Deutscher Parnaß

[287] Unter diesen

Lorbeerbüschen,

Auf den Wiesen,

An den frischen

Wasserfällen

Meines Lebens zu genießen,

Gab Apoll dem heitern Knaben;

Und so haben Mich, im stillen,

Nach des Gottes hohem Willen

Hehre Musen auferzogen,

Aus den hellen Silberquellen

Des Parnassus mich erquicket

Und das keusche, reine Siegel

Auf die Lippen mir gedrücket.


Und die Nachtigall umkreiset

Mich mit dem bescheidnen Flügel.

Hier in Büschen, dort auf Bäumen

Ruft sie die verwandte Menge,

Und die himmlischen Gesänge

Lehren mich von Liebe träumen.


Und im Herzen wächst die Fülle

Der gesellig edlen Triebe,

Nährt sich Freundschaft, keimet Liebe,

Und Apoll belebt die Stille[287]

Seiner Täler, seiner Höhen.

Süße, laue Lüfte wehen.

Alle, denen er gewogen,

Werden mächtig angezogen,

Und ein Edler folgt dem andern.


Dieser kommt mit munterm Wesen

Und mit offnem, heitrem Blicke;

Diesen seh ich ernster wandeln;

Und ein andrer, kaum genesen,

Ruft die alte Kraft zurücke;

Denn ihm drang durch Mark und Leben

Die verderblich holde Flamme,

Und was Amor ihm entwendet,

Kann Apoll nur wiedergeben,

Ruh und Lust und Harmonien

Und ein kräftig rein Bestreben.


Auf, ihr Brüder, Ehrt die Lieder!

Sie sind gleich den guten Taten.

Wer kann besser als der Sänger

Dem verirrten Freunde raten?

Wirke gut, so wirkst du länger,

Als es Menschen sonst vermögen.


Ja! ich höre sie von weiten:

Ja! sie greifen in die Saiten,

Mit gewalt'gen Götterschlägen

Rufen sie zu Recht und Pflichten

Und bewegen,

Wie sie singen, wie sie dichten,

Zum erhabensten Geschäfte,

Zu der Bildung aller Kräfte.
[288]

Auch die holden Phantasien

Blühen

Ringsumher auf allen Zweigen,

Die sich balde,

Wie im holden Zauberwalde,

Voller goldnen Früchte beugen.


Was wir fühlen, was wir schauen

In dem Land der höchsten Wonne,

Dieser Boden, diese Sonne

Locket auch die besten Frauen.

Und der Hauch der lieben Musen

Weckt des Mädchens zarten Busen,

Stimmt die Kehle zum Gesange,

Und mit schön gefärbter Wange

Singet sie schon würd'ge Lieder,

Setzt sich zu den Schwestern nieder,

Und es singt die schöne Kette

Zart und zärter, um die Wette.


Doch die eine

Geht alleine

Bei den Buchen,

Unter Linden,

Dort zu suchen,

Dort zu finden,

Was im stillen Myrtenhaine

Amor schalkisch ihr entwendet,

Ihres Herzens holde Stille,

Ihres Busens erste Fülle.

Und sie träget in die grünen

Schattenwälder,

Was die Männer nicht verdienen,

Ihre lieblichen Gefühle;

Scheuet nicht des Tages Schwüle,

Achtet nicht des Abends Kühle[289]

Und verliert sich in die Felder.

Stört sie nicht auf ihren Wegen!

Muse, geh ihr still entgegen!


Doch was hör ich? Welch ein Schall

Überbraust den Wasserfall?

Sauset heftig durch den Hain?

Welch ein Lärmen, welch ein Schrein?

Ist es möglich, seh ich recht?

Ein verwegenes Geschlecht

Dringt ins Heiligtum herein.


Hier hervor

Strömt ein Chor!

Liebeswut,

Weinesglut

Rast im Blick,

Sträubt das Haar!

Und die Schar,

Mann und Weib –

Tigerfell

Schlägt umher –

Ohne Scheu

Zeigt den Leib.

Und Metall,

Rauher Schall,

Grellt ins Ohr.

Wer sie hört,

Wird gestört.

Hier hervor

Drängt das Chor;

Alles flieht,

Wer sie sieht.
[290]

Ach, die Büsche sind geknickt!

Ach, die Blumen sind erstickt

Von den Sohlen dieser Brut.

Wer begegnet ihrer Wut?


Brüder, laßt uns alles wagen!

Eure reine Wange glüht.

Phöbus hilft sie uns verjagen,

Wenn er unsre Schmerzen sieht;

Und uns Waffen

Zu verschaffen,

Schüttert er des Berges Wipfel,

Und vom Gipfel

Prasseln Steine

Durch die Haine.

Brüder, faßt sie mächtig auf!

Schloßenregen

Ströme dieser Brut entgegen

Und vertreib aus unsern milden,

Himmelreinen Lustgefilden

Diese Fremden, diese Wilden!


Doch was seh ich?

Ist es möglich?

Unerträglich

Fährt es mir durch alle Glieder,

Und die Hand

Sinket von dem Schwunge nieder.

Ist es möglich?

Keine Fremden!

Unsre Brüder

Zeigen ihnen selbst die Wege!

O die Frechen!

Wie sie mit den Klapperblechen

Selbst voraus im Takte ziehn!

Gute Brüder, laßt uns fliehn!
[291]

Doch ein Wort zu den Verwegnen!

Ja, ein Wort soll euch begegnen,

Kräftig wie ein Donnerschlag.

Worte sind des Dichters Waffen;

Will der Gott sich Recht verschaffen,

Folgen seine Pfeile nach.


War es möglich, eure hohe

Götterwürde

Zu vergessen! Ist der rohe,

Schwere Thyrsus keine Bürde

Für die Hand, auf zarten Saiten

Nur gewöhnet hinzugleiten?

Aus den klaren Wasserfällen,

Aus den zarten Rieselwellen

Tränket ihr

Gar Silens abscheulich Tier?

Dort entweiht es Aganippen

Mit den rohen, breiten Lippen,

Stampft mit ungeschickten Füßen,

Bis die Wellen trübe fließen.


O wie möcht ich gern mich täuschen;

Aber Schmerzen fühlt das Ohr;

Aus den keuschen,

Heil'gen Schatten

Dringt verhaßter Ton hervor.

Wild Gelächter

Statt der Liebe süßem Wahn!

Weiberhasser und – verächter

Stimmen ein Triumphlied an.

Nachtigall und Turtel fliehen

Das so keusch erwärmte Nest,

Und in wütendem Erglühen

Hält der Faun die Nymphe fest.

Hier wird ein Gewand zerrissen,[292]

Dem Genusse folgt der Spott,

Und zu ihren frechen Küssen

Leuchtet mit Verdruß der Gott.


Ja, ich sehe schon von weiten

Wolkenzug und Dunst und Rauch.

Nicht die Leier nur hat Saiten,

Saiten hat der Bogen auch.

Selbst den Busen des Verehrers

Schüttert das gewalt'ge Nahn,

Denn die Flamme des Verheerers

Kündet ihn von weiten an.

O vernehmt noch meine Stimme,

Meiner Liebe Bruderwort!

Fliehet vor des Gottes Grimme,

Eilt aus unsern Grenzen fort!

Daß sie wieder heilig werde,

Lenkt hinweg den wilden Zug!

Vielen Boden hat die Erde

Und unheiligen genug.

Uns umleuchten reine Sterne,

Hier nur hat das Edle Wert.


Doch wenn ihr aus rauher Ferne

Wieder einst zu uns begehrt,

Wenn euch nichts so sehr beglücket,

Als was ihr bei uns erprobt,

Euch nicht mehr ein Spiel entzücket,

Das die Schranken übertobt:

Kommt als gute Pilger wieder,

Steiget froh den Berg heran,

Tiefgefühlte Reuelieder

Künden uns die Brüder an,

Und ein neuer Kranz umwindet

Eure Schläfe feierlich.
[293]

Wenn sich der Verirrte findet,

Freuen alle Götter sich.

Schneller noch als Lethes Fluten

Um der Toten stilles Haus,

Löscht der Liebe Kelch den Guten

Jedes Fehls Erinnrung aus.

Alles eilet euch entgegen,

Und ihr kommt verklärt heran,

Und man fleht um euern Segen;

Ihr gehört uns doppelt an!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 287-294.
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