Dauer im Wechsel

[83] Hielte diesen frühen Segen,

Ach, nur eine Stunde fest!

Aber vollen Blütenregen

Schüttelt schon der laue West.

Soll ich mich des Grünen freuen,

Dem ich Schatten erst verdankt?

Bald wird Sturm auch das zerstreuen,

Wenn es falb im Herbst geschwankt.


Willst du nach den Früchten greifen,

Eilig nimm dein Teil davon!

Diese fangen an zu reifen,

Und die andern keimen schon;

Gleich mit jedem Regengusse

Ändert sich dein holdes Tal,[83]

Ach, und in demselben Flusse

Schwimmst du nicht zum zweitenmal.


Du nun selbst! Was felsenfeste

Sich vor dir hervorgetan,

Mauern siehst du, siehst Paläste

Stets mit andern Augen an.

Weggeschwunden ist die Lippe,

Die im Kusse sonst genas,

Jener Fuß, der an der Klippe

Sich mit Gemsenfreche maß.


Jene Hand, die gern und milde

Sich bewegte, wohlzutun,

Das gegliederte Gebilde,

Alles ist ein andres nun.

Und was sich an jener Stelle

Nun mit deinem Namen nennt,

Kam herbei wie eine Welle,

Und so eilt's zum Element.


Laß den Anfang mit dem Ende

Sich in eins zusammenziehn!

Schneller als die Gegenstände

Selber dich vorüberfliehn!

Danke, daß die Gunst der Musen

Unvergängliches verheißt,

Den Gehalt in deinem Busen

Und die Form in deinem Geist.
[84]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 83-85.
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