Der Schatzgräber

[125] Arm am Beutel, krank am Herzen,

Schleppt ich meine langen Tage.

Armut ist die größte Plage,

Reichtum ist das höchste Gut!

Und zu enden meine Schmerzen,

Ging ich, einen Schatz zu graben.

»Meine Seele sollst du haben!«

Schrieb ich hin mit eignem Blut.


Und so zog ich Kreis' um Kreise,

Stellte wunderbare Flammen,[125]

Kraut und Knochenwerk zusammen:

Die Beschwörung war vollbracht.

Und auf die gelernte Weise

Grub ich nach dem alten Schatze

Auf dem angezeigten Platze:

Schwarz und stürmisch war die Nacht.


Und ich sah ein Licht von weiten,

Und es kam gleich einem Sterne

Hinten aus der fernsten Ferne,

Eben als es zwölfe schlug.

Und da galt kein Vorbereiten.

Heller ward's mit einem Male

Von dem Glanz der vollen Schale,

Die ein schöner Knabe trug.


Holde Augen sah ich blinken

Unter dichtem Blumenkranze;

In des Trankes Himmelsglanze

Trat er in den Kreis herein.

Und er hieß mich freundlich trinken;

Und ich dacht: Es kann der Knabe

Mit der schönen, lichten Gabe

Wahrlich nicht der Böse sein.


»Trinke Mut des reinen Lebens!

Dann verstehst du die Belehrung,

Kommst, mit ängstlicher Beschwörung,

Nicht zurück an diesen Ort.

Grabe hier nicht mehr vergebens.

Tages Arbeit! Abends Gäste!

Saure Wochen! Frohe Feste!

Sei dein künftig Zauberwort.«
[126]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 125-127.
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