Höheres und Höchstes

[155] Daß wir solche Dinge lehren,

Möge man uns nicht bestrafen:

Wie das alles zu erklären,

Dürft ihr euer Tiefstes fragen.


Und so werdet ihr vernehmen:

Daß der Mensch, mit sich zufrieden,

Gern sein Ich gerettet sähe,

So da droben wie hienieden.


Und mein liebes Ich bedürfte

Mancherlei Bequemlichkeiten,

Freuden, wie ich hier sie schlürfte,

Wünscht ich auch für ew'ge Zeiten.


So gefallen schöne Gärten,

Blum' und Frucht und hübsche Kinder,

Die uns allen hier gefielen,

Auch verjüngtem Geist nicht minder.


Und so möcht ich alle Freunde,

Jung und alt, in eins versammeln,

Gar zu gern in deutscher Sprache

Paradiesesworte stammeln.
[155]

Doch man horcht nun Dialekten,

Wie sich Mensch und Engel kosen,

Der Grammatik, der versteckten,

Deklinierend Mohn und Rosen.


Mag man ferner auch in Blicken

Sich rhetorisch gern ergehen

Und zu himmlischem Entzücken

Ohne Klang und Ton erhöhen.


Ton und Klang jedoch entwindet

Sich dem Worte selbstverständlich,

Und entschiedener empfindet

Der Verklärte sich unendlich.


Ist somit dem Fünf der Sinne

Vorgesehn im Paradiese,

Sicher ist es, ich gewinne

Einen Sinn für alle diese.


Und nun dring ich allerorten

Leichter durch die ew'gen Kreise,

Die durchdrungen sind vom Worte

Gottes rein-lebend'ger Weise.


Ungehemmt mit heißem Triebe

Läßt sich da kein Ende finden,

Bis im Anschaun ew'ger Liebe

Wir verschweben, wir verschwinden.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 155-156.
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