Aussöhnung

[502] Die Leidenschaft bringt Leiden! – Wer beschwichtigt

Beklommnes Herz, das allzuviel verloren?

Wo sind die Stunden, überschnell verflüchtigt?

Vergebens war das Schönste dir erkoren!

Trüb ist der Geist, verworren das Beginnen;

Die hehre Welt, wie schwindet sie den Sinnen!


Da schwebt hervor Musik mit Engelschwingen,

Verflicht zu Millionen Tön um Töne,

Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen,

Zu überfüllen ihn mit ew'ger Schöne:

Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen

Den Götterwert der Töne wie der Tränen.


Und so das Herz erleichtert merkt behende,

Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen,

Zum reinsten Dank der überreichen Spende

Sich selbst erwidernd willig darzutragen.

Da fühlte sich – o daß es ewig bliebe! –

Das Doppelglück der Töne wie der Liebe.
[502]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 502-503.
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