Grenzen der Menschheit

[330] Wenn der uralte

Heilige Vater

Mit gelassener Hand

Aus rollenden Wolken

Segnende Blitze

Über die Erde sät,

Küß ich den letzten

Saum seines Kleides,

Kindliche Schauer

Treu in der Brust.


Denn mit Göttern

Soll sich nicht messen

Irgendein Mensch

Hebt er sich aufwärts

Und berührt

Mit dem Scheitel die Sterne,

Nirgends haften dann

Die unsichern Sohlen,

Und mit ihm spielen

Wolken und Winde.


Steht er mit festen,

Markigen Knochen

Auf der wohlgegründeten,

Dauernden Erde,

Reicht er nicht auf,

Nur mit der Eiche

Oder der Rebe

Sich zu vergleichen.


Was unterscheidet

Götter von Menschen?

Daß viele Wellen
[330]

Vor jenen wandeln,

Ein ewiger Strom:

Uns hebt die Welle,

Verschlingt die Welle,

Und wir versinken.


Ein kleiner Ring

Begrenzt unser Leben,

Und viele Geschlechter

Reihen sich dauernd

An ihres Daseins

Unendliche Kette.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 330-331.
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