1796

135.*


1796, Frühjahr (?).


Über Ifflands Schauspiele

Sie haben alle zwei Hauptfehler. 1) Alle moralische Besserung wird in seinen Stücken von außen herein, nicht von innen heraus bewirkt. Daher das Gewaltsame, unwahrscheinlich Zusammengedrängte und Überhäufte in seinen Stücken, z.B. der Commissär Wallmann in der »Aussteuer« ist schon viele Jahre bei der verkehrten Wirthschaft seines Bruders Augenzeuge, schon viele Jahre ebenso heftig, auffahrend gewaltsam gewesen; aber erst heute, wo das Stück zu spielen anfängt, regt sich der Brausekopf, stürmt an der großen Glocke, poltert und will das gut machen, was bei frühern, nur halb so heftigen Warnungen an seinen Bruder und dessen[184] Kinder nicht halb so schlimm geworden wäre. Es ist durchaus keine zureichende Ursache da, warum dies alles erst jetzt, wo das Stück eintritt, so von außen herein kommen müsse. So macht der Stabschirurg Rechtler im »Scheinverdienst« heute erst Lärm und Ordnung, da er doch schon zwanzig Jahre lang sein Pfeifchen bei seinem amicus geraucht und die Scheinversuche seiner Frau und Kinder mit angesehen hat. Eben darum, weil alle Motive nur von außen herein bloß zufällig zur Hauptentwickelung wirken, nicht aus dem Charakter selbst hervorgehn, braucht Iffland so viel Nebenfiguren und unnütze Ausstaffirungen zu seinen Stücken, weil er durch sie den Ausgang motiviren will.

2) Er setzt überall Natur und Cultur in einen falschen Contrast. Cultur ist ihm immer die Quelle aller moralischen Verdorbenheit; wenn seine Menschen gut werden sollen, so kehren sie in den Naturstand zurück: der Hagestolze geht auf seine Güter und heirathet ein Bauernmädchen u.s.w. Dies ist ein ganz falscher Gesichtspunkt, aus welchem er alle Cultur verunglimpft, da vielmehr das Geschäft eines Schauspieldichters in unserm Zeitalter sein sollte, zu zeigen, wie die Cultur von Auswüchsen gereinigt, veredelt und liebenswürdig gemacht werden könne. Die Idyllenscenen aus Arkadien, die in Iffland's Stücken so wohlgefallen, sind eine süße, aber darum nur um so gefährlichere Schwärmerei. Freilich sieht er auch in M[annheim][185] die Grundsuppe der sogenannten Cultur in ihrer hassenswürdigsten Abscheulichkeit. Losgerissen von diesen herzlosen Modepuppen, würde er auch ganz andere Charaktere zeichnen und ganz neue Ansichten in seine Stücke bringen können.[186]


1607.*


1796, zwischen 29. April und 16. Mai.


Mit Karl Friedrich Graf von Geßler

und Dora Stock

Von Lottchen [Schiller] hatte sie [die Stein] vernommen, daß er einmal den eben abgereisten Grafen Geßler... zum Heirathen habe bereden wollen und auf die Frage der Schwägerin Körner's: ›Warum heirathen Sie denn nicht selbst?‹ erwiedert habe: »Ich bin verheirathet, nur nicht mit Ceremonie.«[25]


1608.*


1796, 16. Mai.


Bei Schillers

Es kam eben wie ich [die Stein] da war, eine kleine Victoria von Dresden für ihn an. Er setzte sie am Tisch vor sich und meinte, beim Essen und Trinken sei ambesten von der Kunst zu sprechen. Er nahm auch wirklich an nichts viel weiter Antheil, und zuletzt hatte er das Glas Wein in der einen Hand und die Victoria in der andern.[25]


1557.*


1796, 17. Juni.


Mittag bei Goethe

Gleichwohl kam ich [J. P. F. Richter] mit Scheu zu Goethe. Die K[alb] und jeder malte ihn ganz kalt für alle Menschen und Sachen, auf der Erde. Die K. sagte: er bewundert nichts mehr, nicht einmal sich; jedes Wort sei Eis, zumal gegen Fremde, die er selten vorlasse; er habe etwas Steifes, reichsstädtisch Stolzes – bloß Kunstsachen wärmen noch seine Herznerven an, daher ich Knebel bat, mich vorher durch einen Mineralbrunnen[102] zu petrificiren und zu incrustiren, damit ich mich ihm etwa im vortheilhaften Lichte einer Statue zeigen könne. Die K. räth mir überall Kälte und Selbstbewußtsein an. Ich ging ohne Wärme, bloß aus Neugierde. Sein Haus frappirt: es ist das einzige Weimars im italienischen Geschmack, mit solchen Treppen – ein Pantheon voll Bilder und Statuen; eine Kühle der Angst presset die Brust. Endlich tritt der Gott her; kalt, einsilbig, ohne Accent. Sagt Knebel: ›Die Franzosen ziehen in Rom ein.‹ – »Hm!« sagt der Gott. Seine Gestalt ist markig und feurig, sein Auge ein Licht. Aber endlich schürete ihn nicht bloß der Champagner, sondern die Gespräche über die Kunst, Publikum etc. sofort an und – man war bei Goethe. Er spricht nicht so blühend wie Herder, aber scharf, bestimmt und ruhig. Zuletzt las er uns, d.h. er spielte uns1 ein ungedrucktes herrliches Gedicht vor, wodurch sein Herz durch die Eiskruste die Flammen trieb, sodaß er dem enthusiastischen Paul (mein Gesicht war es, aber meine Zunge nicht, wie ich denn nur von weitem auf einzelne Werke anspielte, mehr der Unterredung und des Beleges wegen) die Hand drückte. Beim Abschiede that er es wieder und hieß mich wiederkommen. Er hält seine dichterische Laufbahn für beschlossen.


1 Sein Vorlesen ist ein tieferes Donnern, vermischt mit dem leisesten Regengelispel; es giebt nichts Ähnliches.[103]


1609.*


1796, 1. September.


Mit Charlotte von Stein

Daß Du [Fritz v. Stein] gesonnen bist, in preußische Dienste zu gehen, habe ich aus einem Briefe gesehen, den Du Goethen geschrieben. Mit allem guten Willen, den ich bei ihm bemerkte, fürchte ich, er wird wegen seiner allzu literarischen Existenz zu unbehülflich sein, Dir mit Geschick aus der Sache zu helfen. Er war nur einen Augenblick hier und ist wieder nach Jena. Ich bat ihn, es noch etwas zu überlegen; alsdann will er mir den Brief an Dich offen schicken. Er sagte, er habe gar keinen Einfluß auf den Herzog, sondern ich solle doch der Herzogin erzählen, er, Goethe, hielte es für gut, daß der Herzog Dir die Kammerpräsidentenstelle in Eisenach, im Fall Herda verstürbe, verspräche, nachdem Du den Prinzen einige Jahre würdest begleitet haben.[26]


136.*


1796, erste Hälfte Septembers.


Beim Vorlesen von »Hermann und Dorothea«

Mit Rührung erinnere ich [Caroline v. Wolzogen] mich, wie uns Goethe in tiefer Herzensbewegung unter hervorquellenden Thränen den Gesang, der das Gespräch Hermann's mit der Mutter am Birnbaume enthält, gleich nach der Entstehung vorlas. »So schmilzt man bei seinen eigenen Kohlen,« sagte er, indem er sich die Thränen trocknete.[186]


1558.*


1796, 15. September. (?)


Bei Ferdinand Christian Loder

Ich [Garlieb Merkel] fand [bei Loder] eine sehr zahlreiche Versammlung von fast allen Professoren und einigen Studenten beisammen. Im Prunkzimmer stand Goethe mit ernster, stolzer Miene vor dem Spiegeltische, auf beiden Seiten von Kerzen und vorn vom Kronleuchter beleuchtet, prunkend da, und um ihn eine Halbrunde von mehreren Reihen ehrfurchtsvoll Lauschender. Bei dem Gefühl, mit dem ich soeben die ›Xenien‹ gelesen, widerte mich dieses Schauspiel an; ich glaubte den Triumph strafloser Insolenz feiern zu sehen. Loder stellte mich Goethe vor als den Verfasser der ›Letten‹; er nickte herablassend und fuhr fort in seiner Rede. Das verdroß mich; denn ich war mir bewußt, in Rücksicht meiner Zwecke über dem Verfasser der ›Xenien‹ zu stehen ....

Er sprach gerade in einem docirenden Tone über Raphael's Gemälde im Vatican. Den letzten Umstand hatte ich nicht bemerkt [?] und sagte: ›Es wäre viel, wenn die Franzosen sich ihrer nicht bemächtigten.‹ Mit einer wegwerfenden Miene, als hätte ich eine Dummheit gesagt, erwiederte Goethe: »Sie sind ja auf die Mauer gemalt!« – ›Doch nur auf Stuck!‹ antwortete ich, zog mich aus dem bewundernden Halbkreise zurück und habe mich Goethe nie wieder genähert. Mir hatte[104] bei meiner Antwort dunkel vorgeschwebt, es müsse ein Mittel geben, die Stucklagen abzulösen ohne Verletzung der Gemälde, die sie verherrlichen. Welcher Art dies Mittel sein könnte, ahnte ich freilich nicht, doch wenige Monate später erzählten die Zeitungen, daß die Franzosen Wandgemälde abgesägt hätten.[105]


137.*


1796, 2. October.


Über Gotters »Geisterinsel«

Goethe sagte gestern noch, »Die Geisterinsel« wäre ein Meisterstück von Poesie und Sprache; es ließe sich nichts musikalischeres denken.[186]


1610.*


1796, December. (?)


Mit Christoph Martin Wieland

Neulich im Club.. gerieth Wieland in einen liebenswürdigen, mit etwas Possirlichkeit untermischten Eifer, daß die jungen Leute so viel Thee tränken, da doch Thee offenbar schwäche.

[26] Goethe (mit aufgehobenem Rockschooß am Ofen stehend und mit vorstrebender Brust sich hin und her bewegend): Da irrst Du, Herr Bruder; Thee stärkt.1

Wieland: Wieder ein Paradoxon!

G.: O, ich habe Gründe dafür genug und satt.

W.: Um nur mit meinem schwächsten Argument anzufangen –

G.: Das thue ja nicht, Herr Bruder, um's Himmelswillen nicht! Immer die stärksten voraus! Ich habe mich verzweifelt ausgerüstet.

W.: Also erstlich wirst Du nicht läugnen können, daß trotz aller Deiner Sophisterei aufgekochte Kräuter von schädlicher Natur und laues Wasser –

G.: Also der Thee schwächt, willst Du sagen?

W.: Ja, doch ich –

G.: Also, der Thee stärkt, sag' ich.

W.: Und schwächt nicht?

G.: Stärkt und schwächt.

W.: Stärkt und schwächt?

G.: Wie jedes Corroberans zu häufig genommen; man stärkt sich zu sehr.

W.: Aber das Gift darin.

G.: Es giebt kein Gift.

W.: Ein neues Paradoxon?

G.: Alles kommt auf die Dosis an. Auch Champagner kann Gift werden.

[27] W.: Am Ende wird der Sophist noch gar behaupten, wir stürben nicht.

G.: Ei, das lassen wir so bleiben.

W. (weggehend): Das wird zu toll!

G. (ihm nachrufend): Geh nur, Alter! Sonst provocire ich auf unsre Unsterblichkeit und Du hast verloren.


1 In der Vorlage offenbar irrig: »schwächt.«[28]


138.*


1796, December (?).


Mit Maximilian Jacobi

Als der Jüngling die Blätter [von »Hermann und Dorothea«] dem übergütigen Dichter tief bewegt und angeregt wieder übergab, verbarg dieser ihm seine Freude nicht, heiter hinzufügend: »Nach Ihnen ist nun Böttiger der nächste, dem ich es mittheile; denn bei dem bin ich bei der Beurtheilung von allem Einfluß des Gemüthes auf den Verstand sicher; und so einen brauche ich.«[187]


139.*


1796, 25. December.


Über »Hermann und Dorothea«

Goethe ging seit zwei Jahren mit diesem Sujet schwanger und versuchte es erst als Drama, dann als Idyllenreihe. Aber grade durch diese vorbereitenden Studien wurde er erst des Gegenstandes ganz mächtig.[187]


140.*


1796, 30. December (?)


Mit Christian Felix Weiße

Ich weiß aus mehreren Briefen, daß die Sache [wegen Eichstädt's Berufung nach Jena] entschieden ist.

[187] Vor kurzem war der Geheime Rath Goethe mit dem Herzog von Weimar hier [in Leipzig], und wir sprachen ein Langes und Breites davon.[188]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 1, S. 187-189.
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