An Werther

[496] Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten,

Hervor dich an das Tageslicht,

Begegnest mir auf neubeblümten Matten,

Und meinen Anblick scheust du nicht.

Es ist, als ob du lebtest in der Frühe,

Wo uns der Tau auf einem Feld erquickt

Und nach des Tages unwillkommner Mühe

Der Scheidesonne letzter Strahl entzückt;

Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren,

Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.


Des Menschen Leben scheint ein herrlich Los:

Der Tag wie lieblich, so die Nacht wie groß!

Und wir, gepflanzt in Paradieses Wonne,

Genießen kaum der hocherlauchten Sonne,

Da kämpft sogleich verworrene Bestrebung

Bald mit uns selbst und bald mit der Umgebung;

Keins wird vom andern wünschenswert ergänzt,

Von außen düstert's, wenn es innen glänzt,

Ein glänzend Äußres deckt mein trüber Blick,

Da steht es nah – und man verkennt das Glück.


Nun glauben wir's zu kennen! Mit Gewalt

Ergreift uns Liebreiz weiblicher Gestalt:

Der Jüngling, froh wie in der Kindheit Flor,

Im Frühling tritt als Frühling selbst hervor,

Entzückt, erstaunt, wer dies ihm angetan?

Er schaut umher, die Welt gehört ihm an.

Ins Weite zieht ihn unbefangne Hast,

Nichts engt ihn ein, nicht Mauer, nicht Palast;

Wie Vögelschar an Wäldergipfeln streift,

So schwebt auch er, der um die Liebste schweift,[496]

Er sucht vom Äther, den er gern verläßt,

Den treuen Blick, und dieser hält ihn fest.


Doch erst zu früh und dann zu spät gewarnt,

Fühlt er den Flug gehemmt, fühlt sich umgarnt,

Das Wiedersehn ist froh, das Scheiden schwer,

Das Wieder-Wiedersehn beglückt noch mehr,

Und Jahre sind im Augenblick ersetzt;

Doch tückisch harrt das Lebewohl zuletzt.


Du lächelst, Freund, gefühlvoll, wie sich ziemt:

Ein gräßlich Scheiden machte dich berühmt;

Wir feierten dein kläglich Mißgeschick,

Du ließest uns zu Wohl und Weh zurück;

Dann zog uns wieder ungewisse Bahn

Der Leidenschaften labyrinthisch an;

Und wir, verschlungen wiederholter Not,

Dem Scheiden endlich – Scheiden ist der Tod!

Wie klingt es rührend, wenn der Dichter singt,

Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt!

Verstrickt in solche Qualen, halbverschuldet,

Geb ihm ein Gott zu sagen, was er duldet.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 496-497.
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