Derb und tüchtig

[19] Dichten ist ein Übermut,

Niemand schelte mich!

Habt getrost ein warmes Blut,

Froh und frei wie ich.
[19]

Sollte jeder Stunde Pein

Bitter schmecken mir,

Würd ich auch bescheiden sein,

Und noch mehr als ihr.


Denn Bescheidenheit ist fein,

Wenn das Mädchen blüht,

Sie will zart geworben sein,

Die den Rohen flieht.


Auch ist gut Bescheidenheit,

Spricht ein weiser Mann,

Der von Zeit und Ewigkeit

Mich belehren kann.


Dichten ist ein Übermut!

Treib es gern allein.

Freund' und Frauen, frisch von Blut.

Kommt nur auch herein!


Mönchlein ohne Kapp und Kutt,

Schwatz nicht auf mich ein!

Zwar du machest mich kaputt,

Nicht bescheiden, nein!


Deiner Phrasen leeres Was

Treibet mich davon,

Abgeschliffen hab ich das

An den Sohlen schon.


Wenn des Dichters Mühle geht,

Halte sie nicht ein:

Denn wer einmal uns versteht,

Wird uns auch verzeihn.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 19-20.
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