Einleitung

[163] Alles hat seine Zeit! – Ein Spruch, dessen Bedeutung man bei längerem Leben immer mehr anerkennen lernt; diesem nach gibt es eine Zeit zu schweigen, eine andere zu sprechen, und zum letzten entschließt sich diesmal der Dichter. Denn wenn dem früheren Alter Tun und Wirken gebührt, so ziemt dem späteren Betrachtung und Mitteilung.

Ich habe die Schriften meiner ersten Jahre ohne Vorwort in die Welt gesandt, ohne auch nur im mindesten anzudeuten, wie es damit gemeint sei; dies geschah im Glauben an die Nation, daß sie früher oder später das Vorgelegte benutzen werde. Und so gelang mehreren meiner Arbeiten augenblickliche Wirkung, andere, nicht ebenso faßlich und eindringend, bedurften, um anerkannt zu werden, mehrerer Jahre. Indessen gingen auch diese vorüber, und ein zweites, drittes nachwachsendes Geschlecht entschädigt mich doppelt und dreifach für die Unbilden, die ich von meinen früheren Zeitgenossen zu erdulden hatte.

Nun wünscht ich aber, daß nichts den ersten guten Eindruck des gegenwärtigen Büchleins hindern möge. Ich entschließe mich daher, zu erläutern, zu erklären, nachzuweisen, und zwar bloß in der Absicht, daß ein unmittelbares Verständnis Lesern daraus erwachse, die mit dem Osten wenig oder nicht bekannt sind. Dagegen bedarf derjenige dieses Nachtrags nicht, der sich um Geschichte und Literatur einer so höchst merkwürdigen Weltregion näher umgetan hat. Er wird vielmehr die Quellen und Bäche leicht bezeichnen, deren erquickliches Naß ich auf meine Blumenbeete geleitet.[163]

Am liebsten aber wünschte der Verfasser vorstehender Gedichte als ein Reisender angesehen zu werden, dem es zum Lobe gereicht, wenn er sich der fremden Landesart mit Neigung bequemt, deren Sprachgebrauch sich anzueignen trachtet, Gesinnungen zu teilen, Sitten aufzunehmen versteht. Man entschuldigt ihn, wenn es ihm auch nur bis auf einen gewissen Grad gelingt, wenn er immer noch an einem eignen Akzent, an einer unbezwinglichen Unbiegsamkeit seiner Landsmannschaft als Fremdling kenntlich bleibt. In diesem Sinne möge nun Verzeihung dem Büchlein gewährt sein! Kenner vergeben mit Einsicht, Liebhaber, weniger gestört durch solche Mängel, nehmen das Dargebotne unbefangen auf.

Damit aber alles, was der Reisende zurückbringt, den Seinigen schneller behage, übernimmt er die Rolle eines Handelsmanns, der seine Waren gefällig auslegt und sie auf mancherlei Weise angenehm zu machen sucht; ankündigende, beschreibende, ja lobpreisende Redensarten wird man ihm nicht verargen.

Zuvörderst also darf unser Dichter wohl aussprechen, daß er sich, im Sittlichen und Ästhetischen, Verständlichkeit zur ersten Pflicht gemacht, daher er sich denn auch der schlichtesten Sprache, in dem leichtesten, faßlichsten Silbenmaße seiner Mundart befleißigt und nur von weitem auf dasjenige hindeutet, wo der Orientale durch Künstlichkeit und Künstelei zu gefallen strebt.

Das Verständnis jedoch wird durch manche nicht zu vermeidende fremde Worte gehindert, die deshalb dunkel sind, weil sie sich auf bestimmte Gegenstände beziehen, auf Glauben, Meinungen, Herkommen, Fabeln und Sitten. Diese zu erklären, hielt man für die nächste Pflicht und hat dabei das Bedürfnis berücksichtigt, das aus Fragen und Einwendungen deutscher Hörender und Lesender hervorging. Ein angefügtes Register bezeichnet die Seite, wo dunkle Stellen vorkommen und auch, wo sie erklärt werden. Dieses Erklären aber geschieht in einem gewissen Zusammenhange, damit nicht abgerissene Noten, sondern ein selbständiger Text erscheine,[164] der, obgleich nur flüchtig behandelt und lose verknüpft, dem Lesenden jedoch Übersicht und Erläuterung gewähre.

Möge das Bestreben unseres diesmaligen Berufes angenehm sein! Wir dürfen es hoffen: denn in einer Zeit, wo so vieles aus dem Orient unserer Sprache treulich angeeignet wird, mag es verdienstlich erscheinen, wenn auch wir von unserer Seite die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken suchen, woher so manches Große, Schöne und Gute seit Jahrtausenden zu uns gelangte, woher täglich mehr zu hoffen ist.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 163-165.
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