Offne Tafel

[95] Viele Gäste wünsch ich heut

Mir zu meinem Tische!

Speisen sind genug bereit,

Vögel, Wild und Fische.

Eingeladen sind sie ja,

Haben's angenommen.

Hänschen, geh und sieh dich um!

Sieh mir, ob sie kommen!


Schöne Kinder hoff ich nun,

Die von gar nichts wissen,

Nicht, daß es was Hübsches sei,

Einen Freund zu küssen.

Eingeladen sind sie all,

Haben's angenommen.[95]

Hänschen, geh und sieh dich um!

Sieh mir, ob sie kommen!


Frauen denk ich auch zu sehn,

Die den Ehegatten,

Ward er immer brummiger,

Immer lieber hatten.

Eingeladen wurden sie,

Haben's angenommen.

Hänschen, geh und sieh dich um!

Sieh mir, ob sie kommen!


Junge Herrn berief ich auch,

Nicht im mindsten eitel,

Die sogar bescheiden sind

Mit gefülltem Beutel;

Diese bat ich sonderlich,

Haben's angenommen.

Hänschen, geh und sieh dich um!

Sieh mir, ob sie kommen!


Männer lud ich mit Respekt,

Die auf ihre Frauen

Ganz allein, nicht nebenaus

Auf die schönste schauen.

Sie erwiderten den Gruß,

Haben's angenommen.

Hänschen, geh und sieh dich um!

Sieh mir, ob sie kommen!


Dichter lud ich auch herbei,

Unsre Lust zu mehren,

Die weit lieber ein fremdes Lied

Als ihr eignes hören.

Alle diese stimmten ein,

Haben's angenommen.[96]

Hänschen, geh und sieh dich um!

Sieh mir, ob sie kommen!


Doch ich sehe niemand gehn,

Sehe niemand rennen!

Suppe kocht und siedet ein,

Braten will verbrennen.

Ach, wir haben's, fürcht ich nun,

Zu genau genommen!

Hänschen, sag, was meinst du wohl?

Es wird niemand kommen.


Hänschen, lauf und säume nicht,

Ruf mir neue Gäste!

Jeder komme, wie er ist,

Das ist wohl das beste!

Schon ist's in der Stadt bekannt,

Wohl ist's aufgenommen.

Hänschen, mach die Türen auf:

Sieh nur, wie sie kommen!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 95-97.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827)
Gedichte
Sämtliche Gedichte
Goethes schönste Gedichte (Insel Bücherei)
Wie herrlich leuchtet mir die Natur: Gedichte und Bilder (Insel Bücherei)
Allen Gewalten Zum Trutz sich erhalten: Gedichte und Bilder (Insel Bücherei)

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Cleopatra. Trauerspiel

Cleopatra. Trauerspiel

Nach Caesars Ermordung macht Cleopatra Marcus Antonius zur ihrem Geliebten um ihre Macht im Ptolemäerreichs zu erhalten. Als der jedoch die Seeschlacht bei Actium verliert und die römischen Truppen des Octavius unaufhaltsam vordrängen verleitet sie Antonius zum Selbstmord.

212 Seiten, 10.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon