steter Hand,

Den Segen aus auf ein geackert Land;

Dann laß es ruhn: die Ernte wird erscheinen

Und dich beglücken und die Deinen.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 371-377.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827)
Gedichte
Sämtliche Gedichte
Goethes schönste Gedichte (Insel Bücherei)
Wie herrlich leuchtet mir die Natur: Gedichte und Bilder (Insel Bücherei)
Allen Gewalten Zum Trutz sich erhalten: Gedichte und Bilder (Insel Bücherei)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Zwei Schwestern

Zwei Schwestern

Camilla und Maria, zwei Schwestern, die unteschiedlicher kaum sein könnten; eine begnadete Violinistin und eine hemdsärmelige Gärtnerin. Als Alfred sich in Maria verliebt, weist diese ihn ab weil sie weiß, dass Camilla ihn liebt. Die Kunst und das bürgerliche Leben. Ein Gegensatz, der Stifter zeit seines Schaffens begleitet, künstlerisch wie lebensweltlich, und in dieser Allegorie erneuten Ausdruck findet.

114 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon