Im gegenwärtigen Vergangnes

[17] Ros' und Lilie morgentaulich

Blüht im Garten meiner Nähe;

Hinten an, bebuscht und traulich,

Steigt der Felsen in die Höhe;[17]

Und mit hohem Wald umzogen

Und mit Ritterschloß gekrönet,

Lenkt sich hin des Gipfels Bogen,

Bis er sich dem Tal versöhnet.


Und da duftet's wie vor alters,

Da wir noch von Liebe litten

Und die Saiten meines Psalters

Mit dem Morgenstrahl sich stritten;

Wo das Jagdlied aus den Büschen

Fülle runden Tons enthauchte,

Anzufeuern, zu erfrischen,

Wie's der Busen wollt und brauchte.


Nun die Wälder ewig sprossen,

So ermutigt euch mit diesen,

Was ihr sonst für euch genossen.

Läßt in andern sich genießen.

Niemand wird uns dann beschreien,

Daß wir's uns alleine gönnen;

Nun in allen Lebensreihen

Müsset ihr genießen können.


Und mit diesem Lied und Wendung

Sind wir wieder bei Hafisen,

Denn es ziemt, des Tags Vollendung

Mit Genießern zu genießen.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 17-18.
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