Neue Liebe, neues Leben

[49] Herz, mein Herz, was soll das geben?

Was bedränget dich so sehr?

Welch ein fremdes, neues Leben!

Ich erkenne dich nicht mehr.

Weg ist alles, was du liebtest,

Weg, warum du dich betrübtest,

Weg dein Fleiß und deine Ruh –

Ach, wie kamst du nur dazu!


Fesselt dich die Jugendblüte,

Diese liebliche Gestalt,

Dieser Blick voll Treu und Güte

Mit unendlicher Gewalt?

Will ich rasch mich ihr entziehen,

Mich ermannen, ihr entfliehen,

Führet mich im Augenblick,

Ach, mein Weg zu ihr zurück.


Und an diesem Zauberfädchen,

Das sich nicht zerreißen läßt,

Hält das liebe lose Mädchen

Mich so wider Willen fest;[49]

Muß in ihrem Zauberkreise

Leben nun auf ihre Weise.

Die Verändrung, ach, wie groß!

Liebe! Liebe! laß mich los!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 49-50.
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