1813

572.*


1813, 25. Januar.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Es ist unglaublich, was die Deutschen sich durch das Journal- und Tagsblattverzetteln für Schaden thun: denn das Gute, was dadurch gefördert wird, muß gleich vom Mittelmäßigen und Schlechten verschlungen werden. Das edelste Ganggestein, das, wenn es vom Gebirge sich ablöst, gleich in Bächen und Flüssen fortgeschwemmt wird, muß wie das schlechteste abgerundet und zuletzt unter Sand und Schutt vergraben werden.«[51]


573.*


1813, 25. Januar.


Mit Johann Daniel Falk


a.

Montag den 25. Januar... war Wieland's Begräbnißtag ..... Ich fühlte mich zu tief erschüttert, als daß ich diesem Leichenzuge hätte beiwohnen können. Auch war ich auf Nachmittag zu Goethe beschieden, für dessen Gesundheit wir mehr, als jemals unter diesen Umständen zu fürchten hatten. Er war ebenfalls durch diesen Todesfall äußerst bewegt .... Als unter anderm zufällig auch die Rede auf seine »Natürliche Tochter« kam, von welcher gestern... eine Vorlesung gehalten wurde, fragte ich ihn, ob wir bald eine Fortsetzung derselben erwarten dürften. Goethe schwieg eine Weile, alsdann gab er zur Antwort: »Ich wüßte in der That nicht, wo die äußeren Umstände zur Fortsetzung oder gar zur Vollendung derselben herkommen sollten. Ich habe es meinerseits sehr zu bereuen, auf Schillers Zureden von meinem alten Grundsatze abgegangen zu sein. Dadurch, daß ich die bloße Exposition dieses Gedichtes habe drucken lassen – denn für mehr kann ich das selbst nicht ansprechen, was im Publicum davon vorhanden ist – habe ich mir alle Freude an meiner Arbeit gleichsam imvoraus hinweggenommen. Die verkehrten Urtheile, die ich auf diesem Wege erfahren[52] konnte, mußten dann auch das Ihrige dazu beitragen. Kurz, ich bin selber so völlig von dieser Arbeit zurück, daß ich damit umgehe, auch sogar den Entwurf des Ganzen unter meinen Papieren zu zerstören, damit nach meinem Tode kein Unberufener kommt, der es auf eine ungeschickte Art fortsetzt.«

Ich bemerkte, um Goethes Mißmuth etwas zu mildern, was Herder ehemals zu mir von dieser Tragödie gesagt hatte, und führte zu dem Ende seine eigenen Worte an. Er nannte sie die köstlichste, gereifteste und sinnigste Frucht eines tiefen, nachdenkenden Geistes, der die ungeheuern Begebenheiten dieser Zeit still in seinem Busen getragen und zu höheren Ansichten entwickelt hätte, zu deren Aufnahme die Menge freilich gegenwärtig kaum fähig wäre. »Wenn dem so ist,« fiel mir Goethe ins Wort, »so laßt mich das Obengesagte wiederholen: wo sollen wir die Zeitumstände zur Fortsetzung eines solchen Gedichtes hernehmen? Was jener geheimnißvolle Schrank verberge, was ich mit dem ganzen Gedichte, was ich mit dem Zurücktreten der Fürstentochter in den Privatstand bezweckte - darüber wollen wir uns in keine nähere Erklärung einlassen; der Torso selbst und die Zeit, wenn der finstere Parteigeist, der sie nach tausend Richtungen bewegt, ihr wieder einige Ruhe der Betrachtung gestattet, mag für uns antworten!« – »Gerade von diesen Punkten aus war es,« fiel ich ihm ins Wort, »wo Herder eine sinnreiche Fortsetzung und Entwickelung des allerdings[53] mehr epischen als dramatischen Stoffes erwartete. Die Stelle besonders, wo Eugenie so unschuldig mit ihrem Schmucke spielt, indeß ein ungeheures Schicksal, das sie in einen andern Welttheil wirft, schon dicht hinter ihr steht, verglich Herder sehr anmuthig mit einem Gedicht der griechischen Anthologie, wo ein Kind unter einem schroff herabhängenden Felsen, der jeden Augenblick den Einsturz droht, ruhig entschlafen ist. Im Ganzen aber – wie er zugleich bei dieser Gelegenheit hinzusetzte – ist der Silberbleistift von Goethe für das heutige Publicum zu zart; die Striche, die derselbe zieht, sind zu fein, zu unkenntlich, ich möchte fast sagen, zu ätherisch. Das an so arge Vergröberungen gewöhnte Auge kann sie eben deßhalb zu seinem Charakterbild zusammenfassen. Die jetzige literarische Welt, unbekümmert um richtige Zeichnung und Charakter, will durchaus mit einem reichergiebigen Farbenquast bedient sein!« – »Das hat der Alte gut und recht aufgefaßt!« äußerte Goethe bei diesen Worten. »Indeß,« nahm ich die Rede wieder von Neuem auf und fuhr fort: »Herder wünschte nichts angelegentlicher als die Beendigung eines Werkes, das er eben wegen seiner Einfalt und Zartheit und der Perlenebne seiner Diction, wie er es nannte, mit keinem jener Produkte vertauschen möchte, die, in Farben schwimmend, die Ungewißheit ihrer Umrisse nur allzuoft durch ein glänzendes Colorit verbergen.« Goethe meinte hierauf, er wollte selbst, es wäre so und Herder's Wunsch damals in Erfüllung[54] übergegangen; »nun aber,« wie er sogleich hinzusetzte, »ist es für uns beide zu spät, ich werde dieses Gedicht so wenig vollenden, als es Herder jemals lesen wird.«

Unbemerkt lenkte sich das Gespräch von hier aus wieder auf Wieland, »dem,« wie Goethe bemerkte, »es allein gegeben war, dem Publicum theilweise seine Werke im ›Teutschen Merkur‹ vorzulegen, ohne daß er durch die verkehrten Urtheile der Menge, mit denen er sich dadurch in Berührung setzte, je die Freude an seiner Arbeit verlor. Er änderte sie auch wohl dem Publicum zu Gefallen ab, welches ich da, wo das Werk aus einem Gusse ist, am wenigsten gutheißen kann.« – »Um uns der trüben Gedanken in diesen Tagen zu entheben, haben wir kürzlich wieder den ›Pervonte‹ zur Hand genommen. Die Plastik, der Muthwille dieses Gedichtes sind einzig, musterhaft, ja völlig unschätzbar. In diesem und ähnlichen Produkten ist es seine eigentliche Natur, ich möchte sogar sagen, aufs allerbeste, was uns Vergnügen macht. Der unvergleichliche Humor, den er besaß, war, sobald er über ihn kam, von einer solchen Ausgelassenheit, daß er mit seinem Herrn und Gebieter hinging, wohin er nur wollte. Mochte sich derselbe über Sittenlehre, Welt und geselligen Anstand tausenderlei weis machen, und sich und andern seines Gleichen unverbrüchliche Regeln und Gesetze darüber in Menge vorschreiben, sie wurden alle nicht gehalten, sobald er ins Feuer, oder vielmehr, sobald das Feuer[55] über ihn kam. Und da war er eben recht, und das, was er immer hätte sein sollen, eine schöne, höchst anmuthige Natur. Ich erinnere mich noch der Vorlesung eines der ersten Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹ [›das Wintermärchen‹], das er in Versen bearbeitete, und worin das ›Fische! Fische! thut ihr eure Pflicht‹ vorkommt. In diesem ersten Entwurfe war alles so curios, so allerliebst toll, närrisch, phantastisch, daß ich auch nicht die Änderung der kleinsten Zeile davon mir würde gestattet haben. Wie sollte das aber Wieland über sein Herz bringen, der Kritik, womit er sich und andere sein Lebelang plagte, ein solches Opfer darzubringen? In der rechten Ausgabe mußte das Tolle verständig, das Närrische klug, das Berauschte nüchtern werden. Ich möchte Sie wohl aufmuntern, dergleichen Gedichte wie ›Pervonte‹ und andere öfters in Gesellschaft vorzulesen. Es fordert indessen einige Vorbereitung: Wieland's Verse wollen mit einer prächtigen Lebendigkeit vorgetragen sein, wenn man sich einer augenblicklichen Wirkung davon versichern will. Es ist ein unvergleichliches Naturell, was in ihm vorherrscht: alles Fluß, alles Geist, alles Geschmack! Eine heitre Ebene ohne den geringsten Anstoß, wodurch sich die Ader eines komischen Witzes nach allen Richtungen ergießt und, je nachdem die Capricen sind, wovon sein Genius befallen wird, auch sogar seinen eigenen Urheber nicht verschont. Keine, auch nicht die entfernteste Spur von jener bedachtsam mühseligen[56] Technik, die einem die besten Ideen und Gefühle durch einen verkünstelten Vortrag zuwidermacht, oder wohl gar auf immer verleidet. Eben diese hohe Natürlichkeit ist der Grund, warum ich den Shakespeare, wenn ich mich wahrhaft ergötzen will, jedesmal in der Wieland'schen Übersetzung lese. Den Reim behandelte Wieland mit einer großen Meisterschaft: ich glaube, wenn man ihm einen ganzen Setzkasten voll Wörter auf sein Schreibepult hingeworfen hätte, er wäre damit zu Rande gekommen, sie zu einem lieblichen Gedichte zu ordnen. Von der neuen Schule und der Ansicht, womit sie sich Wieland und seinen Schriften gegenüberstellte und seinen wohlverdienten, vieljährigen Ruhm dadurch in Schatten zu bringen hoffte, möchte ich lieber ganz geschwiegen haben. Sie hatten es freilich so übel nicht vor; sie wollten einen falschen Enthusiasmus auf die Bahn bringen, und dabei mußte ihnen freilich Wieland's Verspottung alles Enthusiastischen sehr ungelegen in den Weg kommen. Laßt aber nur ein paar Jahrzehnte vergangen sein, so wird aller dieser Schattenseiten, die man so geflissentlich in Wieland aufzudecken suchte, nur sehr wenig gedacht werden, er selber aber wird als humoristischer, geschmackvoller Dichter denjenigen heitern Platz im Jahrhunderte behaupten, worauf er von Natur die gerechtesten Ansprüche besitzt. – Selbst eine ursprünglich enthusiastische Natur, wie sich aus den ›Sympathien eines Christen‹, sowie aus einigen andern Jugendprodukten Wieland's zur Genüge[57] abnehmen läßt, lebte er gleichsam in beständiger Furcht vor einem Rückfalle und hatte sich dagegen die verständige Kritik als Präservativ verschrieben. Schon die oftmalige Rückkehr zu den nämlichen Gegenständen seines Spottes erweist diese Behauptung. Die höhern Anforderungen seiner Seele wollen sich nun einmal nicht abweisen lassen, und es trifft sich recht oft, wo er den Platonismus, oder irgend eine andere sogenannte Schwärmerei verspotten will, daß er beide recht schön, ja mit der Glut einer liebenswürdigen Begeisterung darstellt. Alles unterwarf er dem Verstande, und besonders einem ihrer Lieblingszweige, der Kritik. Auf diesem Wege gelangt man freilich zu keinem Resultate. Dies sieht man deutlich auch an Wieland's letztem Werke, den von ihm übersetzten Briefen des Cicero. Dieselben enthalten die höchste Verdeutlichung des damaligen Zustandes der Welt, die sich zwischen den Anhängern des Cäsar und Brutus getheilt hatte; sie lesen sich mit derselben Frische, wie eine Zeitung aus Rom, indeß sie uns über die Hauptsache, worauf eigentlich alles ankommt, in völliger Ungewißheit lassen. Das macht, es war Wieland in allen Stücken weniger um einen festen Standpunkt als um eine geistreiche Debatte zu thun. Zuweilen berichtigt er den Text in einer Note, würde es aber auch nicht übel nehmen, wenn jemand aufträte und wieder durch eine neue Note seine Note berichtigte. Übrigens muß man Wieland deswegen nicht gram werden; denn gerade diese Unentschiedenheit[58] ist es, welche den Scherz zulässig macht, indeß der Ernst immer nur Eine Seite umfaßt und an dieser mit Ausschließung aller heitern Nebenbeziehungen festhält. Die besten und anmuthigsten seiner Produkte sind auf diesem Wege entstanden und würden ohne diese seine Launenhaftigkeit gar nicht einmal denkbar sein. Dieselbe Eigenschaft, die ihn in der Prosa zuweilen beschwerlich macht, ist es, die ihn in der Poesie höchst liebenswürdig erscheinen läßt: Charaktere, wie Musarion, haben ihre ganze eigenthümliche Liebenswürdigkeit auf eben diesem Wege erhalten.«

Als Goethe hörte, daß ich gestern Wieland im Tode gesehen und mir dadurch einen schlimmen Abend und eine noch schlimmere Nacht bereitet hatte, wurde ich darüber tüchtig von ihm ausgescholten. »Warum,« sagte er, »soll ich mir die lieblichen Eindrücke von den Gesichtszügen meiner Freunde und Freundinnen durch die Entstellungen einer Maske zerstören lassen? Es wird ja dadurch etwas Fremdartiges, ja völlig Unwahres meiner Einbildungskraft aufgedrungen. Ich habe mich wohl in Acht genommen, weder Herder, Schiller, noch die verwittwete Frau Herzogin Amalia im Sarge zu sehen. Der Tod ist ein sehr mittelmäßiger Portraitmaler. Ich meinerseits will ein seelenvolleres Bild, als seine Masken, von meinen sämmtlichen Freunden im Gedächtniß aufbewahren. Also bitte ich es Euch, wenn es dahin kommen sollte, auch einmal mit mir zu halten. Auch will ich es nicht verhehlen,[59] eben das ist es, was mir an Schillers Hingang so ausnehmend gefällt. Unangemeldet und ohne Aufsehen zu machen kam er nach Weimar, und ohne Aufsehen zu machen ist er auch wieder von hinnen gegangen. Die Paraden im Tode sind nicht das, was ich liebe. Zwar ist das Aufstellen der Leichen eine uralte, gute Gewohnheit und sogar nöthig fürs Volk und die öffentliche Sicherheit. Es beruht etwas darauf für die Gesellschaft, nicht nur, daß man weiß, daß ein Mensch, sondern auch wie er gestorben ist. Deßhalb, daß man überhaupt stirbt, läßt sich niemand ein graues Haar wachsen; aber jedem von uns muß daran gelegen sein, daß sein Leben früher, als der Naturlauf es gebietet, sei es von geldgierigen Erben oder auf eine andere, jedesmal unbeliebige Weise den Kreisen, worin es sich bewegt, unterschlagen werde.«

Mitten in dieser Unterhaltung war August v. Goethe hereingetreten, der heute seines Vaters Stelle versehen und Wieland's Begräbnisse zu Osmanstädt in seinem Namen und Auftrage mit beigewohnt hatte. Aus seinem Munde vernahmen wir sogleich nähere Umstände dieser Bestattung. Goethe lobte die getroffenen Einrichtungen; besonders auch, daß einige von der Regierung, andere von der Kammer, gleichsam aus der Mitte beider Collegien, bei dieser Feierlichkeit zugegen gewesen waren. »Es ist die letzte Ehre,« fügte er hinzu, »die wir ihm und uns selbst zu erzeigen imstande sind. Allemal zeugt es von einem würdigen Sinne, wenn man solche[60] Anlässe gehörig benutzt; und wenn sonst nichts, so legen wir dadurch vor der Welt wenigstens ein Zeugniß ab, daß wir nicht unwerth sind, ein so seltenes Talent eine lange Reihe von Jahren hindurch in unserer Mitte besessen zu haben.« Sein Sohn mußte ihm darauf die Begräbnisstelle, den Ort im Garten, den Stein, alles aufs Genaueste bezeichnen. Auch vernahm er es nicht ungern, daß über fünfhundert Menschen aus den umliegenden Dörfern sich heute unaufgefordert bei Wieland's Grabe eingefunden hatten.


b.

An Wieland's Begräbnistage .... bemerkte ich eine so feierliche Stimmung in Goethes Wesen, wie man sie selten an ihm zu sehen gewohnt ist. Es war etwas so weiches, ich möchte fast sagen, Wehmüthiges in ihm: seine Augen glänzten häufig, selbst sein Ausdruck, seine Stimme waren anders als sonst. Dies mochte auch wohl der Grund sein, daß unsere Unterhaltung diesmal eine Richtung ins Übersinnliche nahm, was Goethe in der Regel, wo nicht verschmäht, doch lieber von sich ablehnt; völlig aus Grundsatz, wie mich dünkt, indem er, seinen angebornen Neigungen gemäß, sich lieber auf die Gegenwart und die lieblichen Erscheinungen beschränkt, welche Kunst und Natur in den uns zugänglichen Kreisen dem Auge und der Betrachtung darbieten. Unser abgeschiedener Freund war natürlich der Hauptinhalt unsers Gespräches. Ohne[61] im Gange desselben besonders auszuweichen, fragte ich bei irgend einem Anlasse, wo Goethe die Fortdauer nach dem Tode, wie etwas, das sich von selbst verstehe, voraussetzte: »Und was glauben Sie wohl, daß Wieland's Seele in diesen Augenblicken vornehmen möchte?« – »Nichts Kleines, nichts Unwürdiges, nichts mit der sittlichen Größe, die er sein ganzes Leben hindurch behauptete, Unverträgliches,« war die Antwort. »Aber, um nicht mißverstanden zu werden, da ich selber von diesen Dingen spreche, müßte ich wohl etwas weiter ausholen. Es ist etwas um ein achtzig Jahre hindurch so würdig und ehrenvoll geführtes Leben; es ist etwas um die Erlangung so geistig zarter Gesinnungen, wie sie in Wieland's Seele so angenehm vorherrschten; es ist etwas um diesen Fleiß, um diese eiserne Beharrlichkeit und Ausdauer, worin er uns Alle miteinander übertraf!« – »Möchten Sie ihm wohl einen Platz bei seinem Cicero anweisen, mit dem er sich noch bis an den Tod so fröhlich beschäftigte?« – »Stört mich nicht, wenn ich dem Gange meiner Ideen eine vollständige und ruhige Entwickelung geben soll! Von Untergang solcher hohen Seelenkräfte kann in der Natur niemals und unter keinen Umständen die Rede sein; so verschwenderisch behandelt sie ihre Capitalien nie. Wieland's Seele ist von Natur ein Schatz, ein wahres Kleinod. Dazu kommt, daß sein langes Leben diese geistig schönen Anlagen nicht verringert, sondern vergrößert hat. Noch einmal: bedenkt mir sorgsam diesen[62] Umstand! Raffael war kaum in den Dreißigen, Kepler kaum einige Vierzig, als beide ihrem Leben plötzlich ein Ende machten, indeß Wieland –« »Wie?« fiel ich hier Goethe mit einigem Erstaunen ins Wort, »sprechen Sie doch vom Sterben, als ob es ein Act von Selbstständigkeit wäre?« – »Das erlaube ich mir öfters,« gab er mir zur Antwort, »und wenn es Ihnen an ders gefällt, so will ich Ihnen darüber auch von Grund aus, weil es mir in diesem Augenblicke erlaubt ist, meine Gedanken sagen.«

Ich bat ihn dringend, mir dieselben nicht vorzuenthalten. »Sie wissen längst,« hub er an, »daß Ideen, die eines festen Fundaments in der Sinnenwelt entbehren, bei all' ihrem übrigen Werthe für mich keine Überzeugung mit sich führen, weil ich der Natur gegenüber wissen, nicht aber bloß vermuthen und glauben will. Was nun die persönliche Fortdauer unserer Seele nach dem Tode betrifft, so ist es damit auf meinem Wege also beschaffen. Sie steht keineswegs mit den vieljährigen Beobachtungen, die ich über die Beschaffenheit unserer und aller Wesen in der Natur angestellt, im Widerspruch; im Gegentheil, sie geht sogar aus denselben mit neuer Beweiskraft hervor. Wie viel aber, oder wie wenig von dieser Persönlichkeit übrigens verdient, daß es fortdauere, ist eine andere Frage und ein Punkt, den wir Gott überlassen müssen. Vorläufig will ich nur dieses zuerst bemerken: ich nehme verschiedene Classen und Rangordnungen der letzten Urbestandtheile aller[63] Wesen an, gleichsam der Anfangspunkte aller Erscheinungen in der Natur, die ich Seelen nennen möchte, weit von ihnen die Beseelung des Ganzen ausgeht, oder noch lieber Monaden – lassen Sie uns immer diesen Leibnitzischen Ausdruck beibehalten! Die Einfachheit des einfachsten Wesens auszudrücken, möchte es kaum einen bessern geben. – Nun sind einige von diesen Monaden oder Anfangspunkten, wie uns die Erfahrung zeigt, so klein, so geringfügig, daß sie sich höchstens nur zu einem untergeordneten Dienst und Dasein eignen; andere dagegen sind gar stark und gewaltig. Die letzten pflegen daher alles, was sich ihnen naht, in ihren Kreis zu reißen und in ein ihnen Angehöriges, d.h. in einen Leib, in eine Pflanze, in ein Thier, oder noch höher herauf, in einen Stern zu verwandeln. Sie setzen dies so lange fort, bis die kleine oder große Welt, deren Intention geistig in ihnen liegt, auch nach Außen leiblich zum Vorschein kommt. Nur die letzten möchte ich eigentlich Seelen nennen. Es folgt hieraus, daß es Weltmonaden, Weltseelen, wie Ameisenmonaden, Ameisenseelen giebt, und daß beide in ihrem Ursprunge, wo nicht völlig eins, doch im Urwesen verwandt sind. – Jede Sonne, jeder Planet trägt in sich eine höhere Intention, einen höhern Auftrag, vermöge dessen seine Entwicklungen ebenso regelmäßig und nach demselben Gesetze, wie die Entwickelungen eines Rosenstockes durch Blatt, Stil und Krone, zu Stande kommen müssen. Mögen Sie dies eine Idee[64] oder eine Monade nennen, wie Sie wollen, ich habe auch nichts dawider; genug, daß diese Intention unsichtbar und früher, als die sichtbare Entwickelung aus ihr in der Natur, vorhanden ist. Die Larven der Mittelzustände, welche diese Idee in den Übergängen vornimmt, dürfen uns dabei nicht irre machen. Es ist immer nur dieselbe Metamorphose oder Verwandlungsfähigkeit der Natur, die aus dem Blatte eine Blume, eine Rose, aus dem Ei eine Raupe und aus der Raupe einen Schmetterling heraufführt. Übrigens gehorchen die niedern Monaden einer höhern, weil sie eben gehorchen müssen, nicht aber, daß es ihnen besonders zum Vergnügen gereichte. Es geht dieses auch im Ganzen sehr natürlich zu. Betrachten wir z.B. diese Hand. Sie enthält Theile, welche der Hauptmonas, die sie gleich bei ihrer Entstehung unauflöslich an sich zu knüpfen wußte, jeden Augenblick zu Diensten stehen. Ich kann dieses oder jenes Musikstück vermittelst derselben abspielen; ich kann meine Finger, wie ich will, auf den Tasten eines Claviers umherfliegen lassen. So verschaffen sie mir allerdings einen geistig schönen Genuß; sie selbst aber sind taub, nur die Hauptmonas hört. Ich darf also voraussetzen, daß meiner Hand oder meinen Fingern wenig oder gar nichts an meinem Clavierspiele gelegen ist. Das Monadenspiel, wodurch ich mir ein Ergötzen bereite, kommt meinen Untergebenen wenig zugute, außer, daß ich sie vielleicht ein wenig ermüde. Wie weit besser stände es um ihr[65] Sinnenvergnügen, könnten sie, wozu allerdings eine Anlage in ihnen vorhanden ist, anstatt auf den Tasten meines Claviers müßig herumzufliegen, lieber als emsige Bienen auf den Wiesen umherschwärmen, auf einem Baume sitzen oder sich an dessen Blüthenzweigen ergötzen. Der Moment des Todes, der darum auch sehr gut eine Auflösung heißt, ist eben der, wo die regierende Hauptmonas alle ihre bisherigen Untergebenen ihres treuen Dienstes entläßt. Wie das Entstehen, so betrachte ich auch das Vergehen als einen selbstständigen Act dieser nach ihrem eigentlichen Wesen uns völlig unbekannten Hauptmonas. – Alle Monaden aber sind von Natur so unverwüstlich, daß sie ihre Thätigkeit im Moment der Auflösung selbst nicht einstellen oder verlieren, sondern noch in demselben Augenblicke wieder fortsetzen. So scheiden sie nur aus den alten Verhältnissen, um auf der Stelle wieder neue einzugehen. Bei diesem Wechsel kommt Alles darauf an, wie mächtig die Intention sei, die in dieser oder jener Monas enthalten ist. Die Monas einer gebildeten Menschenseele und die eines Bibers, eines Vogels, oder eines Fisches, das macht einen gewaltigen Unterschied. Und da stehen wir wieder an den Rangordnungen der Seelen, die wir gezwungen sind angnehmen, sobald wir uns die Erscheinungen der Natur nur einigermaßen erklären wollen. Swedenborg hat dies auf seine Weise versucht und bedient sich zur Darstellung seiner Ideen eines Bildes, das nicht glücklicher gewählt sein kann. Er vergleicht[66] nämlich den Aufenthalt, worin sich die Seelen befinden, mit einem in drei Hauptgemächer eingetheilten Raume, in dessen Mitte ein großer befindlich ist. Nun wollen wir annehmen, daß aus diesen verschiedenen Gemächern sich auch verschiedene Creaturen, z.B. Fische, Vögel, Hunde, Katzen, in den großen Saal begeben; eine freilich sehr gemengte Gesellschaft! Was wird davon die unmittelbare Folge sein? Das Vergnügen, beisammen zu sein, wird bald genug aufhören; aus den einander so heftig entgegengesetzten Neigungen wird sich ein eben so heftiger Krieg entspinnen; am Ende wird sich das Gleiche zum Gleichen, die Fische zu den Fischen, die Vögel zu den Vögeln, die Hunde zu den Hunden, die Katzen zu den Katzen gesellen, und jede von diesen besondern Gattungen wird auch, wo möglich, ein besonderes Gemach einzunehmen suchen. Da haben wir völlig die Geschichte von unsern Monaden nach ihrem irdischen Ableben. Jede Monade geht, wo sie hingehört, ins Wasser, in die Luft, in die Erde, ins Feuer, in die Sterne; ja, der geheime Zug, der sie dahin führt, enthält zugleich das Geheimniß ihrer zukünftigen Bestimmung. An eine Vernichtung ist gar nicht zu denken; aber von irgend einer mächtigen und dabei gemeinen Monas unterwegs angehalten und ihr untergeordnet zu werden, diese Gefahr hat allerdings etwas Bedenkliches, und die Furcht davor wüßte ich auf dem Wege einer bloßen Naturbetrachtung meines theils nicht ganz zu beseitigen.«

[67] Indem ließ sich ein Hund auf der Straße mit seinem Gebell zu wiederholten Malen vernehmen. Goethe, der von Natur eine Antipathie wider alle Hunde besitzt, fuhr mit Heftigkeit ans Fenster und rief ihm entgegen: »Stelle dich wie du willst, Larve, mich sollst du doch nicht unterkriegen!« Höchst befremdend für den, der den Zusammenhang Goethescher Ideen nicht kennt; für den aber, der damit bekannt ist, ein humoristischer Einfall, der eben am rechten Orte war.

»Dies niedrige Weltgesindel,« nahm er nach einer Pause und etwas beruhigter wieder das Wort, »pflegt sich über die Maßen breit zu machen; es ist ein wahres Monadenpack, womit wir in diesem Planetenwinkel zusammengerathen sind, und möchte wenig Ehre von dieser Gesellschaft, wenn sie auf andern Planeten davon hörten, für uns zu erwarten sein.«

Ich fragte weiter: ob er wohl glaube, daß die Übergänge aus diesen Zuständen für die Monaden selbst mit Bewußtsein verbunden wären? Worauf Goethe erwiderte: »Daß es einen allgemeinen historischen Überblick, sowie daß es höhere Naturen, als wir selbst, unter den Monaden geben könne, will ich nicht in Abrede sein. Die Intention einer Weltmonade kann und wird manches aus dem dunkeln Schooße ihrer Erinnerung hervorbringen, das wie Weissagung aussieht und doch im Grunde nur dunkle Erinnerung eines abgelaufenen Zustandes, folglich Gedächtniß ist; völlig wie das menschliche Genie die Gesetztafeln über die Entstehung[68] des Weltalls entdeckte, nicht durch trockne Anstrengung, sondern durch einen ins Dunkel fallenden Blitz der Erinnerung, weil es bei deren Abfassung selbst zugegen war. Es würde vermessen sein, solchen Aufblitzen im Gedächtniß höherer Geister ein Ziel zu setzen, oder den Grad, in welchem sich diese Erleuchtung halten müßte, zu bestimmen. So im Allgemeinen und historisch gefaßt, finde ich in der Fortdauer von Persönlichkeit einer Weltmonas durchaus nichts Undenkbares. – Was uns selbst zunächst betrifft, so scheint es fast, als ob die von uns früher durchgangenen Zustände dieses Planeten im Ganzen zu unbedeutend und zu mittelmäßig seien, als daß vieles daraus in den Augen der Natur einer zweiten Erinnerung werth gewesen wäre. Selbst unser jetziger Zustand möchte einer großen Auswahl bedürfen, und unsere Hauptmonas wird ihn wohl ebenfalls künftig einmal summarisch, d.h. in einigen großen historischen Hauptpunkten zusammenfassen.«

– – – – – – – – – – – – –

»Wollen wir uns einmal auf Vermuthungen einlassen,« setzte Goethe hierauf seine Betrachtungen weiter fort, »so sehe ich wirklich nicht ab, was die Monade, welcher wir Wieland's Erscheinung auf unserm Planeten verdanken, abhalten sollte, in ihrem neuen Zustande die höchsten Verbindungen dieses Weltalls einzugehen. Durch ihren Fleiß, durch ihren Eifer, durch ihren Geist, womit sie so viele weltgeschichtliche Zustände in sich aufnahm,[69] ist sie zu allem berechtigt. Ich würde mich so wenig wundern, daß ich es sogar meinen Ansichten völlig gemäß finden müßte, wenn ich einst diesem Wieland als einer Weltmonade, als einem Stern erster Größe, nach Jahrtausenden wieder begegnete und sähe und Zeuge davon wäre, wie er mit seinem lieblichen Lichte alles, was ihm irgend nahe käme, erquickte und aufheiterte. Wahrlich, das nebelartige Wesen irgend eines Kometen in Licht und Klarheit zu verfassen, das wäre wohl für die Monas unsers Wieland's eine erfreuliche Aufgabe zu nennen, wie denn überhaupt, sobald man die Ewigkeit dieses Weltzustandes denkt, sich für Monaden durchaus keine andre Bestimmung annehmen läßt, als daß sie ewig auch ihrerseits an den Freuden der Götter als selig mitschaffende Kräfte Theil nehmen. Das Werden der Schöpfung ist ihnen anvertraut. Gerufen oder ungerufen, sie kommen von selbst auf allen Wegen, von allen Bergen, aus allen Meeren, von allen Sternen; wer mag sie aufhalten? Ich bin gewiß, wie Sie mich hier sehen, schon tausendmal dagewesen und hoffe wohl noch tausendmal wiederzukommen.« – »Um Verzeihung,« fiel ich ihm hier ins Wort: »ich weiß nicht, ob ich eine Wiederkunft ohne Bewußtsein eine Wiederkunft nennen möchte! Denn wieder kommt nur derjenige, welcher weiß, daß er zuvor dagewesen ist. Auch Ihnen sind bei Betrachtungen der Natur glänzende Erinnerungen und Lichtpunkte aus Weltzuständen aufgegangen, bei welchen[70] Ihre Monas vielleicht selbstthätig zugegen war; aber alles dieses steht doch nur auf einem Vielleicht; ich wollte doch lieber, daß wir über so wichtige Dinge eine größere Gewißheit zu erlangen imstande wären, als die wir uns durch Ahnungen und jene Blitze des Genius verschaffen, welche zuweilen den dunkeln Abgrund der Schöpfung erleuchten. Sollten wir unserm Ziele nicht näher gelangen, wenn wir eine liebende Hauptmonas im Mittelpunkte der Schöpfung voraussetzten, die sich aller untergeordneten Monaden dieses ganzen Weltalls auf dieselbe Art und Weise bediente, wie sich unsre Seele der ihr zum Dienste untergebenen geringern Monaden bedient?« – »Ich habe gegen diese Vorstellung, als Glauben betrachtet, nichts,« gab Goethe hierauf zur Antwort, »nur pflege ich auf Ideen, denen seine sinnliche Wahrnehmung zu Grunde liegt, keinen ausschließenden Werth zu legen. Ja, wenn wir unser Gehirn und den Zusammenhang desselben mit dem Uranus und die tausendfältigen einander durchkreuzenden Fäden kennten, worauf der Gedanke hin und her läuft! So aber werden wir der Gedankenblitze immer dann erst inne, wann sie einschlagen. Wir kennen nur Ganglien, Gehirnknoten; vom Wesen des Gehirns selbst wissen wir soviel als gar nichts. Was wollen wir denn also von Gott wissen? Man hat es Diderot sehr verdacht, daß er irgendwo gesagt: wenn Gott noch nicht ist, so wird er vielleicht noch. Gar wohl lassen sich aber nach meinen Ansichten von der Natur und ihren[71] Gesetzen Planeten denken, aus welchen die höhern Monaden bereits ihren Abzug genommen, oder wo ihnen das Wort noch gar nicht vergönnt ist. Es gehört eine Constellation dazu, die nicht alle Tage zu haben ist, daß das Wasser weicht und daß die Erde trocken wird. So gut wie es Menschenplaneten giebt, kann es auch Fischplaneten und Vogelplaneten geben. Ich habe in einer unserer früheren Unterhaltungen den Menschen das erste Gespräch genannt, das die Natur mit Gott hält. Ich zweifle gar nicht, daß dies Gespräch auf andern Planeten viel höher, tiefer und verständiger gehalten werden kann. Uns gehen vor der Hand tausend Kenntnisse dazu ab. Das Erste gleich, was uns mangelt, ist die Selbstkenntniß; nach dieser kommen alle übrigen. Streng genommen kann ich von Gott doch weiter nichts wissen, als wozu mich der ziemlich beschränkte Gesichtskreis von sinnlichen Wahrnehmungen auf diesem Planeten berechtigt, und das ist in allen Stücken wenig genug. Damit ist aber keineswegs gesagt, daß durch diese Beschränkung unserer Naturbetrachtungen auch dem Glauben Schranken gesetzt wären. Im Gegentheil kann, bei der Unmittelbarkeit göttlicher Gefühle in uns, der Fall gar leicht eintreten, daß das Wissen als Stückwerk besonders auf einem Planeten erscheinen muß, der, aus seinem ganzen Zusammenhange mit der Sonne herausgerissen, alle und jede Betrachtung unvollkommen läßt, die eben darum erst durch den Glauben ihre vollständige Ergänzung erhält. Schon[72] bei Gelegenheit der Farbenlehre habe ich bemerkt, daß es Urphänomene giebt, die wir in ihrer göttlichen Einfalt durch unnütze Versuche nicht stören und beeinträchtigen, sondern der Vernunft und dem Glauben übergeben sollen. Versuchen wir von beiden Seiten muthig vorzudringen, nur halten wir zugleich die Grenzen streng auseinander! Beweisen wir nicht, was durchaus nicht zu beweisen ist! Wir werden sonst nur früh oder spät in unserm sogenannten Wissenswerk unsere eigne Mangelhaftigkeit bei der Nachwelt zur Schau tragen. Wo das Wissen genügt, bedürfen wir freilich des Glaubens nicht, wo aber das Wissen seine Kraft nicht bewährt oder ungenügend erscheint, sollen wir auch dem Glauben seine Rechte nicht streitig machen. Sobald man nur von dem Grundsatz ausgeht, daß Wissen und Glauben nicht dazu da sind, um einander aufzuheben, sondern um einander zu ergänzen, so wird schon überall das Rechte ausgemittelt werden.«

Es war spät geworden, als ich heute Goethe verließ. Er küßte mir die Stirn beim Abschiede, was sonst nie seine Gewohnheit ist. Ich wollte im Dunkeln die Treppe heruntergehen; aber er litt es nicht, sondern hielt mich fest beim Arme, bis er jemand geklingelt, der mir leuchten mußte. Noch in der Thür warnte er mich, daß ich auf meiner Hut sein und mich vor der rauhen Nachtluft in Acht nehmen sollte. Weichmüthiger, als bei Wieland's Tode, habe ich Goethe nie zuvor gesehen und sah ihn auch nachher nie wieder so.

[73] Sein heutiges Gespräch enthält übrigens den Schlüssel zu manchen ebenso paradoxen, als liebenswürdigen Seiten seines so oft mißverstandenen Charakters.[74]


574.*


1813, 1. Februar.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Bei Aufführung der Oper »Agnese« [von Paer]: »Das Ungeheuere in der Cultur ist dies, daß wir unser Publicum wider seinen Willen und zu unserm Schaden zur Ironie erheben, indem wir seine Leidenschaften reinigen dadurch, daß wir Alles zur Anschauung bringen, selbst den Wahnsinn und die Irrenhäuser und Narrenhospitäler. Denn was kann von dem allen das Resultat sein, als daß es dieses sonst für das Gefühl und die Empfindung so Zerreißende auch nur als einen Zustand kennen lernt, als ein Pathologisches, dem gegenüber es sich besser, erhabener fühlt, und mit dem es zuletzt spielen lernt.« –[74]


575.*


1813, Februar.


Mit Luise Seidler

Von Goethe kann ich Dir [Pauline Schelling] bessere Nachrichten geben. Ich fand ihn kürzlich in Weimar wieder ganz den alten, lebenskräftig, voll Feuer[74] und des besten Humors. Ein Gespräch über Fouqué's Werke, wo er einmal recht aus sich herausging (wir waren ganz allein, da sich die Damen durch ein Schläfchen vom Balle erholten), wünschte ich Dir hier so lebendig herzaubern zu können, als es wohl noch in meiner Seele steht, aber ich es nicht wiedergeben mag noch kann, weil es, so zerstückt, ein Nichts werden würde und doch ein so göttliches Ganzes ausmacht. Daß er ihn eben nicht liebt und achtet und daß er sich besonders »über die vielen zerknickten, verbogenen und verzogenen Wahlverwandtschaften, die immer als neue Ragouts von der Grundlage der seinigen von diesen neueren Schriftstellern uns aufgetischt würden«, ereiferte, laß Dir nur ganz kurz gesagt sein und entre nous, sowie dies ganze herrliche Gespräch ein freundliches Entre nous war, das er hundertmal abbrach und doch immer wieder anfing mit tausend: »Sei still!« – »'s ist gut!« – »Laß mir dies Fieber, diese Rötheln der Zeit ruhen! Ich werde sie auch noch überleben« – wieder unterbrach und dabei so liebenswürdig war, daß ich dem Himmel für diese Stunden ewig dankbar sein werde. Fouqué's »Zauberring« und »Undine« ergötzt uns jetzt unendlich, und dies gab die Ursache dieses Gesprächs, aber daß ich so viel Freude an jenen Werken habe, kümmert mich trotz jener hohen Gegenmeinungen nicht; denn der alte Meister meinte ja auch so freundlich: was erfreute, wäre ja gut, und es gehöre eine höhere Einsicht der Dinge, oder ein ganzes Naturkind[75] zu sein dazu, es anders zu finden und nicht von der reichen Phantasie und den vielen glücklich vertheilten Pointen bestochen zu werden. Überhaupt gehöre es ja zum Geiste der Zeit, über die wir ja nicht hinauskönnten.[76]


577.*


1813, April (?).


Mit Sara von Grotthuß

Eine Freundin Goethes, Frau v. Grotthuß, stellte ihm einmal sehr beweglich vor, daß man dem armen Manne [Böttiger] doch eigentlich unrecht thue, wie er doch außerordentliche Kenntnisse aller Art besitze und alles so leicht und nutzbar zu behandeln wisse. Lange ließ Goethe auf sich einreden und hörte die z. Th. triftigen Gründe ruhig an; endlich aber brach er ungeduldig aus: »Liebes Kind! es ist ganz wahr: er brauchte gar kein Lump zu sein, wenn er nicht durchaus wollte.«[77]


1550.*


1813, 20. April.


Mit Karl Ludwig Gottlob von Burgsdorff

Gestern ist Geheimrath Goethe aus Weimar nebst einem Secretär hier eingetroffen. Da die Quartiere rar sind, so habe ich ohne aufzufallen ihm einen Theil des meinigen anbieten können .... Wie er mir sagte, wird sein Aufenthalt unbestimmt sein.[393]


1508.*


1813, 20. April.


Mit Friedrich Förster u.a.

Unser erstes Nachtquartier hatten wir in Meißen. Wir hatten eben unsern Morgengesang vor dem Gasthofe, in welchem unser Felbwebel im Quartier lag, beendigt,[318] als ich einen Mann in eine Extrapost einsteigen sah, dessen Züge mir bekannt zu sein schienen. Kaum traute ich meinen Augen, als ich sah, daß es Goethe war. Ich war als Freund seines Sohnes und als begünstigter Ballbegleiter seiner tanzlustigen Frau Gemahlin oft in seinem Hause gewesen, allein ihn, den friedliebenden, mitten unter den Kriegsunruhen zu finden, wußt' ich mir nicht zu erklären. Noch glaubte ich mich zu täuschen, zumal er die Militärmütze tief in das Gesicht gedrückt hatte und sich in den russischen Generalmantel mit rothem Kragen versteckte. Als ich nun aber seinen kleinen Secretär, Freund John, an den Wagen treten sah, war ich meiner Sache gewiß und theilte die herrliche Entdeckung sogleich meinen Kameraden mit. Mit militärischem Anstande einer Ordonnanz trat ich nun an den Wagen heran und sagte: ›Ew. Excellenz melde, daß eine Abtheilung der Königlich preußischen Freischaar der schwarzen Jäger auf dem Durchmarsch nach Leipzig vor Ihrem Quartier aufmarschirt ist und Ew. Excellenz die Honneurs zu machen wünscht.‹ Der Feldwebel commandirte: »Präsentirt das Gewehr!« und ich rief: ›Der Dichter aller Dichter, Goethe lebe hoch!‹ Mit Hurrah und Hörnerklang stimmte die ganze Compagnie ein. Er faßte mit der Haltung eines Generals an seine Mütze und nickte freundlich. Nun trat ich noch einmal heran und sagte ihm: ›Es hilft Ew. Excellenz das Incognito nicht! Die schwarzen Jäger haben scharfe Augen und bei unserm[319] ersten Ausmarsche Goethe zu begegnen, war ein zu günstiges Zeichen, als daß wir es sollten unbeachtet vorüberlassen. Wir bitten um Ihren Waffensegen!‹ »Von Herzen gern!« sagte er. Ich reichte ihm Büchse und Hirschfänger, er legte seine Hand darauf und sprach: »Zieht mit Gott und alles Gute sei eurem frischen deutschen Muthe gegönnt!« Während wir ihm ein nochmaliges Lebehoch riefen, fuhr er grüßend an uns vorüber.[320]


576.*


1813, um 22. April.


Bei Gottfried Körner

Auch Goethe kam [nach Dresden] und besuchte mehrmals das ihm befreundete Körner'sche Haus. Ich [Arndt] hatte ihn in zwanzig Jahren nicht gesehen; er erschien immer noch in seiner stattlichen Schöne, aber der große Mann machte keinen erfreulichen Eindruck. Ihm war's beklommen und er hatte weder Hoffnung noch Freude an den neuen Dingen. Der junge Körner war da, freiwilliger Jäger bei den Lützowern; der Vater sprach sich begeistert und hoffnungsreich aus, da erwiderte Goethe ihm gleichsam erzürnt: »Schüttelt nur an Euren Ketten; der Mann ist Euch zu groß, Ihr werdet sie nicht zerbrechen.«

[In »meine Wanderungen etc. mit dem Reichsfreiherrn Friedrich v. Stein von E. M. Arndt« erzählt dieser die Äußerung Goethes mit der Anrede: »O ihr Guten! schüttelt etc.«][76]


578.*


1813, 24. April.


Im Hause Gerhards von Kügelgen

Goethe war.. am Morgen des Einzuges der Monarchen [Preußens und Rußlands in Dresden] ganz zutraulich bei uns eingetreten, und da er den Vater, der ihn anderwärts suchte, nicht zu Hause fand, hatte er die Mutter um Erlaubniß gebeten, bei ihr bleiben zu dürfen, um aus ihren Fenstern und vom Straßengedränge unbelästigt den erwarteten Einzug mit anzusehen. Er werde in keiner Weise stören, hatte er hinzugesetzt, wolle sich ganz still verhalten und bitte, keinerlei Notiz von ihm zu nehmen.

[77] Die Mutter glaubte zu verstehen, daß er selbst unbelästigt sein wolle, Sie überließ ihm daher ein Fenster, setzte sich mit ihrer Arbeit an ein anderes und drängte sich ihm mit keiner Unterhaltung auf. Da stand er denn, der prachtvoll hohe Mann in seinem langen Überrock und blickte, die Hände auf dem Rücken, behaglich auf das bunte Gewühl des drängenden Volkes nieder. Er sah sehr heiter aus und meine [Wilhelms v. Kügelgen] Mutter glaubte es ihm abzufühlen, wie dankbar er ihr für die Schonung sei, mit der sie ihn gewähren ließ; denn sie wußte, wie sehr der seltene Gast bis dahin von der bewundernden Zudringlichkeit schöngeisterischer Damen belästigt und gequält gewesen. Er pflegte sonst immer von großer Cortege umgeben zu sein, und da er so allein gekommen, nahm meine Mutter an, daß es ihm gelungen, sich vielleicht vom Gedränge begünstigt, aus seiner anbetenden Umgebung wegzustehlen und hierher zu retten, um die feierlichen Eindrücke eines geschichtlichen Ereignisses ungestörter in sich aufzunehmen. Sie rief daher auch mich hinweg, der ich dem großen Manne immer näher rückte und ihn anstarrte wie einer, der zum ersten Male in seinem Leben einen Walfisch oder Elephanten sieht. Er aber zog mich an sich, legte die Hand auf meine Schulter und fragte mich dies und jenes, unter anderm auch, ob ich mich darauf freue, den Kaiser von Rußland zu sehen. Ich sagte: ja, ich freute mich darauf, weil er mein Pathe wäre; und allerdings hatte ich bis jetzt in[78] dieser glücklichen Illusion gelebt, bloß weil ich eben auch Alexander hieß. Meine Mutter gab indeß sogleich die nöthige Aufklärung, und Goethe fragte nun manches über Rußland. So war sie dennoch mit ihm ins Gespräch gekommen.

Indem ward heftig an der Klingel gerissen. Ich sprang fort, um die Thür zu öffnen, und herein drang eine unbekannte Dame, groß und stattlich wie ein Kachelofen und nicht weniger erhitzt. Mit Hast rief sie mich an: »Ist Goethe hier?« – Goethe! Das war kurz und gut. Die Fremde gab ihm gegen mich, den fremden Knaben, weiter kein Epitheton, und kaum hatte ich die Zeit, mein einfaches Ja herauszubringen, als sie auch schon, mich fast übersegelnd, unangemeldet und ohne üblichen Salutschuß wie ein majestätischer Dreidecker in dem Zimmer meiner Mutter einlief. Mit offnen Armen auf ihren Götzen zuschreitend, rief sie: »Goethe! ach Goethe, wie habe ich Sie gesucht! Und war denn das recht, mich so in Angst zu setzen?« Sie überschüttete ihn nun mit Freudenbezeugungen und Vorwürfen.

Unterdessen hatte sich der Dichter langsam umgewendet. Alles Wohlwollen war aus seinem Gesichte verschwunden, und er sah düster und versteinert aus wie eine Rolandssäule. Auf meine Mutter zeigend, sagte er in sehr prägnanter Weise: »Da ist auch Frau V. Kügelgen.« Die Dame machte eine leichte Verbeugung, wandte dann aber ihrem Freunde, dessen üble Laune sie nicht bemerkte, ihre Breitseiten wieder zu und[79] gab ihm eine volle Ladung nach der andern von Freudenbezeugungen, daß sie ihn glücklich geentert, betheuernd, sie werde sich diesen Morgen nicht wieder von ihm lösen. Jener war in sichtliches Mißbehagen versetzt .... Er knöpfte seinen Oberrock bis ans Kinn zu, und da mein Vater eintrat und die Aufmerksamkeit der Dame, die ihn kannte, für einen Augenblick in Anspruch nahm, war Goethe fort.[80]


579.*


1813, um 24. April.


Mit der Familie von Kügelgen

Während seines damaligen Aufenthaltes in Dresden habe ich [Wilhelm v. K.] den großen Dichter noch öfter anzustaunen Gelegenheit gehabt und zwar stets mit einer Ehrfurcht, die sein königliches Wesen ganz von selbst hervorrief. Er schenkte meinen Eltern einen Mittag und außerdem erinnere ich mich, daß wir die Rüstkammer mit einander besehen haben .....

Goethe sah die Rüstkammer noch in ihrem alten Graus und freute sich daran. Noch sehe ich seine majestätische Gestalt mit der lebendigsten Theilnahme unter den gespenstigen Harnischen herumwandeln, welche wie lebendige Recken auf prachtvoll geschnitzten Streitrossen sitzend in den niedrigen Räumen des alten Locals fast riesengroß erschienen. Einer besonders imposanten Gestalt nahm Goethe den von Edelsteinen funkelnden Commandostab aus der Eisenfaust, wog ihn in der Hand[80] und zeigte ihn uns Kindern. »Was meint Ihr?« – sagte er – »Mit solchem Scepter zu commandiren, muß eine Lust sein, wenn man ein Kerl danach ist.«[81]


1661.*


1813, gegen Ende April.


Über das Copiren auf der Dresdner Galerie

Man erzählt, wie er [Goethe] einst bei Wahrnehmung der Unmöglichkeit, die damalige Galerie gegen Winterkälte zu schützen, ausgerufen habe: Man solle doch im Winter hier mit den Copien heizen, die im Sommer gemacht worden.[69]


1509.*


1813, 27. Mai.


Mit Heinrich von Heß

und Philipp(?) von Neumann

Baron Neumann und ich verließen das Gasthaus, um uns vor Tische noch im Orte [Teplitz] etwas umzusehen, als uns die freundliche Wirthin zurief: da drüben im Gartenhäuschen befinde sich der große Dichter Goethe aus Weimar, ob wir nicht vielleicht gesonnen wären, ihn zu besuchen. Einige Augenblicke besannen wir uns, da wir nicht das Vergnügen hatten, von dem Herrn Geheimen Rath gekannt zu sein, allein die Versuchung war zu groß und andererseits der Ruf auch von der Mission des [Feldmarschalllieutenant] Grafen Bubna [wegen Friedensverhandlungen mit Napoleon] in der Gegend so bekannt geworden, daß wir – derselben angehörend – vielleicht auf einen freundlichen Empfang hoffen durften. Und so traten wir denn[320] getrost dem Pförtchen zu und zogen an dem bescheidenen Glöcklein. – Ein älterer Diener öffnete die Gartenthüre; wir frugen, ob Herr v. Goethe zu Hause und sichtbar wäre und erhielten die Antwort: Hier geht er eben im Laubengang auf und nieder; wen darf ich anmelden? Wir annoncirten uns als aus dem Gefolge des Grafen Bubna angehörend und von dem Wunsche beseelt, auf schneller Durchreise die Bekanntschaft des hochberühmten Dichters zu machen. In wenigen Augenblicken kehrte der brave Mann zurück und, ihm in gemessenen Schritten folgend, in seiner aufgerichteten hohen Gestalt, mit blauem einfachen Überrocke angethan, stand einer der größten Geister unseres Jahrhunderts mit seinem durchforschenden Auge vor unseren Blicken.

Ich, als der vorderste von uns beiden ergriff nun das Wort, um Vergebung bittend, ihn durch unseren Überfall belästigt oder vielleicht doch gestört zu haben, wohl wissend, was dem Dichter und Gelehrten die Zeit werth wäre, allein zu groß wäre auch der Drang gewesen, unsere Mission sogleich mit dem Glückssterne beginnen zu lassen und die Bekanntschaft eines Mannes zu machen, dem jeder Deutsche und daher auch jeder Osterreicher den innersten Kern seiner Bildung verdanke. – Freude und Jugend leuchtete dabei aus meinen Blicken; er schien an uns Gefallen zu finden, und so folgte meinem treuherzigen Ergusse die freundlichste Aufnahme, wie sie mir jetzt nach vollen fünfzig[321] Jahren noch deutlich vor Augen schwebt. Wechselseitige allgemeine Beziehungen begannen ein Gespräch, das – sich über alle Gegenstände des Tages, von seiner Seite sinnvoll verbreitend und durch uns mit manchem ihm Neuen und Unbekannten ausgestattet, – beinahe eine halbe Stunde dauerte. Es war nämlich der Krieg noch kein eigentlicher europäischer geworden, sondern der Kampf nur ein vereinzelter von Preußen und Russen mit Frankreich, der abwechselnd gefochten wurde und gegenwärtig mit einem Rückzuge der ersteren verbunden war. Osterreich bemühte sich, dessen Ende durch Unterhandlungen herbeizuführen, allein die Wolken thürmten sich auch für das letztere Reich schon am fernen Horizonte; denn ein Unterhandeln mit Napoleon war schon der Vorbeginn des Krieges, weil es dadurch ein Hinneigen zu den Gegnern des Kaisers zeigte. Dies alles und der mehr als zweifelhafte Ausgang der Unterhandlungen mit einer so herrischen Riesennatur, wie jene des Kaisers, war der Hauptinhalt unseres Gespräches. Die gewaltige Zeit nun, der Kriegsgeist, der sie belebte, und die ebenso gewaltige Reaction, welche den erst erfolgten Brand von Moskau nun wahrscheinlich zum allgemeinen Weltbrande anzufachen drohte, und das Unglück, welches dadurch über die einzelnen so blühenden Länder Deutschlands und besonders über die unteren Volksklassen, die an allem so unschuldig waren, kommen müsse, schienen den in diesen Gedanken ganz versunkenen edlen Mann tief zu durchdringen. Er[322] sagte: »Sie sind zwar Kriegsmänner, oder noch Höhergestellte im Staatsleben, und die Welt bildet sich nach dem Ergebniß Ihrer Thaten, allein wenn ich des Morgens so erwache und mit der dampfenden Sonne auf meinen schönen Schloßberg gehe, wie ich denn jetzt davon herkomme, und mir denke, daß in diesem gottgesegneten stillen Thale nur allein die Herzen der Kinder noch ruhig schlagen, während die Cultur von Jahrhunderten, möchte ich sagen, sowie die Ruhe und der Friede aller anderen Bewohner schon jetzt bedroht und gestört sind, so möchte ich gerne dem gigantischen Helden unseres Säculums, um ihm Friedensgedanken einzuhauchen, auch nur den hundertsten Theil jener Empfindungen eingeben können, welche mich jeden Morgen für die Menschen in diesem Paradiese durchströmen.«

Unser Gespräch drehte sich um die Tagesereignisse und ließ uns gänzlich uns selbst vergessen, bis wir endlich durch den Zuruf der Wirthin, daß unser Chef bereits mit dem Mittagsmahle unserer harre, aus diesem Genusse geweckt wurden. Herr v. Goethe richtete noch folgende Worte an uns: »Ich erlaube mir noch vor dem Abschiede einen Wunsch zu äußern: mein Herzog erwartet mich nach vollendeter Badecur an demselben Orte, wohin Sie jetzt so eilig ziehen. Sie werden gewiß dort länger verweilen und ich Sie somit noch daselbst finden, da auch ich in vierzehn Tagen in Dresden sein will. Ich werde versuchen, Ihnen dort[323] Ihren freundlichen Besuch zurückzugeben und Ihnen, wenn Ihre Geschäfte es gestatten und ich Ihnen in dieser Stadt der schönen Künste, die Sie, wie Sie sagen, noch nicht kennen, vielleicht zur Besichtigung von Galerien und Kunstsammlungen behülflich sein könnte, mit besonderem Vergnügen zu Diensten stehen.«

Seinen gütigen Antrag annehmend, dankten wir gerührt dem mir in so kurzer Zeit werth gewordenen Manne für das Interesse, welches er uns bezeugte, und schieden von ihm voll von dem Eindrucke seines hohen Geistes, seiner imponirenden Persönlichkeit und seines ebenso tiefen als edlen Gemüths.[324]


580.*


1813, 7. Juni.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Die wenigsten Menschen lieben an dem andern das was er ist, nur das was sie ihm leihen, sich, ihre Vorstellung von ihm, lieben sie.«

»Der Haß gleicht einer Krankheit, dem Miserere, wo man vorn herausgiebt, was eigentlich hinten weggehen sollte.«[81]


581.*


1813, Juli.


Mit Franz von Schwanenfeld

Es war in den letzten Tagen des Monats Juni im Jahre 1813 nach Abschluß des Waffenstillstandes, als der Husarenrittmeister v. S. fröhlich und wohlgemuth in Teplitz einzog, um hier ein lahmes Bein und ein fast erblindetes Auge insoweit wiederherzustellen, daß er noch zu einem neuen Feldzuge tauglich wäre. Die Stadt war überfüllt mit Gästen; kaum fand er ein Unterkommen in dem Gartenhause der Töpferschenke, halb über, halb unter der Erde, ein kleines Stübchen mit dem Fenster nach dem Garten... ..

Es war an einem schönen Sommermorgen, als der[81] Rittmeister einen ihm ganz unbekannten schönen alten Mann auf der Gartenbank vor seinem kleinen Fenster sitzen sah. Ein Bedienter brachte einen Krug mit Wasser, legte ein Buch auf den Tisch und entfernte sich. Der Unbekannte schenkte sich ein, trank und überließ sich, wie es schien, seinen Gedanken; denn er hielt das Buch in der Hand ohne zu lesen. Unverwandt blickte er in die Nebelgebilde, nach dem durchbrechenden blauen Äther des Himmels. Unser Husar sah dies mehrere Tage sehr gleichgültig an, ohne daß es ihm irgend einfiel, von dem Treiben des fremden Mannes Notiz zu nehmen. Doch endlich verdroß es ihn, das wenige Licht seiner Stube alle Morgen durch die Figur verdunkelt zu sehen. Er betrachtete den Mann näher: der schöne Kopf, die edlen Züge, ein gewisses Etwas in der ganzen Erscheinung zog ihn an; er konnte dem innern Drange nicht Widerstehen, er mußte gut oder übel mit dem Alten Bekanntschaft machen, öffnete demnach sein Fenster und sagte ihm den freundlichsten guten Morgen. Doch dieser, von einem Schnauzbart aus düsterm Kellerloche gebotene Gutemorgen sprach nicht an. Ein Ehrfurcht gebietender, streng verweisender, beinahe verächtlicher Blick war die Antwort auf die kühne Anrede. Störe mich in meinem Nachdenken nicht, du Maulwurf! schien er sagen zu wollen. Doch der Rittmeister ließ sich nicht abschrecken durch die zürnende Miene, sondern versuchte sogleich im Geist eines wahren Husaren einen neuen Angriff.

[82] »Sind Sie Hypochonder?« erscholl es abermals aus dem kleinen Fenster zu den Füßen des großen Unbekannten, und als auf diese Frage nur ein halber Blick und keine Antwort erfolgte, wurde dieselbe Phrase mit donnernder Stimme in ziemlich herausforderndem Tone wiederholt. Nun endlich entfuhr den Lippen des Mannes ein Laut. »Sonderbar!« war das einzige Wort, welches unwillkürlich und gleichsam wie zu sich selbst gesprochen seiner Brust entfuhr, – und der Rittmeister erwiderte lächelnd die geflügelten Worte: »Ja wohl sonderbar! Sie sind krank und sitzen hier im kalten Morgennebel, trinken Ihren Brunnen allein, still und stumm. Da wollt' ich lieber Tinte in Gesellschaft saufen und würde eher gesunden. Wissen Sie wohl, daß ich große Lust hätte, mit Ihnen Händel anzufangen?« Die Augen des Fremden gingen groß auf und durchbohrten fast den Redenden. »Wenn Sie mit Ihrem Heldengesicht mir nur nicht so ungeheuer gefielen!« dabei überströmte ein mildes, unbeschreibliches, doch göttliches Lächeln des edelsten Selbstgefühls das schöne Antlitz. »Bei solchem Gebrauche der Cur müssen Sie ja krank werden, wenn Sie es nicht schon sind.«

Das Gesicht des Unbekannten wurde inzwischen immer freundlicher, und der Rittmeister, wie durch eine magnetische Kraft zu ihm hingezogen, kroch auf allen Vieren aus seinem kleinen Fenster heraus, stellte sich vor ihn hin und redete ihn also an: »In meinem[83] Leben habe ich mich schon einmal schlagen müssen, weil ich nicht begreifen konnte oder wollte, wie man so ein Philister sein könnte, eine Flasche Champagner allein zu trinken; was fang' ich aber mit Ihnen an, der mir seit drei Tagen Sonne und Licht raubt, vor meinem Fenster sitzt, allein seinen Brunnen trinkt und kein freundliches Wort für mich hat? König, geh nur aus der Sonne! ist nicht genug gesagt; ich will philosophischer sein, als Diogenes: stehen Sie auf, geben Sie mir Ihren Arm, wir wollen miteinander promeniren; ich will Ihnen Geschichten erzählen – Geschichten von schönen Mädchen, vernagelten Kanonen, Feldherren, Überfällen, unmenschlich tugendhaften Frauen – und wenn der Teufel der Hypochondrie Sie nicht bald verläßt, so soll er mich dafür holen.«

Das edle Antlitz des Fremden nahm den freundlichsten Ausdruck von Wohlgefallen an; er lächelte, reichte seinen Arm und sagte: »Lassen Sie uns gehen! – Sie sind Offizier?«

Rittmeister. Ja, ja! ich bin einer und gehöre zu den Truppen, welche keinen Feldprediger brauchen, um in den Himmel zu kommen.

Unbekannter. Also Husar? Das wird den Großherzog1 von Weimar recht interessiren. Sie haben die Schlachten von Großgörschen und Bautzen mitgemacht?

[84] Rittm. Ja wohl! – Doch lassen wir das! Darüber möchte man selbst Hypochonder werden. Sprechen wir lieber von anderen Dingen und mischen wir wie Goethe Wahrheit und Dichtung in unsere Unterhaltung.

Unb. Kennen Sie Goethe?

Rittm. Ob ich ihn kenne! Ich liebe ihn zärtlich, ich weiß ihn halb auswendig. Sein Tasso ist mein steter Begleiter.

Unb. Was halten Sie von seinem Werther?

Rittm. Ach! das wag' ich nicht zu sagen.

Unb. Nun, – doch geniren Sie sich nicht um meinetwillen.

Rittm. Werther ist meiner Ansicht nach ein wahrer Lumpenkerl. Solche Charaktere sind meiner Natur so Schnurstracks zuwider, daß ich mir gar kein Urtheil anmaßen will. Ich habe die Leiden gelesen und fortgelegt; das verstehst du nicht – dachte ich.

Unb. Da gefallen Ihnen »Die Räuber« von Schiller wohl besser?

Rittm. Allerdings! Schiller ist der Mann der Soldaten: er erweckt in der Brust uns den Muth und feuert die Seele zu Thaten an. – Doch das nützt Ihnen nichts! – Haben Sie das schöne blonde Mädchen dem Salon des Schloßgartens gegenüber »Zur Stadt Dresden« gesehen? Ein himmlisches Geschöpf. Der alte Prinz de Ligne hielt ihr in zarter Jugend Vorlesungen über die Kunst zu lieben und, wie es scheint,[85] nicht ohne Nutzen. Die ganze anwesende Männerwelt liegt schmachtend zu ihren Füßen. – Haben Sie nicht auch schon sehnsüchtige Liebesseufzer nach ihrem Fenster ausgestoßen? Ja, ja! jetzt fällt mir's ein: Sie standen gestern mit einem kleinen dicken Forstmann am bekannten Eisengitter und lugten hinüber nach der hold blühenden Blondine. – Nicht wahr?

Unb. Wir hatten unsere Promenade beendigt und waren im Begriff, nach Hause zu gehen. Aber, wo waren denn Sie?

Rittm. Ich? Ich faullenzte im Hauptquartier, wie so viele anderswo.

Unb. Sie scherzen.

Rittm. Vielleicht, – vielleicht auch nicht. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Ich kann Ihre Frage auch umgekehrt beantworten: ich recognoscirte den Feind und suchte seine Hauptstellung zu umgehen.

Und. Bravo! Sehr gut! Und der Feind?

Rittm. Der Feind, Herr Hypochonder, der brauchte seine allerliebsten Sammetpatschen, um jeden Überfall abzuwehren, bis endlich Chamade geblasen wurde. Verstehen Sie den Ausdruck?

Unb. Nicht ganz! Allein der Großherzog –

Rittm. Ich bitte, lassen wir den in seinem Athen an der Ilm mit Goethe lustwandeln; der Großherzog schlägt nicht mehr unsere Schlachten, und das Ideal meines Feldherrn hab' ich auch bei Lützen den ganzen Tag vergebens gesucht. Ich hatte die unvermuthete[86] Ankunft von vier Cavallerieregimentern auf dem Schlachtfelde zu melden. Ich eilte zu allen Befehlshabern, aber keiner wollte befehlen: der eine klagte über Rücken- und Seitenschmerzen ob des erhaltenen Prellschußes; der andere meinte, er beobachte bloß; der dritte fluchte russisch auf die Preußen, und der vierte war nicht in der Laune fröhlich zu sein. Das Corps des Vicekönigs drängte ihn, so entledigte er sich denn seiner Wuth durch einige kräftige Flüche und eine allgemeine Einladung. »Wer den Karren in den Dr- geschoben hat, kann ihn auch herausziehen« – war des Helden kräftiger Bescheid. So eilte ich denn, enttäuscht von meinen Idealen, trauernd über das mit Todten bedeckte Schlachtfeld und erreichte noch zeitig genug mein Regiment, um bei der unglücklichen Cavallerieattaque, die man morgens und nicht abends hatte unternehmen sollen, wie alle Ubrigen in den verdammten Graben zu fallen und in einen chaotischen Wirrwarr zu gerathen. – Sehen Sie! das nennt man eine Schlacht mitmachen.

Unb. Das Bild, welches Sie mir da geben, ist in der That neu. Ich danke Ihnen, Herr Doctor Husar; jetzt muß ich ins Bad, aber morgen hoffe ich eine große Portion von Ihren Mixturen einzunehmen und vielleicht noch einen Freund mitzubringen, der gern dergleichen zu sich nimmt. Sie erlauben doch? Oder wollen Sie sich noch mit mir schlagen?

Rittm. Umarmen möcht ich Sie.

[87] Der Unbekannte drückte dem Rittmeister sehr freundlich die Hand, sagte »Auf Wiedersehen!« und ging.

Am folgenden Morgen, als die Strahlen der Sonne kaum den Schläfer erweckt hatten, klopfte man schon an sein Fenster und rief: »Herr Doctor, der Hypochonder ist da. Heraus, heraus!« In möglichster Eile beendete der Rittmeister seine Toilette, schlüpfte behende zum Fenster heraus, faßte den neu erworbenen, nun schon alten Freund unter den Arm und begann neue Erzählungen von Liebe und Krieg.

Eine Stunde mochte so vergangen sein, da kam ein Fremder in den Garten, den der Rittmeister seinem Aussehen nach für einen Forstmann oder Gutspächter hielt, grüßte mit einem Guten Morgen und redete den Hypochonder mit einem »Da bin ich!« wie einen alten Bekannten an. Dieser wandte sich zu dem Rittmeister und sagte, gleichsam ihn dem Fremden vorstellend: »Mein gütiger Doctor.«


[Weiter wird dann erzählt, wie Rittmeister v. Schwanenfeld noch einige Tage mit Goethe und Herzog Karl August verkehrte, ohne dieselben zu kennen, bis er durch einen Freund Aufklärung erhielt.]


1 Damals noch Herzog.[88]


582.*


1813, Juli (?)


Mit Stephan Schütze

Da ich gleich nach meiner Ankunft in Teplitz erfuhr, daß sich Goethe dort befinde, unterließ ich nicht, zu ihm[88] zu gehen. – Am andern Tage saß ich mit ihm im Wagen; wir fuhren nach Bilin zu. Ich wußte schon, daß bei ihm, wie die Gegenstände, auch die Stimmungen wechseln; eins bedingt das andere. Heute hatte er seinen Sinn auf das Steinreich gerichtet. Bei Karlsbad kletterte er oft stundenlang in den Bergen umher und schlug mit seinem Hammer an alle Felsen, von wo er gewöhnlich eine reiche Beute mit zurückbrachte, die er dann nach den kleinsten Abartungen und Verschiedenheiten in die Reihe der übrigen auf dem Tische umherliegenden Steine einschichtete, bei welcher Gelegenheit ich denn einmal aufrief: O, daß das menschliche Leben so kurz ist! – »Lassen Sie das gut sein!« erwiderte er.

Jetzt war er um vulkanische Steine bemüht, und als wir die Straße weit genug hinauf waren, ließ er halten und sagte: »Wenn ich heute einen Eisenstengel finde, sollt Ihr einen guten Tag haben.« Darauf ging er mit dem Kutscher und dem Hammer nach einem Orte, wo viele Steine lagen und hämmerte da gewaltig. Er kam nicht ganz befriedigt zurück, hatte jedoch manches erbeutet, das in sein Cabinet paßte. – Nachher wurde das Gespräch lebhafter und wissenschaftlicher. Ich betrachtete mit ihm die Kindheit des Menschengeschlechts in der hebräischen Sprache, deren Fügung und Behelf in den Mitteln mit Hinsicht auf die falschen Auslegungen seinen Geist nicht wenig befriedigte. Darauf ging er zu den Manichäern über, auf die wunderbare[89] Erscheinung der christlichen Religion überhaupt, auf ihre Verbreitung, und endlich auf Luther's Bibelübersetzung. Ich bemerkte, daß Einfachheit in Sprache und Gesinnung damals Luthern selbst wohl Ähnlichkeit mit den Aposteln und dem biblischen Geiste gegeben und dadurch eine solche Verdeutschung möglich gemacht hätte. Da fing er an, Luthers Riesenwerk anzustaunen und zu bewundern, und merkwürdig war mir seine Äußerung: »Nur das Zarte unterstehe ich mich hin und wieder besser zu machen.«

Das nächste Mal war auf der Spazierfahrt sein Sinn auf die Pflanzenwelt gerichtet. Er ergötzte sich an der Lieblichkeit der mit Bäumen bepflanzten Kornfluren im Angesicht des Erzgebirges, auf das er gar nicht zu achten schien. – Das Gespräch kam nach manchen Wendungen auf die Überschwenglichen, die durch Tendenzen immer höher und höher steigen wollen und, statt den Gegenstand darzustellen, ihn und ihre eigne Kraft überflögen. Hier gerieth Goethe in solchen Eifer, daß er sich der stärksten Ausdrücke bediente, sodaß selbst der Kutscher sich öfters nach ihm umsah. Er schalt sie Träumer und Schwindler, und als ich äußerte, daß ihrer Poesie der Körper fehle, sagte er: »Da haben Sie das rechte Wort getroffen. Zum Henker, wir wissen denn doch auch, was dazugehört!« setzte er im gerechten Zorn hinzu und ergoß sich nun auch über die Unredlichen, die bei ihren Behauptungen noch besonders von politischen Rücksichten sich bewegen ließen, und die[90] nicht einmal Parteiisch ehrlich wären. – »Fahre noch weiter, bis die Sonne untergeht!« rief Goethe seinem Kutscher zu, und so wurden mir denn die genußreichsten Stunden zutheil.[91]


583.*


1813, 21. Juli.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Es ist ganz eigen, daß die Menschen sich in Mißbräuchen so sehr gefallen, und daß man nicht leicht ein Mittel gelten läßt, wodurch das Übel von Grund aus gehoben würde.«[91]


1662.*


1813, 10. August.


Mit Karl Gottlieb von Weber

Auf der Rückreise [von Teplitz] traf ich auf der Post in Peterswalde mit dem Geheimen Rath von Goethe zusammen, bekanntlich dem großen Verehrer von Napoleon. Ich fragte ihn: Was sagen Sie nun zu Napoleon's Lage? Er antwortete ruhig: »Er ist wie ein gehetzter Hirsch; das macht ihm aber Spaß.«[70]


1510.*


1813, Mitte August.


Mit Heinrich von Heß

Die vierzehn Tage bis zu Goethes Ankunft in Dresden waren vergangen und Herzog Karl August während dem angekommen; auch wir erhielten Goethes Karte (mit darauf verzeichneter Wohnung, weil er uns leider nicht fand), wonach ich mich Tags darauf denn auch allsogleich in freier Stunde hinverfügte.

Das Getreibe und Kriegsgetümmel der Stadt hatte in dem edlen Dichter, wie er mir sagte, das Bedürfniß erweckt, sich im Contraste mit selbem noch mehr in den[324] freiesten Kunstanschauungen zu bewegen. So wurde sein früheres Wort bald zur That, und er schlug mir vor, zuerst die Galerie, dann die Museen und endlich das Japanische Palais zu besehen, wo er mir dann alles erklären und deutlich machen wolle, was dem minder Eingeweihten ohne höhere Führung nicht sogleich verständlich sein könne, und, gütig wie er war, hielt er getreulich das gegebene Versprechen. Leider waren es jedoch die damaligen Geschäftsarbeiten bei Tag und Nacht in Dresden und die darauf folgenden langen Kriegsjahre, welche mich verhinderten, noch mit frischerem Gedächtnisse all das Interessante und Gediegene, all die Goldkörner mehr en détail aufzuzeichnen, welche aus dem Munde dieses unvergleichlichen Kenners und Schätzers alter und neuer Kunst flossen. Er durchschaute mit Adlerblicken tief den Kern jedes Kunstwerkes und offen und klar lagen vor ihm die Anschauung wie der Schaffungsproceß eines Raphael, Correggio, Tizian, Michel Angelo und wie sie nun alle heißen die Heroen der Kunst, als ihre Bildungen vor uns standen.

Alle erklärte er mit einer Güte, einer Langmuth, die mir noch jetzt unvergeßlich sind, und deren Klarheit es gerade war, die den Gedanken in mir auskommen ließ, daß man so Natürliches, so Wahres nicht aufzuschreiben bedürfe, da es ja dem Sinne nicht mehr entgehen könne. Durch seinen Blick wurde mir jede Wesenheit dergestalt entschleiert, daß zuletzt sein Gedanke[325] sich zu dem meinigen, in dieser Fülle des Richtigen und Wahren einmal großgezogen, bis auf den heutigen Tag nicht anders mehr denken konnte, als es mir Goethe in wenigen Augenblicken gezeigt, bewiesen, bis zur Evidenz faßlich gemacht hatte. Instinctartig hatte wohl die Natur schon früher etwas in mich gelegt, nun wurde aber das jahrelange stille Denken zur plötzlichen Erkenntniß, die, wie das Gestirn des Mondes bei stiller Nacht, meinen bisher dämmernden Gedanken bei der Leuchte des freundlich unermüdlichen Meisters aufging.

So hatte ich z.B. bei der Madonna des h. Sixtus von Raphael, die ich schon früher aus Kupferstichen und Copien kannte, stets den weltenumfassenden Blick des Kindes und das tiefsinnige jungfräuliche Antlitz und Wesen der Mutter diese göttlichen Kindes angestaunt; Goethe machte nun mit wenigen Worten meinen früheren Empfindungen Luft, indem er, vor das Bild mit mir hintretend, sagte: »Sehen Sie hier mit den größten Meisterzügen der Welt Kind und Gott und Mutter und Jungfrau zugleich in göttlicher Verklärung dargestellt. Das Bild allein ist eine Welt, eine ganze volle Künstlerwelt und müßte seinen Schöpfer, hätte er auch nichts als dies gemalt, allein unsterblich machen.«

Bei der Magdalena von Correggio entwickelte er den Gedanken der himmlischen Ruhe der Büßenden bei der vollendetsten irdischen Schönheit, deutete bei der[326] Geburtsnacht Christi auch den besondern Sinn der Beleuchtung der Welt durch Christus allein, von dem alles Licht ausgeht und sich so weiter verbreitet.

Bei den Bildern von Carlo Dolce bemerkte er den zarten, manchmal bis zu einer zu großen Weichheit gehenden Charakter derselben; ebenso deutete er bei Tizian auf jenen der veredeltsten Wahrheit in Composition wie Farbe auf die Blaufärbung der venetianischen Schule, auf die Derbheit und die grellen Lichter der Rubens'schen, auf die Bevorzugung des Stilllebens der niederländischen und holländischen – erklärlich durch ihr abgeschlossenes Volksleben – auf die höhere Bedeutung der niederrheinischen und altdeutschen Schule, die, mit Ausnahme der richtigeren Menschenformen, den italienischen Musterschulen am nächsten stehen. – Endlich betonte er mit Nachdruck Albrecht Dürer's Meisterschaft, Leonardo da Vinci's Musterschule, und zuletzt als Gipfel alles Großartigen und Genialen, Michel Angelo's unerreichbare Schöpfungen, ebenso unerreichbar wie jene Raphael's in allem rein Menschlichen und kunstgemäß Vollendeten. Dies alles nun, entwickelt während der eigenen Anschauung jedes einzelnen dieser Meistergebilde, prägte sich dem gelehrig Horchenden tief in's Gedächtniß ein, und diese Worte, ohnehin so verwandt seinem früheren Denken und Fühlen, blieben ihm ein Leitstern für alle späteren Kunstanschauungen in Italien, Frankreich und[327] Deutschland durch volle fünfzig Jahre seines darauf folgenden vielbewegten Lebens.

Nach der vollständigen Besichtigung der ganzen Galerie vermehrten die immer größer werdenden politischen Verhältnisse meine Geschäfte in so bedeutendem Maße, daß meine freie Zeit immer geringer wurde und der gemeinschaftliche Besuch der Museen unterbleiben mußte; nur auf den Japanischen Palast beschränkte sich unsere letzte Wanderung, und das schon in den letzten, gar sehr bewegten Tagen meines Dresdener Aufenthalts.

Allein dennoch besahen wir noch durch drei Stunden diese höchst interessante königliche [Porzellan-]Sammlung. Goethes Bemerkungen und Vergleiche über die Geschmacksbildung, die Formen und Malerei aller außereuropäischen Kunstwerke gegenüber der europäischen sowie insbesondere der japanischen, deren Producte wir hier bewunderten, waren auch in diesem Fache von gleicher Originalität und Gediegenheit. Ganz richtig entwickelte er ihre Kunstrichtung und Fortschritte aus der eigenthümlichen Lebensweise und dem geschichtlichen Gange jedes Volkes oder Stammes sowie der Naturproducte, womit jedes Land besonders gesegnet war. Die meisten verfolgte er nun stufenweise, einige von Jahrhundert zu Jahrhundert, zeigte hierauf die in jedem derselben entstandenen Erzeugnisse und Meisterstücke, wie sie sich in den einzelnen Kästen gruppirten, und so erhielt ich in wenigen Stunden eine Übersicht[328] des Kulturganges dieser Völker, die sich in den vor uns liegenden Gebilden Schritt für Schritt nachwies und ihren Ursprung wie ihre Reihenfolge bekundete. Geschlossen wurden diese Vorträge mit der Vergleichung der obigen Producte mit jenen von altsächsischen und neufränkischen Porzellanen, und noch jetzt kann ich Sammlungen dieser Art, ja, keinen einzelnen Gegenstand derselben besehen, ohne überall den Maßstab und die Anschauungsweise, die mir Goethe gelehrt, in großen, alle Zeiträume einer Kunst überschauenden Zügen anzuwenden.

Als wir uns vom Ausgangssaale des Palastes der großen Treppe zuwandten und dieselbe langsam hinabstiegen, um uns nicht zu schnell zu trennen, da wir unten allsogleich verschiedne Wege einschlagen mußten – ich, den vor der Neustadt ausgebreiteten französischen Lagern zu, während Goethe nach der Altstadt in seine Wohnung ging, da sprach er noch folgende freundliche Worte: »Und nun ich Ihnen alles gezeigt habe, was Ihnen und mir die drängende Zeit zuließ, lassen Sie mich meine Freude ausdrücken, in Ihnen einen so warmen Kunstfreund gefunden zu haben und Ihnen auch meinerseits, wie ich sehe, nützlich geworden zu sein. Gewähren Sie mir dagegen freundlichst eine Bitte: Sie sind des Tages und, wie Sie mir sagen, auch ganze Nächte über mit Arbeit überhäuft, unser Wiedersehen allhier ist daher ungewiß; auch könnten Sie wohl, wie ich aus allem wahrnehme, unvermuthet, ja,[329] plötzlich vielleicht abreisen müssen. Wenn nun so das Ungeheure geschähe, das Unvermeidliche herannahen würde, was auch meinen Herzog und mich von hier wegtreiben müßte, wollen Sie mir dann und wäre es auch nur mehr durch eine Karte, deren Sinn ich verstehen würde – ein verständliches Zeichen zu unserem Aufbruche geben?«

Gerne sagte ich dies dem edlen verehrten Manne zu und wahrlich! es war die höchste Zeit; denn schon drei Tage später mußte ich ihm die Karte senden, während ich selbst am vierten schon über alle Berge war, der böhmischen Grenze und somit dem wiederausbrechenden Kriege zueileind.[330]


1511.*


1813.


Mit Ferdinand Gotthelf Hand

Als ich zu der Zeit, die ich in Weimar zubrachte, einmal mit Goethe zusammentraf und ihm auf Frage nach meinen Studien erzählte, daß ich mich damit beschäftige, die Gedichte des Statius durchzugehen, gestand er lächelnd, daß er diesen Dichter noch nicht kenne, daß aber diese Unwissenheit kaum entschuldbar sei. Damit indessen kein Winkel der schönen Künste ihm verborgen bleibe, ließ er das Buch sofort aus der Bibliothek holen. Bald darauf berief er mich zu sich und sagte: »Dieser Statius ist ein Dichter, der großes[330] Lob verdient und unsers fleißigen Studiums werth ist. Was von einem gewissen Überfluß an Geist herrührt, stört mich nicht, aber ich bewundere an ihm die Kunst, mit der es dem besten Dichter zusteht, sinnfällige Dinge aufzufassen und genau wiederzugeben. Sehen Sie, wie sorgfältig er das Pferd Domitians beschreibt, wie genau er die Bildsäule des Hercules schildert, wie richtig er die Lage der Landhäuser, den Schmuck der Bäder angiebt! Alle Dinge, die er mit Worten beschreibt, scheinen uns vor die Augen geführt zu werden; so groß ist seine Kunst, Bilder aufzufassen und darzustellen.«[331]


584.*


1813, Ende October.


Mit Friedrich de la Motte Fouqué

Die für das rechte Rheinufer siegreich entscheidende Leipziger Schlacht hatte uns bei Verfolgung des Feindes in die Nähe von Weimar geführt. Ich nahm Urlaub zu einem Ritt hinein, um meinem Dichterheros meine Verehrung zu bezeigen.

Da stand ich nun wiederum vor dem einfach schönen Hause. Etwa zehn Jahre waren darüber vergangen. Und welch ein Decennium! Auch für mich: welch eine völlige Umwandlung!

Auch im Hause freilich sah es gar anders aus: eine starke österreichische Einquartirung hatte nothgedrungen[91] alle vorderen Zimmer in Beschlag genommen; Ordonnanzen rannten auf und ab. Das schöne musivische Salve, vor dem Eingange zu den Gemächern den Boden schmückend, war im Staube der gestiefelten Tritte fast unsichtbar geworden. Mich befiel eine seltsame Wehmuth.

Dennoch schritt ich im ziemlich kecken Bewußtsein mannigfach errungener Selbstständigkeit dem mir noch aus jenem ersten Besuch wohl erinnerlichen, würdig aussehenden Kammerdiener nach, der mir sogleich auf meine erste bescheidene Anfrage versicherte, ich sei willkommen. Er ging nach einem Hinterzimmer, wohin der edle Hausherr zurückgedrängt war, und in einem kleinen Vorgemach beschied mich mein freundlich vorhinein gehender Begleiter, einpaar Augenblicke zu warten.

– – – – – – – – – – – – –

Unversehens ging die Zimmerthüre leise auf, und hervorblickte das noch ganz unvergessene Apollo-Antlitz, apollinischer noch, weil in häuslicher Bequemlichkeit die Halsbinde fortgeblieben war, und so die Heroenphysiognomie sich noch idealer hervorhob. »Treten Sie näher!« sprach die wohllautende Stimme ..... Voll tiefster Ehrerbietung mich neigend, trat ich über die Schwelle.

Goethe winkte mir sogleich, mich zu setzen, indem er mir gegenüber platznahm. Und ich hub meinen Spruch – möglich, daß die Stimme des sechsunddreißigjährigen[92] Kriegsmannes nicht ohne alle Bebung blieb – etwa folgendermaßen an: »Ich komme, Ew. Excellenz für etwas zu danken, das Ihnen muthmaßlich schon längst vergessen ist: für meine gastlich huldreiche Aufnahme in Ihrem Hause vor nun etwa zehn Jahren.« Und nun berührte ich noch einige nähere, jedoch nur äußerliche Umstände von damals, fest entschlossen, wenn Goethe nichts Literarisches anrege, auch meinerseits nicht im Mindesten irgend einen Schritt deshalb fürder zu thun, sondern mich bald nach einfach geselliger Sitte wiederum zu empfehlen. Er aber sagte voll unbeschreiblicher Anmuth des Blickes und der Stimme: »Meinen Sie denn, daß ich Sie aus den Augen verloren hätte seitdem?«

Es durchfuhr mich wie ein elektrischer Strahl, aber sanft, und ich fühlte mich neubelebt. Nun folgten ehrende Worte, vollkommen dichterisch anerkennende für mich und auch für meine... Gattin, Caroline Baronin de la Motte Fouqué, und am Schluß der holden Rede fügte er hinzu: »Während meines letzten Badeaufenthaltes in Karlsbad waren Sie beide mit Ihren Dichtungen mir gar liebe Gefährten.«

Was ich ihm antwortete hieß etwa so: »Ich hoffe, Ew. Excellenz sieht klar in mich herein und sieht demzufolge, was ich nicht aussprechen kann; aber es ist ein Gipfelpunkt meines Lebens.« Sein freundliches Auge bestätigte mir's: ja, er hatte in der That in mich hereingesehen und er war in diesem Augenblicke zufrieden[93] mit mir. Nun aber drängte uns der Moment auch auf die äußerliche Gestaltung der Zeit, und wir besprachen uns darüber, soweit es die Umstände vergönnten, mich nach dem Bivouac wieder hinausrufend, ihn an ohne Zweifel weit mannigfach wichtigeres und höheres Schaffen. Zunächst äußerte ich meine Zufriedenheit, daß nun die Dichterwohnung wieder bald der wackern, aber freilich sehr überfüllenden Gäste werde entledigt sein. »Wissen Sie das so gewiß?« fragte Goethe, »und woher?« – »Weil niemand von uns Kriegern jetzt Muße hat, in der Verfolgung des besiegten Weltbesiegers zu weilen.« – »Besiegt? Wird er sich nicht vorerst noch bei Erfurt stemmen?« – »Das wünsch' ich, aber ich hoff' es kaum.« – »Schlagen Sie seinen Widerstand dort so leicht an?« – »Ich schlage nichts leicht an, was Napoleon thut oder läßt, und eine Schlacht um Erfurt würde manchen Kopf kosten, sehr möglich unter anderen den meinigen mit; aber derweil er dort mit uns bataillirte, würden ihm andere große Heerhaufen den Rückzug vollends verrennen, und es wäre dann völlig aus mit ihm. Ich aber halte ihn für einen viel zu großen Feldherrn, als daß er solches nicht unermeßlich klarer einsehen sollte, als ich.« – »Also?« – »Also er wird eilen, an und über den Rhein zu kommen so gut es gehen will, oder so schlimm.«

Goethe sah nachdenklich eine Zeit lang vor sich nieder und sprach alsdann mit tiefernstem Blicke: »So[94] wäre er denn also wirklich schon vollständig geschehen, der entscheidende Schlag? Desto besser.«

Beim Abschiede mich aus der Thür geleitend, reichte er mir gütig die Hand mit den Worten: »Der Krieg bringt viel Störendes, aber auch Schönes: so, daß Sie jetzt zu mir kamen. Gutes Glück mit Ihnen! Und lassen Sie mich von Ihnen hören, wenn's sein kann.«[95]


1512.*


1813, gegen Ende October.


Mit Heinrich von Heß

Noch einmal sah ich ihn [Goethe] im Leben wieder: es war nach der Leipziger Schlacht in Weimar, wo ich mit den, die französische Reiterei verjagenden Österreichern und Kosaken eindrang und ihm dann die früheren Ereignisse und den Gang dieser Riesenschlacht erzählen mußte. Freundlich lud er mich dann auf den folgenden Tag zu Tische ein, allein ein Abmarsch noch in dieser Nacht riß mich unvermuthet und ohne Abschied nehmen zu können von ihm und Weimar weg.

Nach seinem Wunsche schrieb ich ihm noch einmal während des Krieges aus Großgerau im Rheinthale[331] von dem Abmarsche des Bubna'schen Corps in die Schweiz und noch ein zweites Mal aus Chambéry nach geschlossenem Frieden.[332]


585.*


1813, 26. October.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Geschmack ist ein Euphemismus. Deutsche haben keinen Geschmack, weil Sie keinen Euphemismus haben und zu derb sind. Es kann keine Sprache euphemistisch sein und werden, als die, in der man diplomatisirt.«[95]


1663.*


1813, 11. November.


Mit Charlotte von Stein

Am 11. besuchte Goethe Charlotten. Ihre Frage, ob die Vernunft endlich in der Welt Herrscherin werden würde, verneinte er; denn sie habe keine Unterlage, sei bloß geistig; nur die Humanität müsse cultivirt werden.[70]


586.*


1813, 14. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Die ganze Geschichte mit dem Genie ist, daß die Menschen einmal einem gestatten, was sie sich unter einander selbst nicht gestatten, nämlich daß einmal einer ganz sein darf was er will und Lust hat.«[95]


587.*


1813, 20. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Die Griechen waren Freunde der Freiheit, ja! aber ein jeder nur seiner eigenen; daher stak in jedem Griechen ein Tyrannos, dem es nur an Gelegenheit fehlte, sich zu entwickeln.«[96]


588.*


1813, 24. November.


Mit Dietrich Georg Kiefer

Bei Goethe war ich eben eine halbe Stunde. Er redete mit mir sehr brav, wünschte, ich möchte in Weimar bleiben, statt mitzuziehen [als Freiwilliger] und bot mir seine ernste Mitwirkung an in meinen hiesigen öffentlichen Geschäften.[96]


589.*


1813, 24. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Bei den Deutschen wird das Ideelle gleich sentimental, zumal bei dem Troß der ordinären Autoren und Autorinnen.«[96]


590.*


1813, November.


Mit Heinrich Luden

Im Monat November 1813 befand ich mich in Weimar, um mit Bertuch, welcher den Verlag meiner »Nemesis« übernommen hatte, die nöthigen Verabredungen zu treffen. Bertuch wünschte, daß ich mit den Herren geheimen Räthen Voigt und Goethe über unser Unternehmen sprechen möchte; er selbst zwar hatte schon beiden Ministern angezeigt, was im Werke war, und keiner von beiden hatte eine Bedenklichkeit geäußert, indeß hielt er dafür, daß es doch angemessen wäre, daß ich auch mit ihnen darüber spräche, damit sie bei möglichen Schwierigkeiten sich nicht ungeneigt beweisen, sondern uns nöthigenfalls soweit als möglich vertreten möchten. Ich konnte oder wollte nicht recht begreifen, wie mir jemals nach der Befreiung Deutschlands von dem Joche der Fremden eine solche Protection nöthig werden könnte, gab aber Bertuch's größerer Erfahrung nach. Also ging ich noch vor Mittag zu dem geheimen Rath Voigt ..... Ich blieb so lange bei dem alten guten Herrn, daß ich vor Tische nicht mehr zu Goethe gehen konnte. Bertuch ließ anfragen, wann Se. Excellenz mich wohl empfangen könnte. »Sogleich nach Tische; etwa um 3 Uhr« – war die Antwort. Bei meinem Eintritt – und es war das erste Mal, daß ich ihm in Weimar meine Aufwartung machte – kam[97] Goethe mir entgegen, reichte mir die Hand und sagte mir in der verbindlichsten Weise höchst freundliche Worte. Aber er erleichterte mir nicht, wie Herr v. Voigt gethan hatte, das Anbringen meines Anliegens, vielmehr sprachen wir von gewöhnlichen Dingen, jedoch bald auch von den jüngsten Ereignissen. An dieses Gespräch knüpfte ich dann an: er würde, sagte ich, schon von Bertuch gehört haben, daß ich die Absicht hätte, eine politische Zeitschrift im Industriecomptoir herauszugeben. »Ja,« antwortete Goethe, »Bertuch hat mir davon gesprochen. Wie aber sind Sie auf diesen Gedanken gekommen?« Ich erzählte ihm mein Abenteuer mit Herrn v. Grolmann.1 »Freilich!« sagte Goethe, »bei der gegenwärtigen Aufregung, um – nicht – zu sagen – Begeisterung, finde ich das natürlich genug. Haben Sie denn schon mit Bertuch abgeschlossen, und steht Ihr Entschluß unwiderruflich fest?« »Die Ankündigung,« erwiderte ich, »ist schon in der Druckerei und wird in wenigen Tagen ausgegeben werden, wenn nicht etwa auf Seiten des hohen Ministeriums eine Bedenklichkeit obwaltet. Ebendeßwegen,« setzte ich hinzu, »möchte ich das Unternehmen der Protection Ew. Excellenz empfehlen.« – Goethe schwieg wohl eine Minute lang; sein Gesicht wurde sehr ernst. Alsdann hob[98] er an und sagte ungefähr folgendes. »Ich habe schon vor Jahren offen zu Ihnen gesprochen, auf Ihre Discretion rechnend; das will ich auch jetzt thun, Herr Hofrath. Als öffentlicher Beamter habe ich gegen die Herausgabe einer Zeitschrift nichts einzuwenden; unsere Regierung würde sich auch gewiß in dieser Zeit hartem Tadel aussetzen, wenn sie sich erlaubte, einem solchen Unternehmen entgegenzutreten. Wir haben ja – die Freiheit mit vielem Blute ruhmvoll erkämpft; was sollte uns die Freiheit, wenn wir sie nicht benutzen. Und gewiß sind wir am geneigtesten sie durch Wort und Schrift zu benutzen, auch schon darum, weil dieses der bequemste Modus ist. Also wird die herzogliche Regierung Ihnen und Bertuch ohne Zweifel vollkommen freie Hand lassen. Eine Protection zwar kann Ihnen niemand versprechen und niemand gewähren: ein jeder bleibt billig für seine Handlungen verantwortlich. Sie werden jedoch wohl auch keiner Protection bedürfen, und sollten sich jemals verleiten lassen, über die Schnur hinauszugehen, so wird Bertuch, der sich auf solche Dinge versteht, Sie schon an die Schranke mit der Inschrift Noli me tangere freundlich erinnern. – Hätten Sie mich aber, ehe Sie sich verbindlich gemacht hatten, vertraulich um meine Meinung gefragt, so würde ich Ihnen gewiß das ganze Unternehmen widerrathen und Sie aufgefordert haben, bei Ihren gelehrten geschichtlichen Arbeiten zu bleiben, oder vielmehr, da Sie sich schon in politica eingelassen, und sogar ein Handbuch[99] der Staatsweisheit geschrieben haben, zu Ihren gelehrten geschichtlichen Arbeiten zurückzukehren, die Welt Ihren Gang gehen zu lassen und sich nicht in die Zwiste der Könige zu mischen, in welchen doch niemals auf Ihre und meine Stimme gehört werden wird.«

Diese Worte überraschten mich sehr; ich fühlte mich auf das Tiefste verletzt. Indeß suchte ich mich so gut als möglich zu fassen, konnte aber nicht umhin etwas zu erwidern. »Ich muß gestehen, daß es mir fast lieb ist, Ew. Excellenz Meinung nicht früher und nicht vertraulich eingeholt zu haben; denn wie hoch ich auch jedes Wort Ew. Excellenz verehre, und wie glücklich ich sein würde, mit Ihnen zusammenzustimmen, so fürchte ich doch, daß ich diesmal den Rath Ew. Excellenz nicht befolgt haben würde; denn gerade das, daß der deutsche Michel bisher nur für sich selbst gesorgt, sein eigenes Steckenpferd geritten, alsdann seinen Klos gegessen und sich behaglich den Mund abgewischt hat, unbekümmert um das gemeine Wesen, um Vaterland und Volk – gerade dieses ist es ja, was Schimpf, Schande und unermeßliches Unglück über Deutschland gebracht hat, und all diese Schande und all dieses Unglück wird von Neuem über uns kommen, wenn wir zurückkehren zu der alten faulen Weise und gleichgültig aussprechen, was vor einem halben Jahre, als ich eben durch eine Gasse in Jena ging, ein ehrsamer Bürger seinem Nachbar zurief: Ja, Herr Nachbar, wie sollte es gehen? Gut! Die Franzosen sind fort, die Stuben[100] sind gescheuert, nun mögen die Russen kommen, wenn sie wollen. –« Und nun sprach ich einige Minuten fort: von der großen Entscheidung vor unsern Augen, von der Erhebung des deutschen Volkes, von den Proklamationen der Fürsten, von Vaterland, von Freiheit, von der Nothwendigkeit, gerade jetzt eine bessere Zukunft zu begründen, und von der heiligen Pflicht eines jeden guten Menschen, nach seiner Stellung und nach seinen Kräften mitzuwirken zur Benutzung dieser großen Tage des neuen Heiles.

Goethe saß ruhig. Endlich hob er mit einem leichten Lächeln die rechte Hand. Ich schwieg. Sogleich fing Goethe mit einer ungemein sanften Stimme, die zuweilen etwas bewegt zu werden schien, zu reden an, und sprach ohne Unterbrechung ziemlich lange. Von dem, was er sagte, vermag ich indeß nur einzelnes mitzutheilen, kann aber nicht unbemerkt lassen, daß ich mehr als Ein Mal auf das Tiefste ergriffen wurde, z. Th. allerdings durch seine Worte, weit mehr noch durch seine Weise, durch den Ton seiner Stimme, den Ausdruck seines Gesichtes, die Bewegung seiner Hände. »Ich habe Ihnen,« sagte Goethe, »ruhig zugehört und recht gern; Sie aber sind in einigen Eifer hineingerathen und dies ist eben nicht nöthig gewesen, da Sie gewiß selbst nicht glauben, daß Sie mir etwas Neues, daß Sie mir etwas gesagt haben, was mir unbekannt gewesen wäre. Ich spreche über solche Dinge sehr, sehr ungern, und Sie dürfen überzeugt sein, daß ich meine[101] guten Gründe habe. Ich würde mich auch mit Ihnen nicht in ein solches Gespräch eingelassen haben, wenn von etwas Geschehenem, von einem facto, oder auch von einer einzelnen Handlung, die erst geschehen soll, die Rede wäre. Es gilt aber um etwas anderes: Sie wollen in dieser wunderlichen und furchtbaren Zeit ein Journal herausgeben, ein politisches Journal; Sie gedenken, dasselbe gegen Napoleon zu richten und gegen die Franzosen. Aber, glauben Sie mir: Sie mögen sich stellen, wie Sie wollen, so werden Sie auf dieser Bahn bald ermüden; Sie werden bald daran erinnert werden, daß die Windrose viele Strahlen hat. Alsdann werden Sie an die Throne stoßen und wenn auch nicht denen, welche auf denselben sitzen, doch denen mißfallen, welche dieselben umgeben. Sie werden alles gegen sich haben, was groß und vornehm in der Welt ist; denn Sie werden die Hütten vertreten gegen die Paläste und die Sache der Schwachen führen gegen die Hand der Starken. Zugleich werden Sie von Gleichen Widerspruch erfahren theils über Grundsätze, theils über Thatsachen. Sie werden sich vertheidigen und, wie ich hoffen will, glücklich, und dadurch werden Sie neue Feindschaft wider sich erwecken. Mit Einem Worte: Sie werden in mannigfaltige Händel verwickelt werden. Mit den Gleichen dürften Sie vielleicht fertig werden; wen Sie nicht überwinden, den können Sie ignoriren, und manchem geschieht mit Verachtung zu viele Ehre. Aber anders ist es mit den Mächtigen und Großen: mit denselben ist nicht gut Kirschen zu[102] essen; Sie wissen aus welchen Gründen: den Waffen derselben hat man nichts einzusetzen. – Da ich dieses alles ganz klar voraussehe, so bin ich allerdings bedenklich. Ich möchte unserm fürstlichen Hause, für welches auch Sie fromme Wünsche hegen, keine Unannehmlichkeiten bereitet, ich möchte unser Gouvernement, das nicht über hunderttausend Bayonette zu verfügen hat, in keine verdrießlichen Verhandlungen verwickelt sehen; ich möchte von der Universität, deren Mitglied Sie sind, jeden Nachtheil abwenden; ich denke endlich – warum sollte ich es nicht sagen? – auch an meine Ruhe und Ihr Wohl.«

Hier trat eine Pause ein. Ich schwieg still, weil ich, was ich etwa zu sagen vermocht hätte, nicht zu sagen wagte, und weil ich auch diesem Manne gegenüber in der That sehr bewegt war. Bald fuhr Goethe fort:

»Glauben Sie ja nicht, daß ich gleichgültig wäre gegen die großen Ideen Freiheit, Volk, Vaterland. Nein! diese Ideen sind in uns; sie sind ein Theil unsers Wesens, und niemand vermag sie von sich zu werfen. Auch liegt mir Deutschland warm am Herzen; ich habe oft einen bittern Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im Einzelnen und so miserabel im Ganzen ist. Eine Vergleichung des deutschen Volkes mit andern Völkern erregt uns peinliche Gefühle, über welche ich auf jegliche Weise hinwegzukommen suche, und in der Wissenschaft[103] und in der Kunst habe ich die Schwingen gefunden, durch welche man sich darüber hinwegzuheben vermag; denn Wissenschaft und Kunst gehören der Welt an und vor ihnen verschwinden die Schranken der Nationalität. Aber der Trost, den sie gewähren, ist doch nur ein leidiger Trost und ersetzt das stolze Bewußtsein nicht, einem großen, starken, geachteten und gefürchteten Volke anzugehören. In derselben Weise tröstet auch nur der Gedanke an Deutschlands Zukunft; ich halte ihn so fest, als Sie, diesen Glauben. Ja, das deutsche Volk verspricht eine Zukunft, hat eine Zukunft. Das Schicksal der Deutschen ist – mit Napoleon zu reden – noch nicht erfüllt. Hätten sie keine andere Aufgabe zu erfüllen gehabt, als das römische Reich zu zerbrechen und eine neue Welt zu schaffen und zu ordnen, sie würden längst zu Grunde gegangen sein; da sie aber fortbestanden sind, und in solcher Kraft und Tüchtigkeit, so müssen sie nach meinem Glauben noch eine große Zukunft haben, eine Bestimmung, welche umsoviel größer sein wird, denn jenes gewaltige Werk der Zerstörung des römischen Reiches und der Gestaltung des Mittelalters, als ihre Bildung jetzt höher steht. Aber die Zeit, die Gelegenheit, vermag ein menschliches Auge nicht vorauszusehen und menschliche Kraft nicht zu beschleunigen oder herbeizuführen. Uns einzelnen bleibt inzwischen nur übrig, einem jeden nach seinen Talenten, seiner Neigung und seiner Stellung, die Bildung des Volkes zu mehren,[104] zu stärken und durch dasselbe zu verbreiten nach allen Seiten und wie nach unten, so auch, und vorzugsweise, nach oben, damit es nicht zurückbleibe hinter den andern Völkern, sondern wenigstens hierin voraufstehe, damit der Geist nicht verkümmere, sondern frisch und heiter bleibe, damit es nicht verzage, nicht kleinmüthig werde, sondern fähig bleibe zu jeglicher großen That, wenn der Tag des Ruhmes anbricht. – Aber wir haben es jetzt nicht mit der Zukunft zu thun, nicht mit unsern Wünschen, unsern Hoffnungen, unserm Glauben, und auch nicht mit den Schicksalen, die uns und unserm Vaterlande bevorstehen mögen, sondern wir sprechen von der Gegenwart, von den Verhältnissen, unter welchen Sie Ihre Zeitschrift beginnen wollen. Nun sagen Sie zwar: die Entscheidung ist gefallen. Freilich! Aber diese Entscheidung ist doch im besten Falle erst der Anfang vom Ende. Noch sind zwei Fälle möglich: entweder der Gewaltige besiegt seine Feinde allesammt noch einmal, oder er wird von ihnen besiegt. Ein Abkommen halte ich kaum für möglich, und wüßte man es auch zustande zu bringen, so würde es nichts helfen: wir wären auf der alten Stelle. Setzen wir nun den ersten Fall: Napoleon besiegt seine Feinde; – unmöglich! sagen Sie? So sicher sind wir nicht. Indeß halte ich es selbst nicht für wahrscheinlich. Wir wollen also den Fall fallen lassen und ihn für unmöglich erklären. Es bliebe mithin nur der Fall übrig, daß Napoleon besiegt würde, gänzlich besiegt. Nun? und[105] was soll nun werden? Sie sprechen von dem Erwachen, von der Erhebung des deutschen Volks und meinen, dieses Volk werde sich nicht wieder entreißen lassen, was es errungen und mit Gut und Blut theuer erkauft hat, nämlich die Freiheit. Ist denn wirklich das Volk erwacht? Weiß es, was es will? Haben Sie das prächtige Wort vergessen, das der ehrliche Philister in Jena seinem Nachbar in seiner Freude zurief, als er seine Stuben gescheuert sah und nun nach dem Abzuge der Franzosen die Russen bequemlich empfangen konnte? Der Schlaf ist zu tief gewesen, als daß auch die stärkste Rüttelung so schnell zur Besinnung zurückzuführen vermöchte. Und ist denn jede Bewegung eine Erhebung? Erhebt sich, wer gewaltsam aufgestöbert wird? Wir sprechen nicht von den Tausenden gebildeter Jünglinge und Männer, wir sprechen von der Menge, den Millionen. Und was ist denn errungen oder gewonnen worden? Sie sagen: die Freiheit; vielleicht würden wir es aber Befreiung nennen – nämlich Befreiung nicht vom Joche der Fremden, sondern von Einem fremden Joche. Es ist wahr: Franzosen sehe ich nicht mehr und nicht mehr Italiener, dafür aber sehe ich Kosaken, Baschkiren, Kroaten, Magyaren, Kassuben, Samländer, braune und andere Husaren. Wir haben uns seit einer langen Zeit gewöhnt, unsern Blick nur nach Westen zu richten und alle Gefahr nur von dorther zu erwarten, aber die Erde dehnt sich auch noch weithin nach Morgen[106] aus. Selbst wenn wir all das Volk vor unsern Augen sehen, fällt uns keine Besorgniß ein, und schöne Frauen haben Roß und Mann umarmt. Lassen Sie mich nicht mehr sagen. Sie zwar berufen sich auf die vortrefflichen Proclamationen fremder Herren und einheimischer. Ja, ja! Ein Pferd, ein Pferd! Ein Königreich für ein Pferd!«

Als ich auf dieses Wort etwas erwiderte, entstand ein Gespräch, in welchem Goethes Worte immer bestimmter, schärfer und ich möchte sagen individueller wurden. Aber ich trage Bedenken niederzuschreiben, was gesprochen worden ist. Auch wüßte ich nicht, wozu es dienen sollte. Nur das Eine will ich bemerken, daß ich in dieser Stunde auf das Innigste überzeugt worden bin, daß diejenigen im ärgsten Irrthum sind, welche Goethe beschuldigen, er habe keine Vaterlandsliebe gehabt, keine deutsche Gesinnung, keinen Glauben an unser Volk, kein Gefühl für Deutschlands Ehre oder Schande, Glück oder Unglück. Sein Schweigen bei den großen Ereignissen und den wirren Verhandlungen dieser Zeit war lediglich eine schmerzvolle Resignation, zu welcher er sich in seiner Stellung und bei seiner genauen Kenntniß von den Menschen und von den Dingen wohl entschließen mußte.

Als ich endlich aufbrach, waren meine Augen mit Thränen angefüllt. Ich faßte Goethes beide Hände, weiß aber durchaus nicht, was ich gesagt, und ebensowenig, was Goethe geantwortet hat. Gewiß ist, er[107] war sehr herzlich. Als ich schon aus der Thüre getreten war, wandte ich mich noch einmal zurück: »Bei meinem Eintritt hatte ich die Absicht, Ew. Excellenz noch eine Bitte vorzutragen; ich habe es aber unterlassen und will es auch jetzt nicht thun: ich wollte Ew. Excellenz bitten, mein Journal doch mit einigen, wenigstens mit Einem Beitrag zu beehren.« – »Ich danke Ihnen,« fiel Goethe ein, »daß Sie es nicht gethan haben; ungern hätte ich es Ihnen abgeschlagen, aber ich hätte es Ihnen abschlagen müssen, und Sie wissen nunmehr warum.«


1 Dabei hatte der damalige Major, später General v. Grolmann Luden das Vorhaben, als Freiwilliger einzutreten, ausgeredet und ihn aufgefordert, vielmehr mit Wort und Schrift dem Vaterlande zu dienen.[108]


591.*


1813, 30. November.


Mit Friedrich de la Motte Fouqué

Im Spätherbst kam ich kränkelnd vom Heere zurück ..... In Weimar gedachte ich einen Rasttag oder zweie zu halten. Als ich am Abende meiner Ankunft zu Goethe ging, fand ich Herrn v. Müller bei ihm, den jetzigen Kanzler.

»Man hatte Sie mir unter so kauderwelschem Namen angemeldet,« sagte Goethe, »daß ich schon Lust hatte, den Fremdling mit höflicher Entschuldigung abweisen zu lassen; endlich ward doch beschlossen, den preußischen Rittmeister in Augenschein zu nehmen, und nun ist es mir lieb.«

Goethe hatte auf einem Tische neben sich unterschiedliche[108] Marmorplatten, wohlgeschliffen, von mannigfacher Farbe liegen, und meinen Blick dorthin begleitend sagte er: »Bruchstücke aus der Marmorbekleidung des Delphischen Tempels. Das sind nun so meine Reliquien« – setzte er leise lächelnd, wohl nicht ohne absichtliche Beziehung, hinzu.

Als ich mich empfahl, äußerte er gütig, er hoffe mich während der Zeit meines Verweilens öfter wiederzusehen.[109]


592.*


1813, Ende November oder Anfang December.


Mit Luise Seidler

Von Goethe kann ich Dir [Pauline Schelling] wenig Erfreuliches mittheilen; diese unruhigen Zeiten haben seine Behaglichkeit gestört und das empfindet er übel und soll es auch wiederum empfinden lassen. Ich war neulich auch Mittags bei ihm und empfand es doch auch etwas, ob er gleich die Güte selbst war und mir drei herrliche Stunden mit der Mittheilung einiger Mappen Handzeichnungen und alter herrlicher Kupferstiche schenkte; denn er war weniger lebhaft, als sonst. Auch meinte er: man müsse sich auf alle Art zerstreuen und er arrangire jetzt seine Kupferstiche nach den Schulen; das sei Opium für die jetzige Zeit. Nimm dies, wie Du willst: mir war es leid, daß er für die jetzige Zeit, die freilich lastenvoll, aber doch überall[109] groß und herrlich ist, Opium will. Auch meinte er: es sei unrecht, von den Studirenden und Professoren, mit in den Kampf ziehen zu wollen, da jetzt schon so viel geschehe, dadurch Wissenschaften gestört etc. würden. – Übrigens ließ er sich nicht weiter über die Sachen aus; aber daß er nicht dafür enthusiasmirt ist, beweist er doch auch, indem er seinem Sohn verweigert, sich unter die Freiwilligen zu stellen, der es wünscht und in kein gutes Licht durch sein Bleiben gestellt wird.[110]


593.*


1813, 2. December.


Mit Friedrich de la Motte Fouqué

Zwei Tage darauf traf ich mit Goethe bei der verehrten Schriftstellerin Johanna Schopenhauer zusammen im heiter erlesenen Kreise, zum Abendessen eingeladen. Tags vorher hatte ich einer Aufführung des »Egmont« beigewohnt, ohne den Dichter dieses mir vorzüglich theuern Meisterwerkes unter den Zuschauern zu erblicken. Hatte er mir ja auch gleich am ersten Abend geäußert, er gedenke nicht hinzugehen, mir aber den Besuch sehr empfohlen mit dem Beisatze: »Sie werden viel Gutes sehn, wenn ich auch die Aufführung nicht unbedingt loben kann.«

– – – – – – – – – – – – – –

Ich begab mich in das Haus der Madame Schopenhauer.


[110] Wer die Anmuth und seine Gastlichkeit, welche dort unter der Leitung der edlen Herrin waltete, je erfuhr, mag sich von selbst denken, wie ein Abend, ganz nach Goethes Sinn eingerichtet, dort verfließen mochte: andren läßt es sich eben nicht eigentlich wiedergeben. Goethe bestand darauf, ich müder Kriegsmann müsse den Platz auf dem Sopha einnehmen, und setzte sich in einen bequemen Lehnstuhl neben mich. Der Meister zeigte sich in all seiner Milde und Huld. Bald kam das Gespräch auf die gestrige Aufführung des »Egmont«. Ich rühmte die Darstellung des Clärchen durch Madame Wolff in dem Sinne, wie ich es nachher durch ein in Weimar noch zurückgelassenes Gedicht also aussprach


Egmont's Liebchen, Egmont's Clärchen,

Wundersam gestaltet Kind:

Leicht und rosig wie ein Märchen,

Ach! und doch so tief gesinnt.


Egmont's Heldin, Egmont's Fahne,

Schürend heil'ge Freiheitsgluth,

Dann im Tonfall, gleich dem Schwane

Sinkend in die dunkle Fluth.


Egmont's Göttin, Egmont's Sonne!

Ja, auch mir nach heißer Schlacht

Ward zutheil die Heldenwonne,

Dich zu schau'n in Deiner Pracht.


Goethe hat sich späterhin über diese Verse sehr zufrieden geäußert, als richtig die drei Phasen seines Clärchens bezeichnend, und erwiederte mir auch meine damaligen Mittheilungen: allerdings könne jene Gestaltung[111] der Liebe, des Heroismus und der Verklärung nie schöner dargestellt werden, als durch die von mir mit so vielem Recht bewunderte Künstlerin.

Indem ich nun während des heitern Gespräches über »Egmont« vorzüglich auch die letzte Erscheinung Clärchens als tröstende Freiheitsgöttin hervorgehoben hatte, sagte Goethe lächelnd: »Ja, und stellen Sie sich vor, just das wollte man mir früher abdisputiren, wenigstens für die theatralische Darstellung. Und sogar mein lieber Schiller war mit dabei und ließ als damaliger Lenker der hiesigen Schauspiele die Erscheinung bei der Aufführung auch wirklich fort.«

»Wie war denn das möglich?« fragte ich staunend. »Konnte er denn irgend andres an die Stelle setzen? Denn so ganz im Hinabsinken erlöschen konnte doch nun einmal der Schluß nicht.« – »Ei nun!« entgegnete Goethe, »er ließ den Alba während der Publication des Urtheils verlarvt zugegen sein; Egmont aber riß ihm die Larve ab, sagte ihm viele harte Dinge, und dann erst ging es zum Tode.«

»Ew. Excellenz konnte das unmöglich mit ansehn –« sagte ich. – »Zufällig war ich damals just in Ilmenau,« erwiderte er; »aber Sie haben recht, mitangesehn hätte ich es auf keine Weise.« .....

Während andrer Gespräche kam der Meister auch auf seinen.. Elisabeths-Epilog zum »Essex« und sagte: »Den kann unser Gast noch nie vernommen haben, und ich fühle mich gestimmt, ihn zu sprechen.« .... Goethe[112] sprach seine Dichtung wie ein donnernder Jupiter aus .....

Als es zum Abendessen ging, sagte Goethe zu den jüngeren Damen, mit denen ich mich just unterhielt, lächelnd: »Ihr Mädchen, laßt mir für heute den Kriegsmann!« und führte mich freundlich neben sich an den Tisch. Unter manchem geistreich frohen Hin- und Hersprechen in dem edlen Kreise fragte mich endlich auch der Meister: was mir denn die Muse während des Feldzuges bescheert habe und ob ich nicht eins oder das andere davon mittheilen wolle; »denn allein sind Sie doch gewißlich nicht von ihr gelassen worden,« setzte er gütig hinzu.

Mir kamen zuerst einpaar Zeilen in den Sinn, welche mir nach der verlornen Schlacht bei Dresden Tröstung gebracht hatten, in dem schmerzlichen Augenblicke, wo ich erfuhr, es gehe mit uns nach Böhmen zurück, ja, wo sogar das Gerücht von einem geschlossenen Waffenstillstande raunen wollte. Meine Jäger hatten von beidem nichts vernommen und freuten sich in mannigfacher Jugendlustigkeit und Schäkerei des anmuthig bequemen Beiwachtplatzes auf grünendem Waldhügel, Holz reichlich darbietend für Koch- und Lagerfeuer, ein frischer Bach zur Erquickung nahe für Mann und Roß. Der Kriegsmann im Felde ist oft kindlich leicht erfreut, aber diesmal schnitt mir die Fröhlichkeit meiner Jünglinge tief elegisch durch die Seele. Sie wissen's nicht! Nur allzubald werden sie's erfahren,[113] die lieben, frischen, jetzt noch so keck schlagenden Herzen! Und ich stellte mich schlafend ...., meine wehmuthfeuchten Augen zu verbergen. Denn jetzt Waffenstillstand und Friede – was konnte das anders heißen, als Europa auf's Neue gekettet in Napoleon's Band und alle die schönen Opfer umsonst verblutet! – Ich schilderte das zum Eingange und sprach dann die folgenden Reime, vor denen sich damals mein Haupt wiederum kräftig emporgerichtet hatte.


Herr Gott, Dein Wille soll ergehn!

Ich armes Menschenkind,

Ich kann ihn leider nicht verstehn,

Ich bin zu blöd' und blind.


Doch heb' ich zu Dir auf in Müh'

Das schmerzgeschlag'ne Haupt

Und denke spat, und denke früh:

Dort schaut, wer diesseits glaubt.


Alle zeigten sich ergriffen und sprachen es aus; nur Goethe nicht. Der sah still und wortlos vor sich nieder. Darauf gedachte ich des raschen und frohen Kriegsumschwungs, zwei Tage nachher durch die Kulmer Schlacht in Verbindung der andern, von allwärts erwachenden Jubelkunden und sprach folgendes Lied hin:


Der Sieg schwang seine goldnen Flügel

Durch's Kampfesthal,

Und wie Altäre stehn die Hügel

In seinem Strahl.


[114] Der hohen Berge Gipfel wallen

Von Opferpracht,

Derweil noch einzle Donner schallen,

Echo der Schlacht.


Lang' habt Ihr, schwer und kühn gerungen

Manch heißen Tag;

Nun ist's, ihr Brüder, ist's gelungen,

Der Sieg ist wach.


Herüber tönt's von Schlesiens Höhen,

Her aus der Mark,

Wie Preußens, Schwedens Banner wehen

An Ehren stark;


Wie flüchtig scheue Franzosenhaufen

Von deutschem Herd

Entherzet zittern, wanken, laufen

Vor deutschem Schwert.


Könnt fassen Ihr den reichen Segen

Von nah und fern?

Bist Du nicht fast davor erlegen

Du Volk des Herrn?


Vor Dem durchbebt Dich heil'ges Zittern,

Der kann und will:

Knie nieder unter Fruchtgewittern,

Und bete still.


»Schön!« sagte der Meister diesmal tief ernst, »sehr schön!« worauf er dann sogleich ganz freundlich hinzusetzte: »Und um so erquicklicher, als das erstere beinah etwas penible zu nennen war.« – Ich ließ mir durch den Nachsatz den Vordersatz nicht verkümmern und dachte nur eben an seine Reliquien aus dem Delphischen Heidentempel.[115]


594.*


1813, kurz nach 2. December.


Mit Friedrich de la Motte Fouqué

So ließ ich mich denn eines Vormittags zum Abschiedsbesuch bei Goethe melden und fand sehr gütigen Empfang. Der Meister kam auf einen vor kurzem an's Licht getretenen, französischen Roman zu sprechen, »Marie« geheißen, verfaßt durch Ludwig Buonaparte, ehemaligen König von Holland, und ließ günstige Worte darüber vernehmen. Ich, so eben aus dem Felde Heimkehrender, hatte natürlich noch nichts davon gesehn, äußerte jedoch, meine Frau bewahre ein eigenes Interesse an französischer Literatur, und ich könne ihr überhaupt nicht leicht Erfreulicheres mitbringen, als ein Dichtwerk von Goethe empfohlen.. »Nur Dichtwerk« – entgegnete der Meister langsam; »damit legen Sie denn doch wohl einen etwas zu hohen Maßstab an. Nicht als Dichter müssen Sie es messen wollen, aber als ein interessantes Buch muß man es in der That gelten lassen.« Er fuhr jedoch fort, sich selbst herunterzuhandeln, und es blieb endlich vom Lobe nicht viel mehr übrig, als Theilnahme an der edlen Persönlichkeit, mit welcher Goethe in Karlsbad Zimmer an Zimmer gewohnt hatte und in nähere Bekanntschaft zu ihm getreten war.

Dadurch aber hatte sich das Gespräch auf die neuere französische Literatur überhaupt gewendet, welche damals[116] noch nicht den grellen Gegensatz von Classischem und Romantischem in sich hervorgebracht hatte, wie heutzutage; vielmehr mochte noch im Ganzen um das Jahr dreizehn von ihr gelten, was in den Zeiten Ludwigs XIV. von ihr gegolten hatte. Somit sagte Goethe denn auch unter anderm: »Sehen Sie, ein Hauptunterschied zwischen der französischen und deutschen Literatur liegt darin, daß man dort entweder als zur anerkannten Richtung gehörig absolut da ist, unerschütterlich, oder, weil eben nicht zu den Gültigen gerechnet, gar nicht vorhanden ist; bei uns hingegen kann ich in dieser Ecke der Stube stehn und Sie mir diagonal entgegengestellt in jener, und wir sind und bleiben alle beide da.«

Heiter dachte ich an die Delphischen Marmortäflein und mein penibles Gedicht und nahm in der allerzufriedensten und allerdankbarsten Stimmung Abschied, wobei denn noch ausdrücklich ausgemacht ward, ich solle dem Meister meine künftigen poetischen Productionen, sowie sie an's Licht träten, einsenden.[117]


595.*


1813, zwischen 5. und 21. December.


Mit Friedrich Rochlitz und dessen Familie


a.

Jetzt nach Weimar! denn da erquickte man mich auch unmittelbar thätig; niemand aber that das mehr, oder vielmehr: niemand that das so ächt human, ganz[117] würdig, vertraulich und meiner Weise sich bequemend, als der Mann, den Tausende dazu gar nicht fähig glauben, weil Tausende über ihn urtheilen, ohne ihn nahe zu kennen – Goethen mein' ich ..... Ich hatte Goethen einige Tage vor meiner Reise geschrieben – nichts, als ich komme mit Frau und Kindern – ich will mich erholen – lassen Sie mich was Gutes vom Theater und, kann es sein, etwas von Ihren Kunstsachen sehen, womit ich jenen Zweck am Schönsten zu erreichen gedenke .....

Als ich den ersten Morgen [den 6. December] zu ihm kam, arrangirte er mit ebensoviel Feinheit und Vertrauen, als selbst mit Sorge gegen Frau und Kinder unsre Zeit im Ganzen für unsern Aufenthalt. Die Residenzer... gleich zu stimmen, gab er uns den zweiten Tag ein schönes und leckeres Mahl, dem aber niemand beiwohnen sollte, als die wir wünschten; und deren waren wenige. Dann ward das Theater geordnet: ich wünschte freilich den »Tasso« oder die »Iphigenia«, aber die vielen Russen in Weimar und auch die meisten der Preußen, die vom Erfurter Belagerungscorps zum Schauspiel herüberkamen, haben dazu nicht Ruhe, nicht Bildung, nicht Geschmack; auch sind jene Werke eben jetzt wirklich nicht an der Zeit und nur für die, die allenfalls stundenlang darüber hinaus können. So wurde denn außer manchem schönen Musikalischen vornehmlich »Götz von Berlichingen«, in zwei Abende vertheilt, aufgetischt, und so, daß ich nie vollendetere[118] theatralische Darstellungen gesehen habe. (Goethe ließ die Hauptpersonen erst kommen, wohnte den Proben lenkend und anfeuernd bei etc.)... Die neue Goethesche Umarbeitung von »Romeo und Julie« war auch angesetzt und eingerichtet, wurde aber leider durch einen unglücklichen Zufall unmöglich gemacht. Damit wir übrigens alles recht bequem und vortheilhaft sähen, überließ Goethe uns seine Loge und kam dahin selbst nur, uns zuweilen zu besuchen.

Noch schöner und von allem Scheinen entfernter war folgendes. Schon jenen ersten Morgen that er mir den Vorschlag: »Dies Zimmer lasse ich jeden Morgen und dann den Tag über für Sie heizen; niemand darf sonst hinein. Jeden Morgen sorge ich dafür, daß Sie wenigstens auf einige Stunden angenehme Beschäftigungen mit Kunstsachen vorbereitet finden. Kommen Sie nun, oder kommen Sie nicht – wie es eben Ihre Stimmung will. Kommen Sie – mein Diener wird mir's sagen, und kann ich, so komme auch ich; wir beschäftigen uns gemeinschaftlich, sprechen darüber etc. Kann ich nicht, so werden Sie mich entschuldigen.« – Und das hielt er pünktlich und fehlte nicht einen einzigen Tag; ich aber mußte deren drei wegbleiben, und auch das war ihm nicht befremdlich. Handzeichnungen guter, alter und neuer Meister waren es vornehmlich, womit wir uns unterhielten und worüber wir zuweilen wacker stritten. (Auch hier sahe ich: was weiß der Mann nicht alles! und wie weiß er, was andern[119] wohl auch bekannt, durch Weitausgreifen und Zusammenstellen des Entfernten neu und lehrreicher und schön anregend zu machen!) – Übrigens gab er uns noch vor dem Abschiede ein großes, herrliches musikalisches Fest in seinem Hause, wo ich auch mehrere ganz neu von ihm gedichtete unvergleichliche Stücke, die nicht gedruckt sind und jetzt nicht gedruckt werden sollen, kennen lernte.


b.

Ein gewisses großes, höchst unerwartetes Weltereigniß war der Gegenstand eines langen, sehr ernsten und eindringlichen Gesprächs gewesen. Der Referent [Rochlitz], von diesem Gespräche endlich angegriffen, konnte nicht unterlassen – ohne alle Absicht, bloß weil er sich angegriffen fühlte – auszurufen: »Ich dächte: genug für heute! Und lassen Sie uns nur noch Gott die Ehre geben und seine moralische Weltregierung laut anerkennen!« Beide Sprechende waren im Zimmer auf- und abgegangen. Hier blieb Goethe plötzlich stehen und sagte mit feierlichem Tone: »Anerkennen? sie? Wer muß das nicht! Ich aber schweigend.« – »Schweigend? Eben das?« – »Wer kann es ausreden außer allenfalls für sich selbst? für andere wer? Und wenn er weiß, daß er es nicht kann, so ist's ihm nicht erlaubt.«[120]


1513.*


1813, zwischen 5. und 21. December.


Mit Friedrich Rochlitz

Goethes ›Leben III‹ ist, wie er sagte, nur darum nicht längst ausgegeben, weil Frommann den Druck nicht fördern konnte und Cotta, da er das Buch nur erst zu Ostern verrechnen kann, wahrscheinlich jenen nicht genug trieb. Nun ist aber der Band fast ausgedruckt; zu lesen gab er mir ihn nicht, weit ich dazu zuhause mehr Zeit habe und er auf den Totaleindruck rechne. Aber was vornämlich darin stehe, hat er mir nicht gesagt, und nach diesem möchte wohl der dritte Band soweit über den zweiten stehen, als dieser über den ersten – an allgemeinem Interesse nämlich.[332]


1664.*


1813, zwischen 5. und 21. December.


Mit Friedrich Rochlitz

Goethe's »Leben« III ist, wie er sagte, nur darum nicht längst ausgegeben, weil Frommann den Druck nicht fördern konnte, und Cotta, da er das Buch erst[70] zu Ostern verrechnen kann, jenen nicht genug trieb. Nun ist aber der Band fast ausgedruckt. Zu lesen gab er mir ihn nicht, weil ich dazu zu Hause mehr Zeit habe und er auf den Totaleindruck rechne. Aber was vornehmlich darin steht, hat er mir gesagt, und nach diesem möchte wol der dritte Band soweit über den zweiten stehen, als dieser über dem ersten – an allgemeinem Interesse nämlich.[71]


1514.*


1813, gegen Mitte December.


Mit einem preußischen Artillerieoffizier.1


a.

1813, wo ich den ganzen Abend in seinem [Goethes] Hause blieb, mußte ich ihm sehr viel von den Kriegen in Rußland, Deutschland und Frankreich erzählen, und[332] er erkundigte sich dabei auf das Genaueste nach vielen einzelnen Begebenheiten und besonders auch nach verschiedenen Persönlichkeiten in unserem preußischen Heere, die er früher gekannt hatte. Ganz merkwürdig war mir dabei sein seltenes Gedächtniß, womit er sich noch oft selbst der unbedeutendsten Kleinigkeiten aus der Campagne von 1792 und der Namen von Hunderten von Offizieren und anderen Persönlichkeiten, mit denen er damals in Berührung gekommen war, zu erinnern wußte. So hatte ich damals z.B. einen Kanonier Namens Muhsmann, so einen rechten Pommer, grob, etwas faul und ungemein freßlustig, aber auch treu, zuverlässig, muthig und von großer Körperkraft, zum Burschen gehabt. Dieser hatte Goethe oft ganze Strecken huckepack getragen, wenn letzterer zum Herzog von Weimar oder anderen hohen Herrschaften befohlen war und in den Dörfern in Frankreich die Wege so furchtbar schmutzig waren, daß man sie gar nicht zu Fuß passiren konnte, ohne sich auf das Ärgste zu beschmutzen. Goethe erinnerte sich dieses Umstandes noch mit vielem Vergnügen und frug mich, wo dieser starke Kanonier Muhsmann, auf dessen Schultern er damals so oft geritten hätte, jetzt sei. Als ich ihm sagte, daß derselbe sich 1806 bei Lübeck sehr ausgezeichnet, dabei aber ein Bein verloren habe, und jetzt, soviel ich wisse, in ärmlichen Verhältnissen als Nachtwächter in Belgard lebe, trug er mir, wenn ich ihn sehen sollte, viele Grüße an ihn auf und gab mir dann auch einen doppelten Friedrichsd'or,[333] um ihm diesen in seinem Namen zu schenken oder ihn, wenn er etwa inzwischen schon gestorben, seiner hinterlassenen Familie einzuhändigen. Der alte Muhsmann lebte noch, als ich im Winter von 1814-1815 nach Belgard kam und freute sich über dies Geschenk von Goethe sehr.


b.

Zu Weimar, wo ich einen Rasttag hielt, machte ich meinem alten früheren Kriegskameraden und Gönner, dem Geheimrath v. Goethe, einen Besuch. Er war wie immer gegen mich höchst freundlich und lud mich auch zu Tische ein, wo wir dann bei einer Flasche gutem alten Rheinwein einpaar Stunden ganz vergnüglich verplauderten und uns der Zeiten in dem Feldzug von 1792 und bei der Belagerung von Mainz wieder erinnerten. Was mir aber, offen gestanden, jetzt an Goethe gar nicht recht gefallen wollte, war seine geringe patriotische Freude über unsere letzten glänzenden Siege und die Vertreibung Napoleon's aus Deutschland. Er verhielt sich auffallend kühl und kritisirend dagegen und pries sogar die vielen glänzenden Eigenschaften des Kaisers Napoleon auf eine sehr beredte Weise. Um mich mit einem so berühmten Dichter und Gelehrten, wie Goethe ist, in eine Disputation einzulassen, besaß ich natürlich lange nicht Redegewandtheit genug, und so konnte ich ihm nur erwiedern, daß wir preußischie Soldaten glücklicherweise eine ganz andere[334] Gesinnung hegten, Napoleon als den Unterdrücker unseres Vaterlandes haßten und freudig unser Blut vergießen wollten, um ihn für immer in Deutschland unschädlich zu machen.


1 Vergl. Nr. 1453, 1454 und 1490.[335]


596.*


1813, 24. December (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Eigentlich ist das, was nicht gefällt, das Rechte; die neuere Kunst verdirbt, weil sie gefallen will.« (Bei Gelegenheit der Katastrophe der Nibelungen.)[121]


597.*


1813, Ende December (?).


Mit Eduard Genast

Eines Tages hatte ich im Auftrag meines Vaters eine Bestellung bei Goethe zu machen. In seinem Hause angelangt, wurde ich in den Salon, wo der alte Flügel stand, geführt; Goethe kam. Als mein Botendienst zu Ende war, wollte ich mich unterthänigst empfehlen; er aber hielt mich zurück und sagte: »Dein Vater hat mir mitgetheilt, daß Du bei Eberwein Singestunde hättest und Dich sehr fleißig zeigtest; er ist aber mit Deiner Neigung nicht einverstanden, und Du sollst Conditor bleiben.« – »Ja, Excellenz, das will er, aber ich habe zu große Lust zum Theater,« erwiderte ich. – »Was singst Du, und was hast Du bis jetzt studirt?« – »Verschiedene Lieder von Ew. Excellenz, von Ehlers, Moltke und Reichardt componirt; dann habe ich auch den Osmin und Mafferu eingeübt.« – »Nun so sing mir etwas vor, daß ich Deine Stimme[121] höre.« – Keck genug sang ich ihm das Lied »Willkommen und Abschied« und »Wer ein Liebchen hat gefunden« [aus der Oper »Belmonte und Constanze«]. – »Das letztere war nicht ohne Humor und Deine Stimme ist für Deine Jahre gut, aber zu dem erstern fehlt Dir bis jetzt noch das Verständniß, was mit der Zeit wohl kommen dürfte,« sagte er. Freundlich entließ er mich und überglücklich eilte ich nach Hause.[122]


598.*


1813, Ende bis 1814, Mai.


Mit Arthur Schopenhauer


a.

Dieser Goethe war so ganz Realist, daß es ihm durchaus nicht zu Sinn wollte, daß die Objecte als solche nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Subject vorgestellt werden. »Was!« sagte er mir einst, mit seinen Jupiteraugen mich anblickend, »das Licht sollte nur da sein, insofern Sie es sehen? Nein! Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie nicht sähe.«


b.

Wie er [-Goethe-] übrigens von Schopenhauer dachte, zeigt auch eine in dem, beiden Familien nah befreundeten Frommann'schen Hause zu Jena erhaltene Anekdote, nach welcher Goethe zu den am Theetische über Schopenhauer, der in mürrischer Absonderung am[122] Fenster stand, kichernden Mädchen gesagt haben soll: »Kinderchen, laßt mir den dort in Ruhe! der wächst uns allen noch einmal über den Kopf.«[123]


1562.*


1813, Ende bis 1814, Mai.


Mit Arthur Schopenhauer

Goethe sagte mir einmal, daß, wenn er eine Seite im Kant lese, ihm zumuthe würde, als träte er in ein helles Zimmer.[113]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 9.1, S. 113-114.
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