Der untreue Knabe

[114] Es war ein Knabe frech genung,

War erst aus Frankreich kommen,

Der hatt ein armes Mädel jung

Gar oft in Arm genommen

Und liebgekost und liebgeherzt,

Als Bräutigam herumgescherzt,

Und endlich sie verlassen.


Das braune Mädel das erfuhr,

Vergingen ihr die Sinnen,

Sie lacht' und weint' und bet' und schwur;

So fuhr die Seel von hinnen.

Die Stund, da sie verschieden war,

Wird bang dem Buben, graust sein Haar,

Es treibt ihn fort zu Pferde.


Er gab die Sporen kreuz und quer

Und ritt auf alle Seiten,

Herüber, hinüber, hin und her,

Kann keine Ruh erreiten,

Reit' sieben Tag und sieben Nacht;

Es blitzt und donnert, stürmt und kracht,

Die Fluten reißen über.
[114]

Und reit' in Blitz und Wetterschein

Gemäuerwerk entgegen,

Bindt 's Pferd hauß an und kriecht hinein

Und duckt sich vor dem Regen.

Und wie er tappt und wie er fühlt,

Sich unter ihm die Erd erwühlt;

Er stürzt wohl hundert Klafter.


Und als er sich ermannt vom Schlag,

Sieht er drei Lichtlein schleichen.

Er rafft sich auf und krabbelt nach;

Die Lichtlein ferne weichen;

Irrführen ihn die Quer und Läng,

Treppauf, treppab, durch enge Gäng,

Verfallne, wüste Keller.


Auf einmal steht er hoch im Saal,

Sieht sitzen hundert Gäste,

Hohläugig grinsen allzumal

Und winken ihm zum Feste.

Er sieht sein Schätzel untenan

Mit weißen Tüchern angetan,

Die wendt sich –


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 114-115.
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