Der König in Thule

[118] Es war ein König in Thule

Gar treu bis an das Grab,

Dem sterbend seine Buhle

Einen goldnen Becher gab.


Es ging ihm nichts darüber,

Er leert' ihn jeden Schmaus;

Die Augen gingen ihm über,

Sooft er trank daraus.


Und als er kam zu sterben,

Zählt' er seine Städt im Reich,

Gönnt' alles seinem Erben,

Den Becher nicht zugleich.


Er saß beim Königsmahle,

Die Ritter um ihn her,

Auf hohem Vätersaale,

Dort auf dem Schloß am Meer.


Dort stand der alte Zecher,

Trank letzte Lebensglut,

Und warf den heil'gen Becher

Hinunter in die Flut.


Er sah ihn stürzen, trinken

Und sinken tief ins Meer.

Die Augen täten ihm sinken;

Trank nie einen Tropfen mehr.
[118]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 118-119.
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