1810

1500.*


1809-1810.


Über Werners »Vierundzwanzigsten Februar«

Nach der Aufführung der ›Wanda‹ hatte Werner bei Goethe die Aufführung noch anderer seiner Dramen beantragt, war aber damit von Goethe abgewiesen worden. Dabei hatte jedoch Goethe die Aufforderung an ihn gerichtet, Theaterstücke von kleinerem Umfang, etwa einactige, zu dichten, zu deren Aufführung er sich im voraus bereit erklärte. Diesen Rath, sich größerer Dichtungen zu enthalten und auf kleinere zu beschränken, pflegte damals Goethe gern zu ertheilen, wie ich [F. Schubart] ihn denn bald nachher selbst von ihm erhielt .... Bald nachher fand er Gelegenheit, dem Romantiker seinen Rath noch dringender und mit Erfolg zu empfehlen. In einer Gesellschaft in Goethes Hause wurde aus den Zeitungen eine schauerliche Criminalgeschichte vorgelesen, welche mit einem besonderen, merkwürdigen Zusammentreffen der Jahrestage verbunden war. Diese Geschichte empfahl nun Goethe dem auch gegenwärtigen Werner als einen geeigneten und fruchtbaren Stoff zu einem kleinen einactigen Trauerspiel, wie er es von ihm wünschte. Mit Eifer ergriff Werner die hingeworfene Andeutung zur Bearbeitung dieses[309] Stoffes, und schon nach einer Woche brachte er dem Meister das bekannte einactige Trauerspiel ›Der vierundzwanzigste Februar.‹ Goethe wollte oder konnte die zugesagte Aufführung, besonders da er die Arbeit selbst veranlaßt hatte, nicht zurücknehmen, und so kam diese düstere Dichtung auf die weimarische Hofbühne, welche bisher nur von heiterer und rein poetischer Theaterkunst belebt gewesen war. Daß Goethe selbst über die Paßlichkeit dieses Schauerstückes für sein Kunsttheater und überhaupt über die Schicklichkeit, dasselbe dem Publicum darzubieten, seine Zweifel hegte, geht daraus hervor, daß anfangs die Rede davon war, das neue Wernerische Theaterstück sollte nicht vor das große Publicum gebracht, sondern vor einer auserwählten Gesellschaft und bei verschlossenen Thüren des Hauses gegeben werden. Doch erfolgte die öffentliche Aufführung, der ich, als es zum ersten Mal gegeben wurde, wegen Abwesenheit von Weimar nicht beiwohnen konnte. Es wurde mir aber sofort erzählt, daß bei derselben viele Personen vor Entsetzen den Athem verloren hätten, und wurde dabei an die Wirkung der Aeschylischen »Eumeniden« in Athen erinnert. Der alte Wieland konnte sich nicht enthalten, Goethen über die Zulassung dieser Aufführung Vorwürfe zu machen und soll von ihm die Antwort erhalten haben: »Sie haben1 wohl recht, aber man trinkt ja nicht immer Wein, man trinkt auch einmal Branntwein.«


1 Wenn schon, dann: »Du hast –«[310]


1501.*


Um 1810.


Mit Luise Seidler

Als er mich einst zum Niederlassen aus dem Sofa nöthigte, welches mit gestickten Kissen – schönen Andenken fleißiger Hände – ganz belegt war, sagte er zu mir: »Setzen wir uns, wenn wir vor lauter Bequemlichkeit noch einen Platz finden können.«[311]


1651.*


1810, 3. (?) Januar.


Mit Wilhelm von Humboldt

Goethe grüßt Dich [Caroline v. Humboldt] herzlich. Er hat Dir seinen neuesten Roman, »Die Wahlverwandtschaften«, durch einen Reisenden [nach Rom] geschickt, und man sah ihm an, daß ihm daran gelegen hat, den Roman von Dir gelesen zu wissen. Er hat auch lange über Deine Beschreibung der spanischen Bilder gesprochen. Er nennt es nie anders, wie: einen Schatz, und die der Raffaelschen Bilder: ein wahres Meisterstück. Und das sind sie auch. Er sagt: er habe nie eine Beschreibung gesehen, die einem so alles geben, das Bild zu beurtheilen. Die der Madonna del pez hat ihm vor allem erfreut. Er hat nun auch die Farben daraus kennen gelernt, und ihre Wahl paßt in seine Theorie.[63]


452.*


1810, 13. Januar.


Mittag bei Goethe

Mittags Falk zu Tisch. Über den Charakter des Coriolan und seine Behandlung von Plutarch an bis auf Shakespeare. Über Reichardt. In seinen Briefen über Wien hatte sich Reichardt gerühmt, er habe nie[297] einen verdorbenen Magen gehabt. Goethe machte augenblicklich das Bonmot: »Darum hat er auch alle Stationen so beschmausen können.«[298]


453.*


1810, 14. Januar.


Mittag bei Goethe

Mittags unter uns. Goethe hatte in früherer Zeit ein Monodrama intentionirt: Nero, wie er vor dem Volke agirt und wie er während dieser Zeit die Nachricht von einer Verschwörung erhält. Goethe äußerte über Tisch: »Es ist Höflichkeit und Vornehmen eigen, jemanden mettre à son aise; und ich weiß es daß mich jemand auf meinen Chapitre bringt. Aber Todfeindschaft kann daraus entstehen, wenn man es thut und sich gegen mich berühmt, daß man mich auf meine Schnurre gebracht habe, sobald ich mit Gutmüthigkeit mich geäußert und gehen gelassen habe. Weil es eine falsche Superiorität des andern und eine Gemüthlosigkeit desselben verräth.«[298]


454.*


1810, 15. Januar.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Verstand und Vernunft sind ein formelles Vermögen: das Herz liefert den Gehalt, den Stoff.

Wenn man die Männer als Verstand und Vernunft[298] ansehen kann, so sind sie Form; die Weiber, als Herz, sind Stoff.«[299]


455.*


1810, 16. Januar.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Mittags allein .... Über Tisch äußerte Goethe: »Alles Ideelle, sobald es vom Realen gefordert wird, zehrt am Ende dieses und sich selbst auf. So der Kredit (Papiergeld) das Silber und sich selbst.« Anlaß und Beleg hierzu gab das Papiergeld im Österreichischen.[299]


456.*


1810, Mitte Februar (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Goethe kam sich in den letzten vier Wochen (wo die Festivitäten der fürstlichen Geburtstage beschäftigten), vor, wie der Prophet Habakuk, der seinen Schnittern (den Setzern an der Farbenlehre), den Brei bringen wollte, und den der Engel beim Schopf nahm und zu Daniel in die Löwengrube trug.[299]


457.*


1810, 24. Februar.


Bei der Aufführung von Werners

»Vierundzwanzigstem Februar«

Goethe hatte mit besonderer Vorliebe den »Vierundzwanzigsten Februar« in Scene gesetzt. Haide[299] (Kunz Kuruth), die Wolff (Trude) und ihr Gatte (Kurt) waren so ausgezeichnet, als ob diese Rollen vom Dichter eigens für sie geschrieben wären ..... Goethe kam, was höchst selten geschah, nach der Aufführung auf die Bühne, um den Darstellern seine Zufriedenheit persönlich auszusprechen. Seine Züge drückten ein stolzes Bewußtsein aus, als er sagte: »Nun sind wir da angekommen, wohin ich Euch haben wollte: Natur und Kunst sind jetzt auf das engste miteinander verbunden.«[300]


458.*


1810, Februar (?).


Mit Johann Daniel Falk

In einem Gespräche über Literatur kam auch die Rede auf Kotzebue und dessen »Merkwürdigstes Lebensjahr«. Abgesehen von den Abenteuern der Reise und dem harten Schicksale des Mannes, das Theilnahme fodere und verdiene, sei es, wie Goethe versicherte, kaum möglich, bei einem von allen Seiten so reich vorliegenden Stoffe, etwas an sich Gehaltloseres zu Tage zu fördern. »Ich bin gewiß, wenn einer von uns im Frühling über die Wiesen von Oberweimar herauf nach Belvedere geht, daß ihm tausendmal Merkwürdigeres in der Natur zum Wiedererzählen oder zum Aufzeichnen in sein Tagebuch begegnet, als dem Kotzebue auf seiner ganzen Reise bis an's Ende der Welt zugestoßen ist. Und das macht blos, weil er[300] von Natur nicht vermögend ist, aus sich und seinem Zustande heraus in irgend eine tiefere Betrachtung einzugehen. Kommt er wohin, so läßt ihn Himmel und Erde, Luft und Wasser, Thier- und Pflanzenreich völlig unbekümmert; überall findet er nur sich selbst, sein Wirken und sein Treiben wieder, und wenn es in Tobolsk wäre, so ist man gewiß damit beschäftigt, entweder seine Stücke zu übersetzen, einzustudiren, zu spielen oder wenigstens eine Probe davon zu halten. Übrigens bin ich keineswegs ungerecht gegen sein ausgezeichnetes Talent für alles, was Technik betrifft. Nach Verlauf von hundert Jahren wird sich's schon zeigen, daß mit Kotzebue wirklich eine Form geboren wurde. Schade nur, daß durchaus Charakter und Gehalt mangelt. Vor wenig Wochen habe ich seinen ›Verbannten Amor‹ gesehen, und diese Vorstellung hat mir ein besonderes Vergnügen gemacht; das Stück ist mehr als geistvoll, es sind sogar Züge von Genie darin. Dasselbe gilt von den ›Beiden Klingsbergen‹, die ich für eine seiner gelungensten dramatischen Arbeiten halte, wie ihm denn überhaupt die Darstellung der Libertinage weit besser, als die einer schönen Natur zu glücken pflegt. Die Verderbtheit der höhern Stände ist das Element, worin Kotzebue sich selbst übertrifft. Auch seine ›Corsen‹ sind mit großem Geschicke gearbeitet, und die Handlung ist wie aus einem Guß. Sie sind beim Publicum beliebt, und das mit völligem Rechte. Versteht sich, daß man[301] nach dem Inhalte, wie immer, nicht besonders fragen darf. Übrigens sind technische Vorzüge dieser Art bei uns Deutschen noch keineswegs so häufig, daß man sie nicht in Anschlag bringen oder gar verächtlich darüber wegsehen sollte. Könnte Kotzebue sich inner halb des ihm von Natur angewiesenen Kreises halten, so würde ich der erste sein, der ihn gegen ungerechte Vorwürfe in Schutz nähme, – wir haben kein Recht, irgend Jemandem Dinge abzufordern, die er von Natur aus nicht zu leisten im Stande ist – aber so mischt er sich in tausend Dinge, wovon er kein Wort versteht. Er will die Oberflächlichkeit eines Weltmannes in die Wissenschaften übertragen, was die Deutschen, und zwar mit Recht, für etwas völlig Unerlaubtes zu halten pflegen. Indeß auch diese Unart möchte ihm noch hingehen, wenn er nur nicht dabei in eine fast unerhörte Eitelkeit verfiele. Ob diese, oder die Naivetät, womit er sie an den Tag legt, größer ist, will ich nicht untersuchen. Er kann nun einmal nichts Berühmtes um, über oder neben sich leiden, und wenn es ein Land, und wenn es eine Stadt, und wenn es eine Statue wäre. In seiner ›Reise nach Italien‹ hat er dem Laokoon, der mediceischen Venus und den armen Italienern selbst alles nur erdenkliche Böse nachgesagt. Ich bin gewiß, besonders was Italien betrifft, er hätte es weit leidlicher gefunden, wenn es nur nicht vor ihm so berühmt gewesen wäre. Aber da sitzt der Knoten! Zur Hälfte ist er ein Schelm, zur andern Hälfte aber,[302] besonders da, wo es die Philosophie oder die Kunst betrifft, ist er ehrlich genug, kann aber nichts dafür daß er sich und andern, wo davon die Rede ist, jedesmal und zwar mit dem erheblichsten Anstande irgend etwas weismacht.«[303]


459.*


1810, Februar (?).


Über Abekens Besprechung

der »Wahlverwandtschaften«

Ihr Brief, lieber Abeken, hat mir [Gries] eine sehr angenehme Überraschung gemacht. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr es mich freut, Sie als den Verfasser eines Aufsatzes kennen zu lernen, der unstreitig unter allem, was über die »Wahlverwandtschaften« geschrieben worden ist, bei weitem den ersten Platz einnimmt. Das will nicht viel sagen, meinen Sie vielleicht, denn das Übrige ist freilich nicht weit her. So lassen Sie sich denn an der Versicherung des großen Meisters genügen, der Ihnen das Zeugniß giebt, daß Sie den rechten Fleck getroffen haben.

Goethe hatte Ihren Aufsatz schon im Morgenblatt [Nr. 19] gelesen und gleich damals seine große Zufriedenheit darüber geäußert. Dies brachte Riemern auf den Gedanken, ihn hier von Frommann nachdrucken zu lassen, um, wie er sagte, Goethen eine angenehme Überraschung zu machen. Es gehe fast kein Tag hin, wo Goethen oder ihm nicht etwas über die »Wahlverwandtschaften« gesagt oder geschrieben werde, und[303] meistens sehr abgeschmacktes Zeug. Um nun nicht immer dasselbe wiederholen zu müssen, habe er diesen Nachdruck veranstaltet. So geht nun Ihr Aufsatz, der durch des Meisters Siegel und Unterschrift gleichsam Gesetzeskraft erhalten hat und völlig wie eine interpretatio authentica anzusehen ist, in alle Welt, um die Heiden zu belehren, wozu der Himmel sein Gedeihen gebe. Goethe und Riemer verschicken und vertheilen ihn an alle Freunde und Bekannte. So sind auch mir einige Exemplare zu Theil geworden, die ich denn auch meinerseits auf Proselytenmacherei ausgeschickt habe.

Was nun den Verfasser anbetrifft, so war Riemer auf den Gedanken gekommen, es sei kein andrer als Schelling. Er hatte dies auch Goethen und andern ziemlich plausibel zu machen gewußt; doch muß ich gestehen, daß ich diese Meinung mehr aus äußern als aus innern Gründen, immer bestritten habe. Mir ist es nun viel lieber, daß Sie es sind; so giebt es doch, außer Schelling, noch Einen in Deutschland, der so etwas hervorbringen kann.

Da ich mich hauptsächlich mit Frommann über diesen Punkt oft sehr lebhaft gestritten hatte, so konnte ich mir den Triumph nicht versagen, ihm Ihren Brief noch ganz brühwarm zu überschicken. Dadurch haben denn auch die andern das Geheimniß erfahren, und Goethe besonders hat mehrmals seine Freude darüber bezeigt. Sie haben nun keinen kleinen Stein bei ihm im Brete.[304]


460.*


1810, 21. März.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Äußerte Goethe: »Das Musikkönnen – musikalisch sein – wird darum so geschätzt, weil es dem Menschen mit der falschen Idee schmeichelt, das, was uns Vergnügen macht, selbstthätig zu beherrschen, sich nicht bloß leidend zu verhalten. In der Rücksicht thut schon das Lesen vis-à-vis der Poesie viel. Wer nicht lesen kann, ist schon passiver und empfänglicher.«[305]


461.*


1810, 23. März.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Bemerkte Goethe: »Der Despotismus befördert die Autokratie eines jeden, indem er von oben bis unten hinab es einem jeden in die Schuhe schiebt.«[305]


1652.*


1810, 27. März.


Mit Bernhard Rudolf Abeken

Bei Goethe, der in dem Schlosse [in Jena] wohnte. Er empfing mich sehr freundlich, und sein Gesicht, jeder Zug desselben schien mir milder, als je. Er dankte mir für meine Theilnahme an den »Wahlverwandtschaften«[63] [im »Morgenblatt« 1810, Nr. 19 ff.] und sprach über das Buch. Hätte ich nur alles behalten! Doch schien er sich in Hinsicht auf meine Fragmente besonders darüber zu freuen, daß ich das Buch als ein für sich bestehendes, mit eignem Leben begabtes Ganzes angesehen. »Ein solches Werk,« sagte er ungefähr, »wächst einem unter den Händen und legt einem die Nothwendigkeit auf, alle Kraft aufzubieten, um seiner Meister zu bleiben und es zu vollenden, wo denn die Scheere nicht gespart werden darf.« Die Leser seien ihm die liebsten, die sich ganz und gar in einem Buche verlieren könnten. Sonst sprach er von dem Werke mit einer Bescheidenheit, die mir wunderbar schien, als wenn es nur für seine Zeit etwas sein sollte.[64]


462.*


1810, 31. März.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Die ersten Menschen in der Revolution, als Lafayette u. a., waren noch eitel und wollten noch, daß die Menge etwas auf sie halten sollte, Napoleon hat ihnen gezeigt, daß gar nichts daranliege. Und das ist das Ungeheure, welches die Menschen noch nicht klein kriegen können, daß nämlich auch der Gegensatz von jenem existire.«[305]


463.*


1810, März und April.


Mit Pauline Gotter u.a.


a.

Von Goethe wird es Sie [Schelling] freuen zu hören, daß er recht heiter und gesund ist; den ganzen Winter war zwar sein Befinden ziemlich abwechselnd, und er hat Theater und Gesellschaft wenig besucht, die Aussicht nach Karlsbad zu kommen, scheint aber schon jetzt im Vorgefühl genesend auf ihn zu wirken. In Weimar sah ich ihn zuerst wieder und habe ihn ganz gegen mich gefunden, wie ich ihn verlassen hatte: liebevoll und herzlich. Beinah sein erstes Wort war Theilnahme an dem Verlust der Lieben, und auf eine so zarte innige Weise, wie ich es von ihm erwarten konnte; dieser Beweis seiner Freundschaft hat mich mehr erfreut, als alles Liebe und Freundliche, was er mir je gesagt hat. Ihnen, werther Freund, dankt er herzlich für Ihr Andenken und hat mir die schönsten Grüße an Sie aufgetragen. Seit dem März hält er sich in Jena auf und hat die Optik beendigt, die nun diese Messe in zwei Theilen erscheint, wie Sie wissen, und nun eilt er so bald wie möglich nach Karlsbad. Auf die nächsten Tage hatte er sich bei uns angemeldet, um mit Silvie und mir recht Spazieren zu gehn; ich werde mich freuen, wenn er worthält; seine Gegenwart ist das einzige, was mich wahrhaft aufregt und erfreut. Schon einigemal[306] war er hier: das erste Mal ganz unter uns von der ausgelassensten Laune; die Gewalt seines Feuers und seiner Lebhaftigkeit habe ich wohl in einzelnen Momenten, aber nie so anhaltend, wie damals, gesehen; er vergaß sich ganz, ließ seine ganze Stimme ertönen und schlug immer mit den Händen auf den Tisch, daß die Lichter umherfuhren; es war eine wahre, unbedingte Lustigkeit. Seine Begeisterung machte den wunderlichsten Contrast mit Hendrich's Prosa und Riemer's Phlegma, die ihn begleitet hatten. Herrliche Dinge sagte er uns über den »Vierundzwanzigsten Februar« und seine Entstehung; er hat auch von Werner die Wirkung des Segens verlangt, aber sein Genie hat ihm bei dieser Aufgabe versagt. Goethe hat indeß selbst den Plan dazu gemacht, aber bloß zu seinem augenblicklichen Vergnügen, wie er meint.


b.

»Der Vierundzwanzigste Februar oder die Wirkung des Fluches« ist ganz recht die Geschichte der Ermordung des rückkehrenden Sohnes durch die Eltern, und das Werner'sche Stück ohne alle Mystik, was in Weimar aufgeführt worden ist, das grausenerregendste und schauderhafteste, was es geben muß, aber das beste nach Goethes Meinung, was Werner in seinem Leben gemacht hätte, oder machen würde. Goethe hat ihm die Aufgabe gegeben und streng eingeschärft, all sein verruchtes Zeug diesmal wegzulassen, sein ganzes Talent[307] aufzubieten und etwas ordentliches zustande zu bringen; das ganze Stück dürfe nur aus drei Personen bestehen. Werner hat gebeten und gefleht, wenigstens ein Kind, eine Katze, einen Hund auf's Theater zu bringen, aber durchaus nicht; endlich hat er doch ohne sein Wissen eine Dohle angebracht.[308]


1653.*


1810, Anfang April.


Mit Carl Ludwig von Knebel

Karl [Sohn des K. L. v. Knebel] ist sehr vergnügt über den Beifall, den die gütige Prinzessin [Caroline] seinen kleinen [zeichnerischen] Arbeiten giebt. Er fühlt wohl, wie weit er ihn verdiene, und Goethe, der mir ihn kürzlich auch lobte, fügte hinzu: er sähe gar wohl ein, was ungefähr zu machen sei und was er nicht könne; man müsse ihm nur immer Muth zusprechen. Und darin hat Goethe recht: den guten Menschen fehlt[64] es gar oft nur an Muth; die schlechten belohnen sich gar leicht selbst durch ihre Eitelkeit; Zutrauen hebt auch das schwächste Talent empor.[65]


1654.*


1810, 20. April.


Mit Carl Ludwig von Knebel

Ich... kann [nur noch sagen], daß Goethe die Prinzeß [Caroline] demüthig bittet, die Gnade zu haben, und ihm das von Kaaz aufgesetzte Recept, Landschaften zu malen, auf kurze Zeit mitzutheilen. Er habe zwar solches auch von ihm erhalten, habe es aber eben nicht gegenwärtig und wisse es auch nicht sogleich vorzufinden. Da er übrigens jetzt den ganzen Tag nichts thue, als Landschaften zeichnen, so möchte er gern die alten Vorschriften wieder nachsehen. Er empfiehlt sich übrigens der Prinzeß und Dir [Henriette v. Knebel] aufs beste. – Weiter will ich nun heute kein Wort zufügen, als daß Goethe noch alle Uebungen und so auch in der Poesie höchlich anpreist, wobei man keine allzustrengen Forderungen an sich machen müsse.[65]


1655.*


1810, 23. April.


Mit Carl Ludwig von Knebel

Gestern hatt' ich einen vergnügten Abend. Goethe war hier nebst seinem Dr. Riemer, und Seebeck war[65] auch da. Goethe war äußerst interessant. Da ich in diesen vier Tagen die philosophischen Schriften des Hemsterhuis wieder las, so sprachen wir viel von dem damaligen Club, der sich in Münster formirt hatte, und wovon gedachter Hemsterhuis, die Fürstin Gallitzin, Graf Stolberg, Jacobi und noch einige mehr die ausgezeichneten Personen waren, und der nachher zu dem Katholicismus des Grafen Stolberg mag Gelegenheit gegeben haben. Diese Periode, die nun bis auf diesen letztern verschwunden ist, war zu seiner Zeit interessant genug und hatte mitunter viel Edles. Sie suchten aber zu bekehren, und das gelang nicht überall. Ich habe Goethe'n ersucht, in seiner Lebensgeschichte diese Gesellschaft vorzüglich zu beschreiben, und er hat es mir versprochen, zumal da ihm die Personen alle noch so gegenwärtig wären. Die Fürstin Gallitzin, geborne Gräfin Schmettau und Schwester des in der Frau v. Stein Hause verstorbenen Generals Schmettau, hat schöne und edle Handlungen gethan.[66]


464.*


1810, 26. April.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Das Vortreffliche, die Tugend, das Ausnehmende macht die Ausnahme, nicht die Regel, in der Welt.«


b.

»Bei den Anstalten zu einem Feste vergißt man oft den einzuladen, dem zu Ehren es angestellt wird.«[308]


465.*


1810, 27. April.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Mittags mit Goethe über moralische Erzählungen in Stanzen; Inhalt, Form, Reime. Goethe äußerte: »Den Menschen ist nur mit Gewalt oder List etwas abzugewinnen. Mit Liebe auch, sagt man; aber das heißt auf Sonnenschein warten, und das Leben braucht jede Minute.«[308]


466.*


1810, 29. April.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Mit Goethe spazieren in Wedel's Garten, wo wir die Frommann und Emmy trafen. Weiber im Garten Blumen pflückend kamen Goethen vor wie sentimentale Ziegen.[309]


467.*


1810, April und vorher (?).


Mit Franz Passow

Sie wissen wohl, daß die bewegliche und geschwätzige Madame Schopenhauer alle Winter gewisse Repräsentationsthees hält, die sehr langweilig sind, besonders seit Fernows Tod; zu denen sich aber alles Gebildete oder Bildung vorgebende drängt, weil Goethe häufig dort zu sehen war. Als ich nach Weimar kam, besuchte ich denn diese Dame auch; sie lud mich zu ihren Thees, und ich besuchte sie den ganzen Winter, aller Langenweile zum Trotz, weil ich Goethe dort zu sehn und ihn zuweilen sprechen und erzählen zu hören mich erfreute, selbst wenig Theil nehmend, weil der ewig mit aufgesperrtem Maul lachende und jachternde frivole Ton des Thees nicht in mein Fach gehört. Als im Herbst darauf (1808) die Thees wieder angehen sollten, kommt die Schopenhauer zu meiner Luise, und nach einigen Umschweifen eröffnet sie ihr: sie bedaure gar sehr, mich[309] nicht wieder zu ihren Thees laden zu können, denn Goethe habe ihr erklärt, er würde in keine Gesellschaft kommen, wo er mich wisse, und aus ihren Thees ein für allemal wegbleiben, wenn ich käme. Was die Schopenhauer bei diesem Zumuthen hätte thun sollen, will ich nicht urgiren, dafür ist sie Madame Schopenhauer. Zugleich bat sie um Gottes Willen, Luise möchte verhindern, daß ich Goethen nicht zur Rede setzte etc., die ganze Sache solle unter uns bleiben. Das versprach Luise gleich in meinem Namen, weil sie über meine Meinung keinen Augenblick im Zweifel war, und verbat die Thees fortan auch für sich. Als ich zu Hause kam, erfuhr ich die wunderliche Geschichte, und sie kränkte mich tiefer als ich damals selbst glaubte, weil ich das Verfahren immer unedel fand, und Goethe Leute um sich duldete, mit denen ich mich in aller Rücksicht vergleichen durfte. Aber ich war lange gewohnt, Goethen nicht nach dem Gesetz zu denken, das uns andern Erdensöhnen unsern Werth oder Unwerth streng zumißt: weil ich in so vieler Hinsicht den Außerordentlichen bewunderte, so gestand ihm mein Gefühl, alle persönliche Kränkung unterdrückend, auch hier, wiewohl mit einigem Widerstreben, das Recht anders zu verfahren, als die gewöhnlichen Zweifüßler, die die Frucht der Erde essen, ruhig zu. Ihn zur Rede zu setzen, wäre mir auch ohne die gegebene Zusage nicht eingefallen: ich glaubte, ihm mißfalle etwas an mir, das er vielleicht selbst nicht aussprechen könnte, und daß er das so bestimmt und[310] entschieden aussprach, konnte ich seiner herrschenden Natur gerade nicht verargen. Hinfort auf Discretion hoffend, zog ich mich, um ihn nirgends durch Zusammentreffen mit mir zu verletzen, ganz auf mich selbst und auf 2, 3 vertraute, bewährte Freunde zurück, von aller guten Gesellschaft ohnehin durch dieß Pröbchen aus der besten zurückgeschreckt. Ich verschloß die Sache übrigens in mir, und erzählte sie niemandem, als Schulzen, und – wo ich nicht irre – dem guten, mir von Kindheit aus befreundeten Plüskow; selbst Abeken weiß sie von mir noch nicht. In dieser Passivität und gänzlichen Zurückgezogenheit, wodurch ich die Verehrung, die ich gegen Goethe bewahrte, jetzt am richtigsten auszudrücken glaubte, vergingen ungefähr anderthalb Jahre. Im vorigen Jahre kam ein alter Freund meines Vaters, der auch mir schon seit längerer Zeit wohl wollte, der Oberst von Hintzenstern, vormaliger Gouverneur des Prinzen Bernhard, nach Weimar und ließ sich hier nieder. Dieser vortreffliche Mann wurde einer der wenigen, mit denen ich umging, der mich näher kennen lernte, und mich lieb gewann. Er wünschte, daß ich mehr Theil nehmen möchte am geselligen Leben, was ich ablehnte, ohne doch mich berechtigt zu fühlen, ihm den Grund zu sagen. Vor einigen Wochen kommt er zu mir, als ich gerade aus bin, und zwischen ihm und meiner Luise entspinnt sich ein Gespräch über mein verschlossenes und zurückgezognes Leben. Da er sich so gar liebevoll über mich äußerte, fühlt Luise sich getrieben,[311] ihm zu eröffnen, was wir als Geheimniß behandelt hatten, und sie erzählt ihm den ganzen Hergang. Hintzenstern ist außer sich, kann dergleichen von Goethe nicht begreifen, und hält alles für Erfindung der Schopenhauer, beschließt indeß der Sache auf den Grund zu kommen, es koste was es wolle. Er horcht hie und da auf, und hat die Freude zu sehn, daß das, was uns als Geheimniß übergeben, und von uns mit der äußersten Schonung behandelt war, in allen adligen Häusern längst bekannte und angenommene Sache war (ob durch das Goethesche Haus, ob durch die Schopenhauer verbreitet, weiß ich nicht, verlang es auch nicht zu wissen), und dazu weiß man auch den Grund jenes meines Bannes, den die Schopenhauer nicht zu wissen sich gegen uns gestellt hatte: »Goethe sei deshalb aufgebracht auf mich, weil ich öffentlich in der Schule seine Gedichte getadelt und auf sie geschimpft habe.« Hintzenstern sagte mir, wie weit er in seinen Nachforschungen gediehen war. Als dieser schöne Grund aber hervorkam, da weiß ich nicht ob ich das höchst lächerliche oder das ganz nichtswürdige einer solchen Lüge am stärksten fühlte. Mir stieg das Blut aber auch vor Freude zu Kopf, daß der Grund nicht in mir selbst, daß er ganz außer mir, daß er in einer Unmöglichkeit lag. Denn daß ich anders, als mit höchster Liebe von einem Goethischen Gedicht sprechen könnte, ist pure Unmöglichkeit. Ich sagte Hintzenstern, soviel ich wußte und konnte, und soviel es zu meiner vollsten Rechtfertigung[312] bedurfte; und das war mit wenig Worten gethan, denn Hintzenstern kennt mich. Nun aber versprach er, alles dran zu setzen, Goethen über seinen Irrthum aufzuklären: er fühlte sich und mich und alles Recht und alle Sitte gekränkt, und das könnte der wohlbesonnene, aber tief und starkfühlende unermüdliche Mann nicht so mit ansehn. Er mußte alles Mißverständniß lösen; Einsiedel und einige andere riethen ihm zaghaft ab, aber er ließ sich nichts einreden. Im Vertrauen auf Goethes rechten Sinn und auf die gute, reine Sache, für die er sprach, ging er zu Goethe, erzählte ihm die ganze Sache, wie man mich in steter Unwissenheit mit der Hauptsache erhalten habe, wie ich die ganze Sache aus ruhigem Selbstgefühl, nicht aus schuldigem Bewußtsein auf sich habe beruhen lassen, wie er den ganzen Vorgang erfahren habe, und wie sehr unrecht mir geschehen sei. So wie Hintzenstern erwartet hatte, nahm Goethe die Sache, äußerte sich freundlich über mich, und wie sehr es ihn freue, ein solches Mißverständniß so, und durch einen solchen Mann gelöst zu sehn, und versprach ihm, mir zu zeigen, daß ihn nichts mehr von mir entferne. Hintzenstern kam ganz außer sich vor Freude angelaufen, und da ich nicht zu Hause war, erzählte er Luisen, wie gut sich Goethe gezeigt und geäußert habe. So verging wieder eine Zeit von 8 Tagen; endlich am letzten Mittwoch ließ Goethe mich und Luise zu Tisch bitten. Es war sonst niemand geladen, und er ließ es sich recht sichtbar[313] angelegen sein, mir auf jede Weise auf's deutlichste zu zeigen, daß keine Spur der alten Mißstimmung und Entfremdung in ihm übrig sei. Die drei Stunden, die wir mit ihm zubrachten, waren mir freilich in mancher Rücksicht peinlich; es war mir alles so fremd und neu und unerwartet: aber es ist auch wieder ein gar süßes Gefühl, sich von einem immerwährend bewunderten und verehrten Manne nach so langer Zwischenzeit nicht mehr verkannt zu sehn, zu sehn, wie der einzig verehrte Mann es sich selbst angelegen sein läßt, jede Spur natürlicher Scheu durch Freundlichkeit und Milde und Hervorsuchen solcher Dinge, die mir die nächsten, liebsten sein mußten, wegzutilgen. So zähl ich diese drei Stunden auch wieder den schönsten meines Lebens bei. Ich kehrte heitrer, als ich gehofft hatte, recht innerlich befriedigt und in schöner Genüge wieder heim, nun auch der ganzen Zwischenzeit, obgleich sie mir erst jetzt recht dumpf und bänglich erscheint, nicht mehr zürnend. Gestern Nachmittag bin ich wieder allein bei ihm gewesen und habe ihm meinen Persius gebracht, von dem ich ihm schon am Mittwoch allerlei hatte sagen und erzählen müssen. Er sprach ganz herrlich über das Alterthum: es wird in seinem Munde jedes Wort so bedeutend, und was er sagt, ist so unaussprechlich wahr, daß man es selbst schon, nur nicht so klar, gedacht zu haben glaubt. Aber, lieber Voß, da schreib ich Ihnen im Strom der Freude lauter Sachen hin, die Sie eben so gut und besser wie ich wissen. Morgen geht Goethe[314] nach Jena auf eine ganze Zeit; aber er hat mir selbst den Anlaß und die Erlaubniß gegeben, ihm dorthin zu schreiben, und in den Osterferien marschir ich selbst nach Jena, und seh ihn dort wieder, und den alten biedern, energischen Knebel, der mir herzlich wohl will.[315]


468.*


1810, 5. Mai.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Die Humanität sei jetzt gegen die Despotie zu richten, wie sonst gegen die Barbaren; das Soldatenleben annehmlich zu schildern, und so daß der Soldat fühle: das Unglück nur werde ihm befohlen; wo er allein stehe, müsse er als Mensch handeln.[315]


469.*


1810,12. Mai.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Goethe äußerte: »Die Menschen sind wie das rothe Meer; der Stab hat sie kaum auseinander gehalten, gleich hinterher fließen sie wieder zusammen.«[315]


470.*


1810, vor 16. Mai.


Mit Carl Ludwig von Knebel

Das Verdienst der schönen menschlichen Rede, wie mir Goethe jüngst sehr schön darthat, übertrifft weit[315] das des Gesanges. Es ist ihm nicht zu vergleichen; seine Abwechslungen und Mannigfaltigkeiten sind für das Gemüth unzählig. Ja, der Gesang selbst muß auf die simple Sprache zurückkehren, wenn er höchst bedeutungsvoll und rührend werden soll; dies haben auch schon alle große Componisten bemerkt.[316]


471.*


1810, 18. Mai.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Auf dem Wege von Hof nach Franzensbrunn besprachen wir Heroische-, Reise-, Liebes-Motive und Charakteristische, einen gewissen Zustand bezeichnende; sodann in Bezug auf seine noch abzufassende Biographie folgendes: »Es giebt eine ironische Ansicht des Lebens im höheren Sinne, wodurch die Biographie sich über das Leben erhebt, eine superstitiose Ansicht, wodurch sie sich wieder gegen das Leben zurückzieht. – Auf jene Weise wird dem Verstand und der Vernunft, auf diese der Sinnlichkeit und Phantasie geschmeichelt, und es muß zuletzt, wohlbehandelt, eine befriedigende Totalität hervortreten.«[316]


472.*


1810, 27. Mai.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Goethe bemerkte: »Ein deutscher Autor, besonders ein theatralischer, soll alles um Gottes willen thun; das bodenloseste Handwerk von der Welt.«[316]


473.*


1810, Mai oder später (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

Metamorphose. »Der Grund von allem ist physiologisch. – Es giebt ein physiologisch Pathologisches, z.B. in allen Übergängen der organischen Natur, die aus einer Stufe der Metamorphose in die andre tritt. Diese ist wohl zu unterscheiden vom eigentlichen morbosen Zustande. Wirkung des Äußern bringt Retardationen hervor, welche oft pathologisch im ersten Sinne sind. Sie können aber auch jenen morbosen Zustand hervorbringen und durch eine umgekehrte Reihe von Metamorphosen das Wesen umbringen.«


b.

»Jeder, der eine Confession schreibt, ist in einem gefährlichen Falle, lamentabel zu werden, weil man nur das Morbose, das Sündige, bekennt und niemals seine Tugenden berichten soll. – Das Übel macht eine Geschichte und das Gute keine.«[317]


474.*


1810, 21. Juni.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Der Mensch kommt moraliter ebenso nackt auf die Welt als physice, obgleich später in diesem Sinne.[317] Daher ist er (seine Seele) in der Jugend so empfindlich gegen die äußere Witterung, ob er sich gleich nach und nach daran bis auf einen gewissen Grad gewöhnt.«[318]


475.*


1810, 26. Juni.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Alles Leiden hat etwas Göttliches; denn insofern es Leiden ist, muß es noch ertragen werden können, obgleich schwer und mit Mühe. Für eine Natur, die darunter erliegt oder es gar nicht fühlt, ist es kein Leiden mehr.«[318]


476.*


1810, 27. Juni.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Man hört so oft über weitverbreitete Immoralität in unserer Zeit klagen, und doch wüßte ich nicht, daß irgend Einer, der Lust hätte, moralisch zu sein, verhindert würde, es nur um so mehr und mit destomehr Ehre zu sein.«[318]


477.*


1810, Juli.


Mit Gottfried Körner

Mit Goethen habe ich in Karlsbad über Schiller's Werke gesprochen. Ich fand bei ihm zwar Wärme für[318] Schiller, aber keine Neigung, sich mit der Herausgabe der Werke zu befassen. Auch zur Fortsetzung des »Demetrius« schien er keine Lust zu haben: es wären, meinte er, noch nicht zwei Acte fertig, also über die Hälfte noch zu machen. Auf meinen Vorschlag, daß ich bei der Herausgabe der Werke alles Mühsame besorgen wolle und er nur die Direction des Ganzen übernehmen möchte, erwiederte er, daß dies sehr thunlich sein würde, wenn wir an Einem Orte wohnten, aber durch Briefe lasse es sich nicht machen. Weiter bin ich nicht mit ihm gekommen und habe mir bloß vorbehalten, ihm noch den Plan zur Billigung vorzulegen. Den Aufsatz über Schiller's schriftstellerische Eigenthümlichkeit lehnte er unter der Äußerung ab, daß ihn dies zu weit führen und zu viel Zeit kosten würde, die er jetzt zu mehreren angestrengten Arbeiten nöthig habe.[319]


478.*


1810, 2. Juli.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Goethe äußerte: »Die Weiber möchten auf der einen Seite lieben und auf der andern geliebt werden und so beide Pole ihres Magneten beschäftigen. Wir wissen es; sie thun es unbewußt.«[319]


479.*


1810, 3. Juli.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Abends nach Tische. Nihil contra Deum, nisi Deus ipse.

Ein herrliches Dictum, von unendlicher Anwendung. Gott begegnet sich immer selbst; Gott im Menschen sich selbst wieder im Menschen. Daher keiner Ursache hat, sich gegen den größten gering zu achten. Denn wenn der größte ins Wasser fällt und nicht schwimmen kann, so zieht ihn der ärmste Hallore heraus. – Napoleon, der den ganzen Continent erobert, findet es nicht unter sich, sich mit einem Deutschen über die Poesie und die tragische Kunst zu unterhalten, einen artis peritum zu consultiren. – So göttlich ist die Welt eingerichtet, daß jeder an seiner Stelle, an seinem Ort, zu seiner Zeit alles übrige gleichwägt (balancirt).[320]


480.*


1810, 6. Juli.


Bei Körners

[Riemer] Abends zu Körners, die Zelter'sche noch ungedruckte Melodien vortrugen. Wo Goethe war.

»Vergnügungen (Bälle, Concerte etc.) zum Besten der Armen kommen mir vor wie eine Ökonomie, wo man mit dem Abgange des Eßbaren noch die Schweine füttert.«[320]


481.*


1810, 11. Juli.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Abends besuchte mich Goethe.

»Lieben heißt leiden. Man kann sich nur gezwungen (natura) dazu entschließen, d.h. man muß es nur, man will es nicht.

In der Jugend und Liebe macht man die frais von allem und hält die Weiber frei in Witz, Geist und Liebenswürdigkeit.«[321]


482.*


1810, 13. Juli.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

Über die doppelte Art von Übersetzungen der Alten und Neuen; die freien nach dem Genius und Bedürfniß des Volks, für das übersetzt wird, und die getreuen nach dem Genius des Volks, aus dessen Sprache übersetzt wird. – »Nicht alle Menschen sollen wie Frauen und Kinder tractirt werden.«


b.

»Wenn das Publikum ein gutes Stück zwanzigmal wiederholt sehen möchte, so würde der Autor nicht genöthigt sein, sich in zwanzig neuen Stücken zu wiederholen.«[321]


483.*


1810, Juli (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

(Unser größter Poet habe nur Geschmack, behauptete Jemand.) –

»Geschmack ist überhaupt der Charakter des neuesten Zeitraums – ich möchte es nicht ableugnen, so wenig wie bei Raphael: denn dieser braucht früher erfundene Motive als die rechten und wahren, aber mit dem höchsten Geschmack, und statt des Religiösen (doch nur des positiv Religiösen) hat er die Weisheit oder die Einsicht in Welt und Menschheit, und wenn er Erfindung hat, so hat er sie auf dieser Seite, d.h. Entdeckung.«


b.

»Nur das Kunstwerk regt die Betrachtung auf; der historische Fall, wenn er gegenwärtig ist, oder die That, nur Haß und Liebe, Abneigung und Zuneigung, Beifall und Tadel. Erst im Spiegel der Kunst kommen wir zu einer ruhigen Betrachtung und zu einer Nutzanwendung.«


c.

»Predigt der Dichter die Moral, so ist er noch schlimmer dran als der Prediger, weil er blos zu einem didaktischen Behuf eine Fabel erfinden müßte oder einkleiden.«


d.

[322] »Die Menschen sind nur so lange productiv in Poesie und Kunst, als sie noch religiös sind; dann werden sie blos nachahmend und wiederholend; wie wir auf das Alterthum, dessen Monumente alle Glaubenssachen waren und von uns nur aus und um Phantasterei und phantastisch nachgemacht werden.«


e.

Äußerungen Goethes: »Der Dilettantismus negirt den Meister.« »Die Meisterschaft gilt für Egoismus.«[323]


484.*


1810, 28. Juli.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Mittags mit Goethe allein. Über Voltaire. Über die Methode, wie er die Tonlehre abhandeln will, vom Ohr und der Kehle als Subjectivem ausgehend.[323]


485.*


1810, 29. Juli.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Methode ist das, was dem Subject angehört, denn das Object ist ja bekannt. Methode läßt sich nicht überliefern. Es muß ein Individuum sich finden, dem die gleiche Methode Bedürfnis ist. Eigentlich haben[323] nur Dichter und Künstler Methode, indem ihnen daran liegt, mit etwas fertig zu werden und es vor sich hinzustellen.«[324]


486.*


1810, 5. August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Der Mensch kann nicht lange im bewußten Zustande oder im Bewußtsein verharren; er muß sich wieder in's Unbewußtsein flüchten, denn darin lebt seine Wurzel.«[324]


487.*


1810, 9. August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Gott nur ist moralisch, kein Mensch ist es vis à vis von sich; man ist es nur gegen Andere, denn Niemand kann sich selbst subordiniren. Gott erzeigt uns die Ehre, uns für Etwas gelten zu lassen, und nur im Fall der höchsten Noth sich der Subordinirung zu entziehen, um sich selbst zu erhalten.«[324]


488.*


1810, 13. August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Es kommt mir nichts so theuer vor, als das, wofür ich mich selbst hingeben muß.«


b.

[324] »Die Eitelkeit ist ohngefähr das, was beim Essen der gute Appetit ist: das Wohlschmecken, das Innewerden des Genusses. Ohne diesen frißt man sich nur voll wie das Thier.«[325]


489.*


1810, August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Die ganze Welt ist voll armer Teufel, denen mehr oder weniger – angst ist. Andere, die den Zustand kennen, sehen geduldig zu, wie sie sich dabei geberden. Es sagt keiner dem andern: das und das ist dein Zustand, und so mußt du's machen.« »Es verräth keiner dem andern die Handgriffe einer Kunst oder eines Handwerks, geschweige denn die vom Leben.« »Handgriff ist ein Compendium, d.h. mit dem wenigsten Aufwand das Zweckmäßige, das Beabsichtigte zu leisten ist der kürzeste Weg, die gerade Linie zum Rechten, zum Effect.«


b.

»Die Weiber wissen niemals, worüber eigentlich die Männer sich nicht vertragen können. Weil sie eben wie die Juden kein Point d'honneur haben und zuletzt immer noch transigiren.«

»Wenn die Weiber Hypochonder sind, so werden sie[325] immer nur die Objecte schelten, niemals sich. Ein Mann hingegen kann mit sich selbst unzufrieden sein und die Objecte zu sehr erheben.«[326]


490.*


1810, 26. August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Frau v. Eybenberg ist umringt von Verehrern und trägt diese dafür auf den Händen.«[326]


491.*


1810, 28. August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Das egoistische Zeitalter kennt keine Ehre; denn die Ehre braucht andere Leute, die sie doch voraussetzt, der Egoist setzt nur sich.«[326]


492.*


1810, 30. August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Bei Goethe. Bemerkte er: »Die Neigung zu einer Sache, das ist ja eben der Sinn dafür.«[326]


493.*


1810, 1. September.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Eigentlich ist es nur des Menschen, gerecht zu sein und Gerechtigkeit zu üben, denn die Götter lassen alle[326] gewähren, ihre Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte; der Mensch allein geht nach Würdigkeit, nach Verdienst aus. Es soll Niemand genießen was besser ist als er; er muß erst desselben werth, d.h. ihm gleich sein.«[327]


494.*


1810, 6. September.


Mittag in Teplitz

Goethe über Tisch sehr treffende Bonmots.

»Wer die Weiber haßt, ist im Grunde galanter gegen sie, als wer sie liebt; denn jener hält sie für unüberwindlich, dieser hofft noch mit ihnen fertig zu werden.«

»Wenn ich die Weiber von Eitelkeit reden und sie sich oder uns vorwerfen höre, so möchte ich immer ausrufen: Vater, vergieb ihnen, sie wissen nicht was sie thun.«[327]


495.*


1810, 13. September.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Friedrich's Gemälde in Dresden waren es, welche Goethe zu folgender Reflexion veranlaßten: »Die Menschen halten sich mit ihren Neigungen an's Lebendige. Die Jugend bildet sich wieder an der Jugend. – Die Claude's sind durch die in Italien reisenden[327] Engländer wieder herausgebracht und der Sinn dafür auf kurze Zeit geweckt worden.«[328]


496.*


1810, 17. September.


Auf der Galerie in Dresden

Eines Morgens, während ich [Luise Seidler] auf der Galerie arbeitete, erscholl die Kunde: Er ist da! Er ist auf der Galerie! »Ich habe ihn gesehen!« rief Frommann, »ich habe ihn gesprochen; er ist in bester Laune.« Die Schwägerin [Betty Wesselhöft] meinte: »Ich weiß nicht, ob es nöthig ist, ihm entgegenzugehen? Ich denke, wir warten ihn hier ab.« Diese Meinung drang durch. Aber als die imponirende Gestalt des Dichterfürsten .... am äußersten Ende der Galerie sichtbar wurde, da flog sie ihm doch schnell entgegen.

Ich blieb allein, überrascht, verdutzt zurück. In kindischer Verlegenheit darüber, daß mir der Moment entschlüpft war, ihn auch sogleich zu begrüßen, flüchtete ich mich in eine Fenstervertiefung. Hier hörte ich, wie Goethe näher kam und an meiner Staffelei stehen blieb. »Das ist ja eine allerliebste Arbeit, diese heilige Cäcilia nach Carlo Dolce!« hörte ich ihn sagen; »wer hat sie gemacht?« Man nannte ihm meinen Namen. Als er ihn erfahren hatte, schaute er um die Ecke und sah mich in meinem Versteck stehen. Ich fühlte das Blut in meine Wangen steigen, als er mir liebreich die Hand[328] bot. In väterlich-wohlwollendem Tone drückte er seine Freude aus, mir hier zu begegnen und ein Talent, von welchem er früher nie etwas gewußt, an mir zu finden. »Wo wohnen Sie, mein Kind?« fragte er weiter. »In der Ostraallee neben dem botanischen Garten,« erwiederte ich. »Da werde ich Sie besuchen; wir wollen zusammen den botanischen Garten besehen und diese herrlichen Augustabende [Gedächtnisfehler ?] recht genießen. Auch kann ich Ihnen noch manches zeigen: es giebt Privatsammlungen hier, die Sie gewiß noch nicht kennen. Nur wünschte ich nicht, daß davon gesprochen wird,« fügte er hinzu...[329]


497.*


1810, 18. bis 24. September.


Mit Luise Seidler

Als meine Nachbarin bemerkte, daß Goethe später oft in der Galerie auf- und niederwandelte und mit mir über Gemälde sprach, bat sie mich, ihn gelegentlich über die Bedeutung einer Schnecke zu fragen, welche im Vordergrunde einer .... »Verkündigung« von Mantegna angebracht war. Ich benutzte einen günstigen Augenblick dazu, als der Dichter am nächsten Morgen wie gewöhnlich die Galerie besuchte. »Diese Schnecke ist ein Zierrath, meine Freundin, welchen die Laune des Malers hier angebracht hat. (Ich hole Sie heute mit dem Wagen ab, wir fahren zusammen spazieren!)« flüsterte er mir dazwischen in aller Schnelligkeit zu;[329] dann fuhr er in seinem vorigen Tone fort: »Die Maler haben oft solche Phantasien und Einfälle, denen nicht immer eine tiefere Beziehung zum Grunde liegt.« Er beendete nun seine Belehrung, als sei jene Einschaltung gar nicht gemacht worden.

Gegen Abend kam wirklich der Wagen; Goethe und Seebeck saßen darin; wir fuhren an dem herrlichen Augustabend [Gedächtnisfehler ?] durch Dresdens reizende Umgegend. So geschah es mehrmals; ich erlebte köstlichste Stunden ....

Goethes Abschied von Dresden wurde mir erleichtert durch seine Einladung, ihn im Winter in seinem Hause zu besuchen. Er wollte mir erlauben, ihn zu malen, um mich dadurch als Portraitmalerin bekannt zu machen. Auch wünschte er, daß ich ihm meine Arbeiten zuschicke, damit er sie den Weimarischen Fürstlichkeiten zeige.[330]


498.*


1810, 18. September.


Bei Körners

Goethe war auch in Karlsbad und ich [Emma Körner] war äußerst begierig, ihn nach mehreren Jahren wieder zu sehen; die erste Zusammenkunft mit ihm entzückte mich indessen nicht, da er immer etwas steifes hat, ehe man genauer mit ihm bekannt wird, und obgleich er meine Eltern nun doch schon so lange kennt, konnten wir es doch während unsers ganzen Aufenthalts in Karlsbad nicht dahin bringen, mit ihm auf[330] einen zutraulichern Ton zu kommen, aber bei einem Aufenthalt von 14 Tagen, den er nach vollendeter Badecur in Dresden machte, hat er uns reichlich für diese Förmlichkeit entschädigt, indem er ein ganz andrer Mensch war, als wir ihn früher gesehn, und seine Art, sich über so manche Gegenstände mitzutheilen, uns unendlichen Genuß gewährt hat. Er nimmt großes Interesse an Musik, und unsre kleine Singakademie machte ihm sehr viel Freude. Dresden hat ihm so wohl gefallen, daß er uns versprochen, künftiges Jahr wieder hier durchzugehn und dann einen längern Aufenthalt zu machen; er hatte uns auch eingeladen, ihn diesen Winter in Weimar zu besuchen, was aber bei dem Vater seinen Geschäften leider ganz unmöglich ist.[331]


499.*


1810, September.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Jedes Kunstwerk motivirt nur durch causas proximas, nicht durch remotas oder remotissimas, weil es sich isoliren muß. Das Motiviren, das ins Detail geht, haben die Engländer aufgebracht.«[331]


500.*


1810, 27. (?) September.


Mit Samuel Gottlob Frisch

Chevenix behauptete, die Oryktognosie sei in Freiberg nur als Kunst betrieben worden. Fast mit ihm[331] übereinstimmend äußerte sich Goethe gegen den Verfasser dieser Schrift ..... »Werner's Oryktognosie,« sagte er, »ist mehr eine Kunst, als eine Wissenschaft, wird von ihm mehr nach einem feinen Tact geübt, als durch Belehrung auf andere übergetragen.«[332]


501.*


1810, 1. October.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Der Unterschied zwischen alter und neuer Kunst ist kein solcher, wie ihn die Herren Unterscheider von Antik und Romantisch machen, sondern die neue Kunst ist nur eine limitirte alte, eines Unzulänglichen in Form und Stoff. Hier tritt die Sehnsucht ein statt der Befriedigung. Auf die Befriedigung kann jedoch eine neue Sehnsucht (nach der Fortdauer, Wiederkehr etc.) eintreten, aber die Sehnsucht nach dem Genuß ist ein Anderes als die ohne allen Genuß.«[332]


502.*


1810, 2. October.


Mit Carl Ludwig von Knebel

Ich schrieb kaum gestern diese letzte Zeile, als Goethe mit lautem Geräusch meine Treppe heraufkam und zu mir hereintrat. Er kommt mit frischem Geist und Muth und hat mancherlei Neues gesehen. Gerne erzählte[332] er von der Österreichischen Kaiserin, wie sie lieblich sei, wohlunterrichtet, durchaus ohne Leidenschaft, aber voll gutem Geist, jedem nach seiner Art ihr Wohlwollen zu bezeugen, und immer heiter im Geiste und voll Gunst gegen jedermann. Sie habe zwei Lehrer gehabt, die sie vorzüglich wohl unterrichtet hätten und ihr die Geschichte und andre Wissenschaften als Schulunterricht gaben, wovon sie sich viele Hefte mit Fleiß aufgehoben. In der Geschichte sei sie durchaus bewandert, und über Montesquieu und andere Schriften spräche sie, als wenn sie solche gestern gelesen hätte und raisonnirte selbst nach ihrer kaiserlichen Art sehr wohl darüber. Von des Königs in Holland gutem Verstand, großer Unterrichtung und menschenfreundlichem Wesen erzählten sie [so!] mir nur weniges, weil Goethe sogleich wieder nach Weimar abfuhr. Ich hatte gestern vielen Besuch von denen, die Goethe nur einen Augenblick sprechen wollten und unter andern von dem Schuldirector Niethammer aus München, der ein feiner Mann ist und dessen Nachrichten von den bayerischen Unterrichtsanstalten denen, die Goethe von der jetzt in Böhmen aufblühenden Cultur uns gab, so schnurstracks zuwiderliefen. Dieser erzählte nämlich, daß man in Böhmen und vorzüglich in Prag sich sehr zu cultiviren anfange und dies vorzüglich durch Anstiften einiger Privatpersonen von Vermögen. Diese hätten unter anderm eine große Zeichenschule in Prag gestiftet, die ausgebreiteten Nutzen verschaffe; aber auch alle Wissenschaften[333] und feinern Künste fingen an, daselbst emporzukommen, und sie hätten einige ganz vorzügliche Menschen hiezu, worunter er unter andern einen jungen Mann Bolzano nannte, dessen Bekanntschaft er in Karlsbad gemacht, und der eben jetzt ein kleines Werkchen von sehr vorzüglichem Werthe und Geist herausgegeben habe. Das macht doch Freude! – Goethe denkt etwa in vierzehn Tagen wieder hier zu sein, um dann länger zu verbleiben. – In Dresden war er sehr vergnügt und beschäftigte sich sehr mit den dortigen Schätzen der Kunst. Auch die Gegend hat viel Annehmliches.[334]


503.*


1810, October.


Über Carl August Böttiger

Die Großfürstin [Maria Paulowna] fragt ihn [Goethe] über seinen Aufenthalt in Dresden und setzt hinzu: »Da werden sie ja wohl auch Ihren Freund Böttiger« (sie ahndete nichts Arges) »gesehen haben.« »Nein!« antwortete Goethe mit stolz zurückgeworfnem Kopf, »er hat sich wohl inacht genommen, mir unter das Auge zu treten.« Ich [Böttiger] weiß dies von jemand, der bei dieser Unterredung gegenwärtig war.[334]


504.*


1810, 23. October.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Äußerung Goethes: »Doppelte Ansicht der litterarischen Productionen, moralisch und ästhetisch, nach ihren Wirkungen, und nach ihrem Kunstwerth. Gewirkt hat das schlechteste Werk so gut als das beste, der Werther, der Siegwart, der Messias, Geßners Idyllen, der schlechteste Roman wie der beste; aber sie sind nicht alle – Kunstwerke.«[335]


505.*


1810, 26. October und vorher.


Mit Charlotte von Schiller u.a.

Der Meister [Goethe] ist gar galant und freundlich und ich freue mich, daß die Großfürstin sich mit ihm viel unterhält. Sie hat auch eine Freude jetzt, sich über Kunst mitzutheilen, über Geschichte, und wir haben einige recht schöne Abende erlebt.

Am 26. October, wo großer Ball war und der Meister mit seinem Sohn erschien (der Kammerassessor geworden), entstand eine höchst komische Situation .... Man meldete seinen Wagen vor dem Souper und ich nahm seine Einladung an, mit nach Hause zu fahren. Als wir auf die Treppe kommen, sagte er, ich möchte verzeihen, wenn er langsam ginge; denn er habe seit Mittags Schmerzen von neuen Schuhen, die er sich in[335] Dresden habe machen lassen. Daß er gerade mich erwählte, mit ihm nach Hause zu fahren, die auch an demselben Übel durch Pariser Schuhe litt, war aber recht lustig, und wir haben recht darüber gelacht.[336]


506.*


1810, 31. October.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Als ich Goethe zur Fortsetzung der Pandora ermunterte, sagte er: Wenn er seine Schätze heben wolle, so versänken sie immer wieder zurück und er sähe die glühenden Kohlen gar nicht mehr, die sich ihm verlöschten.[336]


507.*


1810, 5. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Aus einem Gespräch mit Goethe. Tyrannentödter in der deutschen Literatur, zu einer Zeit, wo es gar keine Tyrannen gab, wo unter die Fürsten das Bestreben nach Humanität gekommen war. – Aus der Wäßrigkeit und Breite ging man zuerst zur Concinnität (Gedrängtheit) über. Ramler, Haller. Lessing war zuerst noch weitschweifig. Diese Schritte gegen sich selbst machte auch Goethe; nur ist aus dieser Periode wenig von ihm übrig; blos die Lieder bei Breitkopf, die Laune des Verliebten und die Mitschuldigen.

[336] Nach dieser Systole war er der erste, der sich wieder diastolisirte im Götz etc.[337]


508.*


1810, 10. November.


Mit Johann Daniel Falk

Es war am 10. November 1810, als Goethe nicht längst von Teplitz zurückgekommen war. Folgende nähere Umstände über seinen dortigen Aufenthalt habe ich damals wörtlich, wie er sie mir mittheilte, niedergeschrieben.

Er wohnte daselbst in dem nämlichen Hause, wo sich auch der König von Holland einmiethete. Goethe wollte sogleich ausziehen und die ganze Etage räumen, der König aber litt es nicht, sondern erklärte, daß er auf keinen Fall Gebrauch davon machen würde.

Goethes Urtheil über den König von Holland, den er von nun an zum öftern sah, und mit dem er, nur durch die Thür eines Schlafzimmers von ihm getrennt, eine Zeitlang in Teplitz zubrachte, bin ich im Stande, da ich dies noch an demselben Abende schreibe, aus treuem Gedächtniß wiederzugeben.

»Ludwig,« sagte Goethe, »ist die geborene Güte und Leutseligkeit, sowie sein Bruder Napoleon die geborene Macht und Gewalt ist. Sonderbar überhaupt sind die Eigenschaften unter diesen Brüdern gemischt und vertheilt, die doch als Zweige einer und derselben Familie angehören. Lucian z.B. verschmähte ein[337] Königreich und beschäftigte sich zu Rom mit der Kunst. Mit dem sanften Ludwig scheint die Niederlegung eines zweiten Königreiches in so stürmischen Zeiten, wie die unsrigen, geboren zu sein. Milde und Herzensgüte bezeichnen jeden seiner Schritte. Sonach ist es keineswegs Eigensinn, wie man gemeint hat, der ihn zu dieser auffallenden Handlung, seinem Bruder gegenüber, verleitete; im Gegentheil ist Ludwig einer der sanftmüthigsten, friedfertigsten Charaktere, die ich im Laufe meines Lebens kennen lernte; nur, was freilich eben daraus folgt, daß ihn alles Ungerechte, Ungesetzmäßige, Unbarmherzige in tiefster Seele verletzt und ihm gleichsam von Natur zuwider ist. Irgend ein Thier gequält, ein Pferd gemißhandelt, oder ein Kind leiden zu sehen, erträgt er nicht; man sieht es seinen Geberden, seinem ganzen Benehmen in solchen Lagen an, es empört sein Inneres; es macht ihn unglücklich, wenn in seiner Gegenwart etwas Rohes geschieht, ja, wenn er auch nur davon erzählen hört. Vorfallende Unschicklichkeiten in Beziehung auf seine Person vergiebt er weit leichter. Eine schöne Seele, eine überall ruhige Fassung des Gemüthes, im Hintergrunde Gott ohne die geringste religiöse Schwärmerei – das sind die ersten, die wesentlichsten Grundzüge zu Ludwigs Charakter, die dabei zugleich einen Theil eines ganz unverfälschten Wesens ausmachen, das nicht etwa anerzogen, angelernt, sondern dieser schönen Natur ganz eigenthümlich ist. Wie ein glänzender Silberfaden zieht sich die Religion durch alle[338] seine Gespräche und Urtheile; sie erheitert gleichsam den dunkeln Grund seiner oft etwas schwermüthigen Lebensbetrachtung. Was irgend in der Weltgeschichte sein schönes sittliches Wesen schmerzlich berührt, erhält sogleich eine sanfte Abweisung. Er verwirft daraus alles, was nach seinem Gefühle nicht recht und wider die göttliche Vorschrift ist. Hieraus entsteht nothwendig die Beschränkung seines Urtheils in manchem Stücke, die aber durch die Ruhe eines schönen Gemüthes unter allen noch so trübseligen Umständen reichlich aufgewogen wird. Die Zeit ist nach seiner Meinung heftig verworren und sehr böse, aber daraus folgt keineswegs, daß sie immer so bleiben werde. Man darf in seiner Gegenwart keine Maxime aussprechen, die irgend einer seiner christlich moralischen Ansichten zuwiderlautet oder sie gar aufhebt, sonst wird er still, wortkarg, oder wendet sich, jedoch ohne Streit und Widerspruch, aus dem Gespräche. Als er nach Teplitz kam, fühlte er sich so schwach, daß man ihn führen mußte; in der Folge ging es aber besser. Wie es einem so zart und empfindlich gestimmten Wesen gelingen konnte, den schweren Kampf zwischen Holland und seinem eisernen Bruder durchzukämpfen, ohne daß das Gewebe seiner Nerven zerriß und er selber zugrunde ging, ist mir noch immer ein Räthsel. Es ist bewundernswürdig, daß die Macht der Idee ihn so über den widerwärtigen Umständen emporgehalten hat. Was er als Oberhaupt einer berühmten Nation dieser, was er sich selbst schuldig[339] zu sein glaubte, nachdem er sich dessen einmal als König von Holland bewußt geworden war, verfolgte er auch gegen Frankreich und gegen seinen Bruder mit demjenigen strengen und sittlichen Ernste, der seiner Natur eigen ist. Von dem Augenblicke an, wo Napoleon von der Schelde, von dem Rheine, von der Maaß nur noch wie von den Adern des großen französischen Staatskörpers sprach und das Blut, was die tapfern Vorfahren unter Philipp dem Zweiten, um Holländer zu sein, so heldenmüthig verspritzt hatten, gar nicht weiter in Anschlag brachte, blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Thron zu verlassen, den er nicht länger glaubte auch nur mit einiger Würde behaupten zu können. Es ist dieses sonach kein Schritt, der, um Aufsehen zu erregen, von ihm gethan wurde, sondern alles, was in dieser Sache öffentlich geschehen ist, geht vielmehr aus der innersten Überzeugung eines Wesens hervor, dem die Ruhe und der Friede eines guten Gewissens das schätzbarste Kleinod auf Erden sind und mehr als der Besitz eines Thrones gelten. Hiezu kommt noch eine äußerst liebliche Erscheinung, die besonders seinem Umgange eine große Annehmlichkeit ertheilt. Man bemerkt nämlich weder Philosophie, noch Grundsätze, noch irgend etwas dergleichen in seiner Unterhaltung, was von irgend einer Seite scharf und verletzend für die anders Gesinnten hervortritt; es ist vielmehr die reine, gütige Natur selbst, die vor uns steht und, ihren angeborenen sanften Trieben gemäß, heitere Geständnisse[340] ablegt. Grundsätze haben noch Logik und lassen Streit, Zweifel und Auslegungen zu, das echte Gewissen aber kennt blos Gefühle und geht geradewegs auf den Gegenstand zu, den es liebend zu umfassen gedenkt und, wenn es ihn umfaßt, auch nie wieder losläßt. Wie die unschuldige Herde auf der Wiese diejenigen Blumen und Kräuter, welche ihr der Instinkt als giftige ankündigt, oder als schädlich verbietet, nicht mit Füßen zerstampft, oder sie voll Unmuth und Ingrimm zerstört, sondern ruhig stehen läßt, weitergeht und blos das nimmt, was ihr eigentlich zur Nahrung dient und ihrer sanften, friedfertigen Natur gemäß ist, ebenso betrachte ich die Neigungen und Abneigungen einer wahrhaft sittlich schönen Natur, vor welcher alle jene in Schulen angelernte Künste nothwendig beschämt in den Hintergrund zurücktreten müssen.

Ich kann sagen, daß, wo ich in meinem Leben das Glück hatte, einer solchen wahrhaft sittlichen Erscheinung zu begegnen, sie mich ausnehmend anzog und erbaute, wie ich denn auch in dieser Zeit meinen Freunden in Teplitz sehr oft zu sagen pflegte: man verläßt den König von Holland nie, ohne daß man sich besser fühlt. Mit großer Seelenerhebung gestand ich es mir selbst, wenn ich ihn so ein paar Stunden gesehen und gehört hatte: wenn dieses anmuthig zarte und beinahe frauenhaft entwickelte Wesen in so großen, ungeheuern Weltverhältnissen das konnte, solltest du als Privatmann in beschränkten Kreisen nicht dasselbe[341] leisten können, oder wenigstens Muth und Fassung aus seinem Beispiel zu schöpfen im Stande sein? Es läßt sich schon ahnen, daß ein aller sittlichen Anerkennungen so fähiges und schönes Gemüth auch vor dem Charakter aller nordischen Völker und ihres Thuns und Lassens eine gleichsam angeborene Ehrfurcht in sich trägt, daher zeigen sich im Könige von Holland stille Anneigungen zu Preußen und Sachsen. Man möchte wohl mit dem Schicksale rechten, wofern nicht andere und tiefere Pläne desselben im Hintergrunde der Zeit liegen, die wir nicht zu errathen im Stande sind, daß es gerade seinen Bruder und nicht ihn zum Könige von Westfalen machte.

Ernst mit Sitte verbunden, beide ohne die geringste Strenge, Frömmigkeit ohne allen Stolz und Dünkel, ohne irgend eine trübe Beimischung von Furcht und Aberglauben, grundredlich und grundgütig zugleich – sollte man nicht glauben, daß dieser Charakter gänzlich dazu geeignet war, mit Allem, was der deutsche Charakter Vortreffliches oder Schätzenswerthes an sich trägt, eine innige Verbindung, ja Durchdringung einzugehen? Aber auch in solchem an sich so erwünschten Falle würde schwerlich so viele angeborene Herzensgüte, wenigstens auf keine Weise mit Beibehaltung von Ludwigs Verhältniß zur französischen Nation, sich auf die Länge frei und selbständig behauptet haben, und es würde nur allzubald wiederum ebenso wie in Holland gegangen sein. Sein Reich ist nicht von dieser Welt und noch weniger von dieser Zeit. –

[342] In den Umgebungen des Königs begegnete ich einem Doctor, dessen Ansichten oft etwas schroff, um nicht zu sagen katholisch beschränkt waren. Er sprach sogar manchmal von der allein seligmachenden katholischen Kirche, was aber der König im Gespräche nie aufnahm, der, wie gesagt, ebenso mild als ernst und menschlich in seinen Ansichten, sich keiner Einseitigkeit hingab. Ich suchte meine Fassung in solchen Fällen so viel nur immer möglich beizubehalten; einmal aber, da er wieder einige fast capuzinermäßige Tiraden, wie sie jetzt gang und gäbe sind, über die Gefährlichkeit der Bücher und des Buchhandels vorbrachte, konnte ich nicht umhin, ihm mit der Behauptung zu dienen: das gefährlichste aller Bücher in weltgeschichtlicher Hinsicht, wenn durchaus einmal von Gefährlichkeit die Rede sein sollte, sei doch wohl unstreitig die Bibel, weil wohl leicht kein anderes Buch so viel Gutes und Böses, als dieses, im Menschengeschlechte zur Entwickelung gebracht habe. Als diese Rede heraus war, erschrak ich ein wenig vor ihrem Inhalte; denn ich dachte nicht anders, als die Pulvermine würde nun nach beiden Seiten in die Luft fliegen. Zum Glück aber kam es doch anders, als ich erwartete. Zwar sah ich den Doctor vor Schrecken und Zorn bei diesen Worten bald erbleichen, bald wieder roth werden, der König aber faßte sich mit gewohnter Milde und Freundlichkeit und sagte bloß scherzweise: ›Cela perce quelquefois que Monsieur de Goethe est hérétique.‹

Zu Amsterdam fühlte sich der König so sehr als[343] Holländer, daß es ihn, wenigstens so lange er in dieser Stadt lebte, sehr verdroß, daß die Großen daselbst häufig ihre Muttersprache vernachlässigten und fast nichts als Französisch sprachen. ›Wenn Ihr nicht Holländisch sprechen wollt,‹ sagte er zu Einigen von ihnen halb im Ernste und halb im Scherze, ›wie mögt Ihr nur glauben, daß sich irgend Jemand sonst in der Welt die Mühe geben wird, es zu sprechen?‹«[344]


509.*


1810, 13. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Mittags mit Goethe allein gegessen. Über die Aufführung und Besetzung von Faust.

Beides wurde nachher von mir und Wolff noch näher verabredet und das Taschenexemplar danach eingerichtet, wenigstens zum Theil.[344]


510.*


1810, 14. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Die Vollkommenheit der Technik, könnte man beinahe sagen, schließt die Kunst aus in allem, was zum Lebensgenuß, zum Comfort etc. gehört, weil sie auf das Mathematische, d.h. auf das Nothwendige geht.«[344]


511.*


1810, 15.1 November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Bei Gelegenheit von Philippus Neri, der in seiner Jugend sich ein paar Brustrippen zerbrochen, wodurch das Herz zu viel Spielraum bekommen, weswegen er auch immer an Herzklopfen gelitten, bemerkte Goethe: »Es sei ein Wahn, was man von einem großen Herzen behaupte; die ärgsten Lumpe hätten immer die größten Herzen gehabt. Das eigentliche Leben sei in den Adern, außenhin, und das Herz nur, wie bei den Röhrenfahrten, der Punkt, von wo aus die Richtung bestimmt wird.«


1 Wohl so, statt 13.?[345]


512.*


1810, Mitte November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Das Lebendige schon muß man schätzen. Alle Literatur, italienische, französische, deutsche, ist wie eine Gestaltung aus dem Wasser zu Mollusken, Polypen u. dgl., bis endlich einmal ein Mensch entsteht.

Haug ist ja auch etwas, ein Mensch, wer kann leugnen, daß er einen Einfall habe? Lieber Gott! was sind wir denn alle? etc.«[345]


1656.*


1810, Mitte November.


Über eine Erzählung Johann Peter Hebels

Neulich hat uns Wolf bei Frau v. Schardt einpaar Lieder von Hebel declamirt ..... Die Geschichte von dem Bergmann in Falun hat uns der Geheimrath Goethe in einer Gesellschaft vorgelesen. Wir haben[66] alle geweint, so rührend hat er es mit seiner schönen Stimme gelesen. Er sagt: es sei die erste Geschichte in allen zweiundvierzig Taschenbüchern, die in dieser Messe erschienen sind.[67]


513.*


1810, November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Unsere Kunstrichter werden transscendent, da sie blos das Transscendentelle wollen sollten; sie sprechen immer das aus, was sie verschweigen sollten, wie es der Künstler (Iffland) ja selbst macht, der das, woraus er etwas thue, verschweigt. Sie hängen immer die Ringe an Zeus' Ruhebette auf. Mir kommen sie vor wie die katholischen Priester, die überall das Meßopfer bringen. Diese Art von Ästhetik ist nicht productiv; denn man kann nicht mehr darüber hinaus.«


b.

»Die jetzige Generation entdeckt immer, was die alte (vorhergehende) schon vergessen hat.«[346]


514.*


1810, 4. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Inter coenam. Als von dem Eigensinn und der Eigenwilligkeit der jetzigen jungen Künstler die Rede war, als: Weißer, Friedrich, Kleist, bemerkte Goethe:

»Sie meinen, außer dem Rechten gäbe es noch ein Rechtes, ein anderes Rechtes, das hätten sie. Wie wenn es außer dem Schwarzen in der Scheibe noch eins gebe, und da schießen sie denn ins Blaue.«[346]


515.*


1810, December (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Vegetabile Geister und animale Geister, etwa wie Pflanzen und Thiere, Weiber und Männer, jene die gleichsam einen Boden verlangen, in dem sie sich befestigen und ihre Nahrung daraus ziehen, irgend eine Wissenschaft, andere die herumgehen und alles genießen und zu ihrem Nutzen verwenden, wie die Poeten. –

Poet und Künstler – jenes ist genus, dieses species; Dichter ein Universelleres, zugleich Philosoph.«[347]


516.*


1810, 24. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Alles muß man lernen: die Verachtung der andern, die uns als eine Maske begegnet, eine wohlbekannte, doch befremdlich; denn man muß lieben, was uns haßt, das vortreffliche haßt, – eben weil es nur ein Irrthum ist.« (Cf. die Artikel Görres.)


b.

»Da die Rede die Sinne und das innere Vorstellungsvermögen vertreten muß, so muß sie auch zu diesen reden und der Ausdruck sinnlich und repräsentativ sein.«[347]


c.

»Geduld, Hoffnung, Glaube, Liebe, alle diese Tugenden sind die Vernunft actu, in Ausübung, sie sind die ausgeübte Vernunft.«[348]


1502.*


1810, December (?).


Bei der Leseprobe von Calderons

»Standhaftem Prinzen«

Die günstigsten Resultate, die Goethes Schüler in der deutschen und auch englischen dramatischen Literatur sich errungen, bestimmten ihn, sich nun auch der spanischen zuzuwenden. Den ›Standhaften Prinzen‹ von Calderon hatte er schon längst in's Auge gefaßt und mit Riemer, Wolff und auch mit mir [A. Genast] darüber gesprochen. Ende 1810 wurden die Rollen davon vertheilt und die ersten Leseproben in Goethes Wohnung abgehalten. Er war äußerst penibel dabei: Komma, Semikolon, Kolon, Ausrufungs- und Fragezeichen mußten bei der Recitation streng eingehalten werden; er verlangte fast für jedes dieser Zeichen ein Zeitmaaß und bezeichnete deren Länge bildlich so:

- , – - ; – – – : – – – - ! – – – – - ? – – – – – – - .

[311] Auf diese Weise erlangte er, daß einer wie der andere die Verse sprach, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Es war im Anfang ein fast automatisches Sprechen, als sich aber nach und nach diese Methode entwickelte, welcher Reiz, welch poetischer Schwung trat endlich in der Rhetorik hervor! Musik war sie zu nennen.[312]


517.*


1810, Ende December.


Mit Pauline Gotter

Wir waren einen Tag in Weimar. Er [Goethe] besuchte uns gleich; dann ging ich mit ihm in's Theater, wo uns ein schlechtes Stück völlige Freiheit ließ, uns nach einer so langen Trennung recht angelegentlich zu unterhalten. Er schrieb früher: die Zeit und die Abwesenheit hätten nichts an ihm und seinen Gesinnungen verändert, und ich fand es auch wahr: er schien ebenso herzlich, ebenso liebevoll, wie sonst, was mich innig freute, wenn auch die lebhaftern Versicherungen seiner Zuneigung mich stets beschämen; denn ich fühle recht gut, daß ich sie mehr dem zufälligen Zusammentreffen der Umstände, als mir selbst zu verdanken habe. Ich habe Goethen von Ihnen, werther Freund [Schelling]! Grüße gebracht, die er schönstens erwiederte; er freute sich sehr, daß ich ihm sagen konnte, sie hätten sich mit seiner Farbenlehre diesen Sommer beschäftigt, und er äußerte sehr lebhaft den Wunsch, einmal mündlich mit Ihnen darüber sprechen zu können. Künftige Woche haben wir die frohe Aussicht, ihn ganz in unsere Nähe[348] zu bekommen: er bringt vierzehn Tage in Jena zu, um an Hackert's Leben fleißig zu arbeiten, das die Ostermesse erscheinen soll. Er hat von Dresden aus Compositionen zu seinem »Faust« erhalten, mit denen er sehr zufrieden ist: die Hexenküche und den Spaziergang vorstellend.[349]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 2, S. 348-350.
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