Die Weisen und die Leute

[557] Epimenides


Kommt, Brüder! sammelt euch im Hain,

Schon drängt das Volk, es strömt herein,

Von Nord, Süd, West und Osten.

Sie möchten gern belehret sein,

Doch soll's nicht Mühe kosten:

Ich bitt euch, haltet euch bereit,

Ihm derb den Text zu lesen.


Die Leute


Ihr Grillenfänger sollt uns heut

Zu Rede stehn, mit Deutlichkeit

Und nicht mit dunklem Wesen.

Sagt! – Ist die Welt von Ewigkeit?


Anaxagoras


Ich glaub es: denn zu jeder Zeit,

Wo sie noch nicht gewesen,

Das wäre schade gewesen.


Die Leute


Doch ob der Untergang ihr dräut?


Anaximenes


Vermutlich! doch mir ist's nicht leid:

Denn bleibt nur Gott in Ewigkeit,

Wird's nie an Welten fehlen.


Die Leute


Allein was ist Unendlichkeit?


Parmenides


Wie kannst du so dich quälen!

Geh in dich selbst! Entbehrst du drin[557]

Unendlichkeit in Geist und Sinn,

So ist dir nicht zu helfen.


Die Leute


Wo denken und wie denken wir?


Diogenes


So hört doch auf zu belfen!

Der Denker denkt vom Hut zum Schuh,

Und ihm gerät in Blitzes Nu

Das Was, das Wie, das Beste.


Die Leute


Haust wirklich eine Seel in mir?


Mimnermus


Das frage deine Gäste.

Denn, siehst du, ich gestehe dir:

Das artige Wesen, das, entzückt,

Sich selbst und andre gern beglückt,

Das möcht ich Seele nennen.


Die Leute


Liegt auch bei Nacht der Schlaf auf ihr?


Periander


Kann sich von dir nicht trennen.

Es kommt auf dich, du Körper, an!

Hast du dir leiblich wohlgetan,

Wird sie erquicklich ruhen.


Die Leute


Was ist der sogenannte Geist?


Kleobulus


Was man so Geist gewöhnlich heißt,

Antwortet, aber fragt nicht.


[558] Die Leute


Erkläre mir, was glücklich heißt!


Krates


Das nackte Kind, das zagt nicht;

Mit seinem Pfennig springt es fort

Und kennt recht gut den Semmelort,

Ich meine des Bäckers Laden.


Die Leute


Sprich! wer Unsterblichkeit beweist?


Aristipp


Den rechten Lebensfaden

Spinnt einer, der lebt und leben läßt,

Er drille zu, er zwirne fest,

Der liebe Gott wird weifen.


Die Leute


Ist's besser törig oder klug?


Demokrit


Das läßt sich auch begreifen.

Hält sich der Narr für klug genug,

So gönnt es ihm der Weise.


Die Leute


Herrscht Zufall bloß und Augentrug?


Epikur


Ich bleib in meinem Gleise.

Den Zufall bändige zum Glück,

Ergetz am Augentrug den Blick;

Hast Nutz und Spaß von beiden.


Die Leute


Ist unsre Willensfreiheit Lug?


[559] Zeno


Es kommt drauf an zu wagen.

Nur halte deinen Willen fest,

Und gehst du auch zugrund zuletzt,

So hat's nicht viel zu sagen.


Die Leute


Kam ich als böse schon zur Welt?


Pelagius


Man muß dich wohl ertragen.

Du brachtest aus der Mutter Schoß

Fürwahr ein unerträglich Los:

Gar ungeschickt zu fragen.


Die Leute


Ist Beßrungstrieb uns zugesellt?


Plato


Wär Beßrung nicht die Lust der Welt,

So würdest du nicht fragen.

Mit dir versuch erst umzugehn,

Und kannst du dich nicht selbst verstehn,

So quäl nicht andre Leute.


Die Leute


Doch herrschen Eigennutz und Geld!


Epiktet


Laß ihnen doch die Beute!

Die Rechenpfennige der Welt

Mußt du ihr nicht beneiden.


[560] Die Leute


So sag, was uns mit Recht gefällt,

Eh wir auf immer scheiden!


Die Weisen


Mein erst Gesetz ist, in der Welt

Die Frager zu vermeiden.
[561]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 557-563.
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