Der Becher

[346] Einen wohlgeschnitzten vollen Becher

Hielt ich drückend in den beiden Händen,

Sog begierig süßen Wein vom Rande,

Gram und Sorg auf einmal zu vertrinken.
[346]

Amor trat herein und fand mich sitzen,

Und er lächelte bescheiden-weise,

Als den Unverständigen bedauernd.


»Freund, ich kenn ein schöneres Gefäße,

Wert, die ganze Seele drein zu senken;

Was gelobst du, wenn ich dir es gönne,

Es mit anderm Nektar dir erfülle?«


O wie freundlich hat er Wort gehalten!

Da er, Lida, dich mit sanfter Neigung

Mir, dem lange Sehnenden, geeignet.


Wenn ich deinen lieben Leib umfasse

Und von deinen einzig treuen Lippen

Langbewahrter Liebe Balsam koste,

Selig sprech ich dann zu meinem Geiste:


Nein, ein solch Gefäß hat außer Amorn

Nie ein Gott gebildet noch besessen!

Solche Formen treibet nie Vulcanus

Mit den sinnbegabten, feinen Hämmern!

Auf belaubten Hügeln mag Lyäus

Durch die ältsten, klügsten seiner Faunen

Ausgesuchte Trauben keltern lassen,

Selbst geheimnisvoller Gärung vorstehn:

Solchen Trank verschafft ihm keine Sorgfalt!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 346-347.
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