Sehnsucht

[62] Was zieht mir das Herz so?

Was zieht mich hinaus?

Und windet und schraubt mich

Aus Zimmer und Haus?

Wie dort sich die Wolken

Um Felsen verziehn!

Da möcht ich hinüber,

Da möcht ich wohl hin!


Nun wiegt sich der Raben

Geselliger Flug;

Ich mische mich drunter

Und folge dem Zug.[62]

Und Berg und Gemäuer

Umfittichen wir;

Sie weilet da drunten;

Ich spähe nach ihr.


Da kommt sie und wandelt;

Ich eile sobald,

Ein singender Vogel,

Zum buschigen Wald.

Sie weilet und horchet

Und lächelt mit sich:

»Er singet so lieblich

Und singt es an mich.«


Die scheidende Sonne

Verguldet die Höhn;

Die sinnende Schöne,

Sie läßt es geschehn.

Sie wandelt am Bache

Die Wiesen entlang,

Und finster und finstrer

Umschlingt sich der Gang;


Auf einmal erschein ich,

Ein blinkender Stern.

»Was glänzet da droben,

So nah und so fern?«

Und hast du mit Staunen

Das Leuchten erblickt;

Ich lieg dir zu Füßen,

Da bin ich beglückt!
[63]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 62-64.
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