1827

1069.*


1827, 3. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Heute bei Tische sprachen wir über Cannings treffliche Rede für Portugal.

»Es giebt Leute,« sagte Goethe, »die diese Rede grob nennen; aber diese Leute wissen nicht was sie wollen, es liegt in ihnen eine Sucht, alles Große zu frondiren. Es ist keine Opposition, sondern eine bloße Frondation. Sie müssen etwas Großes haben, das sie hassen können. Als Napoleon noch in der Welt war, haßten sie den, und sie hatten an ihm eine gute Ableitung. Sodann als es mit diesem aus war, frondirten sie die heilige Allianz, und doch ist nie etwas Größeres und für die Menschheit Wohlthätigeres erfunden worden. Jetzt kommt die Reihe an Canning. Seine Rede für Portugal ist das Product eines großen Bewußtseins. Er fühlt sehr gut den Umfang seiner Gewalt und die Größe seiner Stellung, und er hat recht, daß er spricht wie er sich empfindet. Aber das können diese Sansculotten nicht begreifen, und was uns andern groß erscheint, erscheint ihnen grob. Das Große ist ihnen unbequem, sie haben keine Ader, es zu verehren; sie können es nicht dulden.«[1]


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1827, 4. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe lobte sehr die Gedichte von Victor Hugo. »Er ist ein entschiedenes Talent,« sagte er, »auf den die deutsche Literatur Einfluß gehabt. Seine poetische Jugend ist ihm leider durch die Pedanterie der klassischen Partei verkümmert; doch jetzt hat er den ›Globe‹ auf seiner Seite, und so hat er gewonnen Spiel. Ich möchte ihn mit Manzoni vergleichen. Er hat viel Objectives und erscheint mir vollkommen so bedeutend als die Herren de Lamartine und Delavigne. Wenn ich ihn recht betrachte, so sehe ich wohl, wo er und andere frische Talente seinesgleichen herkommen. Von Chateaubriand kommen sie her, der freilich ein sehr bedeutendes rhetorisch-poetisches Talent ist. Damit Sie nun aber sehen, in welcher Art Victor Hugo schreibt, so lesen Sie nur dies Gedicht über Napoleon: ›Les deux îles.‹«

Goethe legte mir das Buch vor und stellte sich an den Ofen. Ich las. »Hat er nicht treffliche Bilder?« sagte Goethe, »und hat er seinen Gegenstand nicht mit sehr freiem Geiste behandelt?« Er trat wieder zu mir. »Sehen Sie nur diese Stelle, wie schön sie ist!« Er las die Stelle von der Wetterwolke, aus der den Helden der Blitz von unten hinauf trifft. »Das ist schön! Denn das Bild ist wahr, welches man in Gebirgen finden wird, wo man oft die Gewitter unter[2] sich hat und wo die Blitze von unten nach oben schlagen.«

»Ich lobe an den Franzosen,« sagte ich, »daß ihre Poesie nie den festen Boden der Realität verläßt. Man kann die Gedichte in Prosa übersetzen und ihr Wesentliches wird bleiben.«

»Das kommt daher,« sagte Goethe: »die französischen Dichter haben Kenntnisse; dagegen denken die deutschen Narren, sie verlören ihr Talent, wenn sie sich um Kenntnisse bemühten, obgleich jedes Talent sich durch Kenntnisse nähren muß und nur dadurch erst zum Gebrauch seiner Kräfte gelangt. Doch wir wollen sie gehen lassen, man hilft ihnen doch nicht, und das wahrhafte Talent findet schon seinen Weg. Die vielen jungen Dichter, die jetzt ihr Wesen treiben, sind gar keine rechten Talente; sie beurkunden weiter nichts als ein Unvermögen, das durch die Höhe der deutschen Literatur zur Productivität angereizt worden.

Daß die Franzosen,« fuhr Goethe fort, »aus der Pedanterie zu einer freiern Art in der Poesie hervorgehen, ist nicht zu verwundern. Diderot und ihm ähnliche Geister haben schon vor der Revolution diese Bahn zu brechen gesucht. Die Revolution selbst sodann sowie die Zeit unter Napoleon sind der Sache günstig gewesen. Denn wenn auch die kriegerischen Jahre kein eigentlich poetisches Interesse aufkommen ließen und also für den Augenblick den Musen zuwider waren, so haben sich doch in dieser Zeit eine[3] Menge freier Geister gebildet, die nun im Frieden zur Besinnung kommen und als bedeutende Talente hervortreten.«

Ich fragte Goethe, ob die Partei der Classiker auch dem trefflichen Béranger entgegen gewesen. »Das Genre, worin Béranger dichtet,« sagte Goethe, »ist ein älteres, herkömmliches, woran man gewöhnt war; doch hat auch er sich in manchen Dingen freier bewegt als seine Vorgänger und ist deshalb von der pedantischen Partei angefeindet worden.«

Das Gespräch lenkte sich auf die Malerei und auf den Schaden der alterthümelnden Schule. »Sie prätendiren kein Kenner zu sein,« sagte Goethe, »und doch will ich Ihnen ein Bild vorlegen, an welchem Ihnen, obgleich es von einem unserer besten jetzt lebenden deutschen Maler gemacht worden, dennoch die bedeutendsten Verstöße gegen die ersten Gesetze der Kunst sogleich in die Augen fallen sollen. Sie werden sehen, das einzelne ist hübsch gemacht, aber es wird Ihnen bei dem Ganzen nicht wohl werden, und Sie werden nicht wissen was Sie daraus machen sollen. Und zwar dieses nicht, weil der Meister des Bildes kein hinreichendes Talent ist, sondern weil sein Geist, der das Talent leiten soll, ebenso verfinstert ist wie die Köpfe der übrigen alterthümelnden Maler, sodaß er die vollkommenen Meister ignorirt und zu den unvollkommenen Vorgängern zurückgeht und diese zum Muster nimmt.

Raphael und seine Zeitgenossen waren aus einer[4] beschränkten Manier zur Natur und Freiheit durchgebrochen. Und statt daß jetzige Künstler Gott danken und diese Avantagen benutzen und auf dem trefflichen Wege fortgehen sollten, kehren sie wieder zur Beschränktheit zurück. Es ist zu arg, und man kann diese Verfinsterung der Köpfe kaum begreifen. Und weil sie nun auf diesem Wege in der Kunst selbst keine Stütze haben, so suchen sie solche in der Religion und Partei; denn ohne beides würden sie in ihrer Schwäche gar nicht bestehen können.

Es geht,« fuhr Goethe fort, »durch die ganze Kunst eine Filiation. Sieht man einen großen Meister, so findet man immer, daß er das Gute seiner Vorgänger benutzte, und daß eben dieses ihn groß machte. Männer wie Raphael wachsen nicht aus dem Boden. Sie fußten auf der Antike und dem Besten, was vor ihnen gemacht worden. Hätten sie die Avantagen ihrer Zeit nicht benutzt, so würde wenig von ihnen zu sagen sein.«

Das Gespräch lenkte sich auf die altdeutsche Poesie; ich erinnerte an Fleming. »Fleming,« sagte Goethe, »ist ein recht hübsches Talent, ein wenig prosaisch, bürgerlich; er kann jetzt nichts mehr helfen. Es ist eigen,« fuhr er fort, »ich habe doch so mancherlei gemacht, und doch ist keins von allen meinen Gedichten, das im lutherischen Gesangbuch stehen könnte.« Ich lachte und gab ihm recht, indem ich mir sagte, daß in dieser wunderlichen Äußerung mehr liege, als es den Anschein habe.[5]


1071.*


1827, 12. Januar.


Abendgesellschaft bei Goethe

Ich [Eckermann] fand eine musikalische Abendunterhaltung bei Goethe, die ihm von der Familie Eberwein nebst einigen Mitgliedern des Orchesters gewährt wurde. Unter den wenigen Zuhörern waren: der Generalsuperintendent Röhr, Hofrath Vogel und einige Damen. Goethe hatte gewünscht, das Quartett eines berühmten jungen Componisten zu hören, welches man zunächst ausführte. Der zwölfjährige Karl Eberwein spielte den Flügel zu Goethes großer Zufriedenheit und in der That trefflich, sodaß denn das Ouartett in jeder Hinsicht gut executirt vorüberging.

»Es ist wunderlich,« sagte Goethe, »wohin die aufs höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neuesten Componisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen. Wie ist es Ihnen? Mir bleibt alles in den Ohren hängen.« Ich sagte, daß es mir in diesem Falle nicht besser gehe. »Doch das Allegro,« fuhr Goethe fort, »hatte Character. Dieses ewige Wirbeln und Drehen führte mir die Hexentänze des Blocksbergs vor Augen, und ich fand also doch eine Anschauung, die ich der wunderlichen Musik supponiren konnte.«

[6] Nach einer Pause, während welcher man sich unterhielt und einige Erfrischungen nahm, ersuchte Goethe Madame Eberwein um den Vortrag einiger Lieder. Sie sang zunächst nach Zelter's Composition das schöne Lied ›Um Mitternacht‹, welches den tiefsten Eindruck machte. »Das Lied bleibt schön,« sagte Goethe, »So oft man es auch hört. Es hat in der Melodie etwas Ewiges, Unverwüstliches.« Hierauf folgten einige Lieder aus der ›Fischerin‹, von Max Eberwein componirt. Der ›Erlkönig‹ erhielt entschiedenen Beifall; sodann die Arie: ›Ich hab's gesagt der guten Mutter‹, erregte die allgemeine Äußerung: diese Composition erscheine so gut getroffen, daß niemand sie sich anders denken könne. Goethe selbst war im hohen Grade befriedigt.

Zum Schluß des schönen Abends sang Madame Eberwein auf Goethes Wunsch einige Lieder des ›Divan‹ nach den bekannten Compositionen ihres Gatten. Die Stelle: ›Jussufs Reize möcht' ich borgen‹, gefiel Goethen ganz besonders. »Eberwein,« sagte er zu mir, »übertrifft sich mitunter selber.« Er bat sodann noch um das Lied: ›Ach um deine feuchten Schwingen‹, welches gleichfalls die tiefsten Empfindungen anzuregen geeignet war.

Nachdem die Gesellschaft gegangen, blieb ich noch einige Augenblicke mit Goethe allein. »Ich habe,« sagte er, »diesen Abend die Bemerkung gemacht, daß diese Lieder des ›Divan‹ gar kein Verhältniß mehr zu mir haben. Sowohl was darin orientalisch als was[7] darin leidenschaftlich ist, hat aufgehört in mir fortzuleben; es ist wie eine abgestreifte Schlangenhaut am Wege liegen geblieben. Dagegen das Lied ›Um Mitternacht‹ hat sein Verhältniß zu mir nicht verloren, es ist von mir noch ein lebendiger Theil und lebt mit mir fort.

Es geht mir übrigens öfter mit meinen Sachen so, daß sie mir gänzlich fremd werden. Ich las dieser Tage etwas Französisches und dachte im Lesen: der Mann spricht gescheidt genug, du würdest es selbst nicht anders sagen. Und als ich es genau besehe, ist es eine übersetzte Stelle aus meinen eigenen Schriften.«[8]


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1827, 15. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Vor mehrern Wochen hörte ich .. von seinem Secretär [John], daß er an einer neuen Novelle arbeite; ich hielt mich daher abends von Besuchen zurück und begnügte mich, ihn bloß alle acht Tage bei Tische zu sehen.

Diese Novelle war nun seit einiger Zeit vollendet, und er legte mir diesen Abend die ersten Bogen zur Ansicht vor.

Ich war beglückt und las bis zu der bedeutenden Stelle, wo alle um den todten Tiger herumstehen und der Wärtel die Nachricht bringt, daß der Löwe oben an der Ruine sich in die Sonne gelegt habe.

[8] Während des Lesens hatte ich die außerordentliche Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenstände bis auf die kleinste Localität vor die Augen gebracht waren. Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine, alles trat entschieden vor die Anschauung, sodaß man genöthigt war, sich das Dargestellte gerade so zu denken wie der Dichter es gewollt hatte. Zu gleich war alles mit einer solchen Sicherheit, Besonnenheit und Herrschaft geschrieben, daß man vom Künftigen nichts vorausahnen und keine Zeile weiter blicken konnte als man las.

»Euer Excellenz,« sagte ich, »müssen nach einem sehr bestimmten Schema gearbeitet haben.«

»Allerdings habe ich das,« antwortete Goethe; »ich wollte das Sujet schon vor dreißig Jahren ausführen, und seit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach ›Hermann und Dorothea‹, wollte ich den Gegenstand in epischer Form und Hexametern behandeln und hatte auch zu diesem Zwecke ein ausführliches Schema entworfen. Als ich nun jetzt das Sujet wieder vornehme, um es zu schreiben, kann ich jenes alte Schema nicht finden und bin also genöthigt, ein neues zu machen und zwar ganz gemäß der veränderten Form, die ich jetzt dem Gegenstande zu geben willens war. Nun aber nach vollendeter Arbeit findet sich jenes ältere Schema wieder, und ich freue mich nun, daß ich[9] es nicht früher in Händen gehabt, denn es würde mich nur verwirrt haben. Die Handlung und der Gang der Entwickelung war zwar unverändert, allein im Detail war es doch ein ganz anderes; es war ganz für eine epische Behandlung in Hexametern gedacht und würde also für diese prosaische Darstellung gar nicht anwendbar gewesen sein.«

Das Gespräch lenkte sich auf den Inhalt. »Eine schöne Situation,« sagte ich, »ist die, wo Honorio der Fürstin gegenüber am todt ausgestreckten Tiger steht, die klagende, weinende Frau mit dem Knaben herzugekommen ist, und auch der Fürst mit dem Jagdgefolge zu der seltsamen Gruppe soeben herbeieilt. Das müßte ein treffliches Bild machen, und ich möchte es gemalt sehen.«

»Gewiß,« sagte Goethe, »das wäre ein schönes Bild; – doch,« fuhr er nach einigem Bedenken fort, »der Gegenstand wäre fast zu reich und der Figuren zu viele, sodaß die Gruppirung und Vertheilung von Licht und Schatten dem Künstler sehr schwer werden würde. Allein den frühern Moment, wo Honorio auf dem Tiger kniet und die Fürstin am Pferde gegenübersteht, habe ich mir wohl als Bild gedacht; und das wäre zu machen.« Ich empfand, daß Goethe recht hatte, und fügte hinzu, daß ja dieser Moment auch eigentlich der Kern der ganzen Situation sei, worauf alles ankomme.

Noch hatte ich an dem Gelesenen zu bemerken, daß[10] diese Novelle von allen übrigen der ›Wanderjahre‹ einen ganz verschiedenen Character trage, indem darin alles Darstellung des Äußern, alles real sei. »Sie haben recht,« sagte Goethe, »Innerliches finden Sie in dem Gelesenen fast gar nicht, und in meinen übrigen Sachen ist davon fast zu viel.«

»Nun bin ich neugierig zu erfahren,« sagte ich, »wie man sich des Löwen bemeistern wird; daß dieses auf eine ganz andere Weise geschehen werde, ahne ich fast, doch das Wie ist mir gänzlich verborgen.« – »Es wäre auch nicht gut, wenn Sie es ahnten,« sagte Goethe, »und ich will es Ihnen heute nicht verrathen. Donnerstag Abend gebe ich Ihnen das Ende; bis dahin liegt der Löwe in der Sonne.«

Ich brachte das Gespräch auf den zweiten Theil des ›Faust‹, insbesondere auf die ›Classische Walpurgisnacht‹, die nur noch in der Skizze dalag, und wovon Goethe mir vor einiger Zeit gesagt hatte, daß er sie als Skizze wolle drucken lassen. Nun hatte ich mir vorgenommen, Goethen zu rathen, dieses nicht zu thun; denn ich fürchtete, sie möchte, einmal gedruckt, für immer unausgeführt bleiben. Goethe mußte in der Zwischenzeit das bedacht haben, denn er kam mir sogleich entgegen, indem er sagte, daß er entschlossen sei, jene Skizze nicht drucken zu lassen. »Das ist mir sehr lieb,« sagte ich, »denn nun habe ich doch die Hoffnung, daß Sie sie ausführen werden.« – »In einem Vierteljahre,« sagte er, »wäre es gethan, allein[11] woher will die Ruhe kommen! Der Tag macht gar zu viele Ansprüche an mich; es hält schwer, mich so sehr abzusondern und zu isoliren. Diesen Morgen war der Erbgroßherzog bei mir, auf morgen Mittag hat sich die Großherzogin melden lassen. Ich habe solche Besuche als eine hohe Gnade zu schätzen, sie verschönern mein Leben; allein sie nehmen doch mein Inneres in Anspruch, ich muß doch bedenken, was ich diesen hohen Personen immer Neues vorlegen und wie ich sie würdig unterhalten will.«

»Und doch,« sagte ich, »haben Sie vorigen Winter die ›Helena‹ vollendet, und Sie waren doch nicht weniger gestört als jetzt.« – »Freilich,« sagte Goethe, »es geht auch, und muß auch gehen, allein es ist schwer.« – »Es ist nur gut,« sagte ich, »daß Sie ein so ausführliches Schema haben.« – »Das Schema ist wohl da,« sagte Goethe, »allein das Schwierigste ist noch zu thun; und bei der Ausführung hängt doch alles gar zu sehr vom Glück ab. Die ›Classische Walpurgisnacht‹ muß in Reimen geschrieben werden, und doch muß alles einen antiken Character tragen. Eine solche Versart zu finden, ist nicht leicht. Und nun den Dialog!« – »Ist denn der nicht im Schema mit erfunden?« sagte ich. – »Wohl das Was,« antwortete Goethe, »aber nicht das Wie. Und dann bedenken Sie nur, was alles in jener tollen Nacht zur Sprache kommt! Fausts Rede an die Proserpina, um diese zu bewegen, daß sie die Helena herausgiebt; was muß[12] das nicht für eine Rede sein, da die Proserpina selbst zu Thränen davon gerührt wird! Dieses alles ist nicht leicht zu machen und hängt sehr viel vom Glück ab, ja fast ganz von der Stimmung und Kraft des Augenblicks.«[13]


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1827, 17. Januar.


Mittag bei Goethe

In der letzten Zeit, wo Goethe sich mitunter nicht ganz wohl befand, hatten wir in seiner nach dem Garten gehenden Arbeitsstube gegessen. Heute war wieder in dem sogenannten Urbino-Zimmer gedeckt, welches ich [Eckermann] als ein gutes Zeichen nahm. Als ich hereintrat, fand ich Goethe und seinen Sohn; beide bewillkommneten mich freundlich in ihrer naiven liebevollen Art; Goethe selbst schien in der heitersten Stimmung, wie dieses an seinem höchst belebten Gesicht zu bemerken war. Durch die offene Thür des angrenzenden sogenannten Deckenzimmers sah ich, über einen großen Kupferstich gebogen, den Herrn Kanzler von Müller; er trat bald zu uns herein, und ich freute mich, ihn als angenehme Tischgesellschaft zu begrüßen. Frau von Goethe wurde noch erwartet, doch setzten wir uns vorläufig zu Tische. Es ward mit Bewunderung von dem Kupferstich gesprochen, und Goethe erzählte mir, es sei ein Werk des berühmten Gérard in[13] Paris, womit dieser ihm in den letzten Tagen ein Geschenk gemacht. »Gehen Sie geschwind hin,« fügte er hinzu, »und nehmen Sie noch ein paar Augen voll, ehe die Suppe kommt.«

Ich that nach seinem Wunsche und meiner Neigung; ich freute mich an dem Anblick des bewundernswürdigen Werks, nicht weniger an der Unterschrift des Malers, wodurch er es Goethen als einen Beweis seiner Achtung zueignet. Ich konnte jedoch nicht lange betrachten, Frau von Goethe trat herein, und ich eilte nach meinem Platz zurück. »Nicht wahr,« sagte Goethe, »das ist etwas Großes? Man kann es tage- und wochenlang studiren, ehe man die reichen Gedanken und Vollkommenheiten alle herausfindet. Dieses,« sagte er, »soll Ihnen auf andere Tage vorbehalten bleiben.«

Wir waren bei Tische sehr heiter. Der Kanzler theilte einen Brief eines bedeutenden Mannes aus Paris [Saint-Aignan] mit, der zur Zeit der französischen Occupation als Gesandter hier einen schweren Posten behauptet und von jener Zeit her mit Weimar ein freundliches Verhältniß fortgesetzt hatte. Er gedachte des Großherzogs und Goethes und pries Weimar glücklich, wo das Genie mit der höchsten Gewalt ein so vertrautes Verhältniß haben könne.

Frau von Goethe brachte in die Unterhaltung große Anmuth. Es war von einigen Anschaffungen die Rede, womit sie den jungen Goethe neckte, und wozu dieser sich nicht verstehen wollte. »Man muß den schönen[14] Frauen nicht gar zu viel angewöhnen,« sagte Goethe, »denn sie gehen leicht ins Grenzenlose. Napoleon erhielt noch auf Elba Rechnungen von Putzmacherinnen, die er bezahlen sollte. Doch mochte er in solchen Dingen leicht zu wenig thun als zu viel. Früher in den Tuilerien wurden einst in seinem Beisein seiner Gemahlin von einem Modehändler kostbare Sachen präsentirt. Als Napoleon aber keine Miene machte, etwas zu kaufen, gab ihm der Mann zu verstehen, daß er doch wenig in dieser Hinsicht für seine Gemahlin thue. Hierauf sagte Napoleon kein Wort, aber er sah ihn mit einem solchen Blick an, daß der Mann seine Sachen sogleich zusammenpackte und sich nie wieder sehen ließ.« – »That er dieses als Consul?« fragte Frau von Goethe. – »Wahrscheinlich als Kaiser,« antwortete Goethe, »denn sonst wäre sein Blick wohl nicht so furchtbar gewesen. Aber ich muß über den Mann lachen, dem der Blick in die Glieder fuhr und der sich wahrscheinlich schon geköpft oder erschossen sah.«

Wir waren in der heitersten Laune und sprachen über Napoleon weiter fort. »Ich möchte,« sagte der junge Goethe, »alle seine Thaten in trefflichen Gemälden oder Kupferstichen besitzen und damit ein großes Zimmer dekoriren.« – »Das müßte sehr groß sein,« erwiederte Goethe, »und doch würden die Bilder nicht hineingehen, so groß sind seine Thaten.«

Der Kanzler brachte Ludens ›Geschichte der Deutschen‹ ins Gespräch, und ich hatte zu bewundern, mit welcher[15] Gewandtheit und Eindringlichkeit der junge Goethe dasjenige, was öffentliche Blätter an dem Buche zu tadeln gefunden, aus der Zeit, in der es geschrieben, und den nationalen Empfindungen und Rücksichten, die dabei in dem Verfasser gelebt, herzuleiten wußte. Es ergab sich, daß Napoleons Kriege erst jene des Cäsar ausgeschlossen. »Früher,« sagte Goethe, »war Cäsar's Buch freilich nicht viel mehr als ein bloßes Exercitium gelehrter Schulen.«

Von der altdeutschen Zeit kam das Gespräch auf die gothische. Es war von einem Bücherschrank die Rede, der einen gothischen Character habe; sodann kam man auf den neuesten Geschmack, ganze Zimmer in altdeutscher und gothischer Art einzurichten und in einer solchen Umgebung einer veralteten Zeit zu wohnen.

»In einem Hause,« sagte Goethe, »wo so viele Zimmer sind, daß man einige derselben leer stehen läßt und im ganzen Jahre vielleicht nur drei-, viermal hineinkommt, mag eine solche Liebhaberei hingehen und man mag auch ein gothisches Zimmer haben, sowie ich es ganz hübsch finde, daß Madame Panckoucke in Paris ein chinesisches hat, allein sein Wohnzimmer mit so fremder und veralteter Umgebung auszustaffiren, kann ich gar nicht loben. Es ist immer eine Art von Maskerade, die auf die Länge in keiner Hinsicht wohlthun kann, vielmehr auf den Menschen, der sich damit befaßt, einen nachtheiligen Einfluß haben muß; denn so[16] etwas steht im Widerspruch mit dem lebendigen Tage, in welchen wir gesetzt sind, und wie es aus einer leeren und hohlen Gesinnungs- und Denkungsweise hervorgeht, so wird es darin bestärken. Es mag wohl einer an einem lustigen Winterabend als Türke zur Maskerade gehen, allein was würden wir von einem Menschen halten, der ein ganzes Jahr sich in einer solchen Maske zeigen wollte? Wir würden von ihm denken, daß er entweder schon verrückt sei, oder daß er doch die größte Anlage habe, es sehr bald zu werden.«

Wir fanden Goethes Worte über einen so sehr ins Leben eingreifenden Gegenstand durchaus überzeugend, und da keiner der Anwesenden etwas davon als leisen Vorwurf auf sich selbst beziehen konnte, so fühlten wir ihre Wahrheit in der heitersten Stimmung.

Das Gespräch lenkte sich auf das Theater, und Goethe neckte mich, daß ich am letzten Montag Abend es ihm geopfert. »Er ist nun drei Jahre hier,« sagte er, zu den übrigen gewendet, »und dies ist der erste Abend, wo er mir zuliebe im Theater gefehlt hat; ich muß ihm das hoch anrechnen. Ich hatte ihn eingeladen, und er hatte versprochen zu kommen, aber doch zweifelte ich, daß er Wort halten würde, besonders als es halb sieben schlug und er noch nicht da war. Ja ich hätte mich sogar gefreut, wenn er nicht gekommen wäre; ich hätte doch sagen können: Da ist ein ganz verrückter Mensch, dem das Theater über seine liebsten[17] Freunde geht und der sich durch nichts von seiner hartnäckigen Neigung abwenden läßt. Aber ich habe Sie auch entschädigt! Nicht wahr? Habe ich Ihnen nicht schöne Sachen vorgelegt?« Goethe zielte mit diesen Worten auf die neue Novelle.

Wir sprachen sodann über Schiller's ›Fiesco‹, der am letzten Sonnabend war gegeben worden. »Ich habe das Stück zum ersten Male gesehen,« sagte ich, »und es hat mich nun sehr beschäftigt, ob man nicht die ganz rohen Scenen mildern könnte; allein ich finde, daß sich wenig daran thun läßt, ohne den Character des Ganzen zu verletzen.«

»Sie haben ganz recht, es geht nicht,« erwiederte Goethe, »Schiller hat sehr oft mit mir darüber gesprochen, denn er selbst konnte seine ersten Stücke nicht leiden, und er ließ sie, während wir am Theater waren, nie spielen. Nun fehlte es uns aber an Stücken, und wir hätten gern jene drei gewaltsamen Erstlinge dem Repertoire gewonnen. Es wollte aber nicht gehen, es war alles zu sehr miteinander verwachsen, sodaß Schiller selbst an dem Unternehmen verzweifelte und sich genöthigt sah, seinen Vorsatz aufzugeben und die Stücke zu lassen wie sie waren.«

»Es ist schade darum,« sagte ich; »denn trotz aller Roheiten sind sie mir doch tausendmal lieber als die schwachen, weichen, forcirten und unnatürlichen Stücke einiger unserer neuesten Tragiker. Bei Schiller spricht doch immer ein grandioser Geist und Character.«

[18] »Das wollte ich meinen,« sagte Goethe. »Schiller mochte sich stellen wie er wollte, er konnte gar nichts machen, was nicht immer bei weitem größer herauskam als das Beste dieser Neuern; ja wenn Schiller sich die Nägel beschnitt, war er größer als diese Herren.«

Wir lachten und freuten uns des gewaltigen Gleichnisses.

»Aber ich habe doch Personen gekannt,« fuhr Goethe fort, »die sich über die ersten Stücke Schiller's gar nicht zufrieden geben konnten. Eines Sommers in einem Bade ging ich durch einen eingeschlossenen sehr schmalen Weg, der zu einer Mühle führte. Es begegnete mir der Fürst *** [Putiatin], und da in demselben Augenblicke einige mit Mehlsäcken beladene Maulthiere auf uns zukamen, so mußten wir ausweichen und in ein kleines Haus treten. Hier, in einem engen Stübchen, geriethen wir nach Art dieses Fürsten sogleich in tiefe Gespräche über göttliche und menschliche Dinge; wir kamen auch auf Schiller's ›Räuber‹, und der Fürst äußerte sich folgendermaßen: ›Wäre ich Gott gewesen‹, sagte er, ›im Begriff die Welt zu erschaffen, und ich hätte in dem Augenblick vorausgesehen, daß Schiller's ›Räuber‹ darin würden geschrieben werden, ich hätte die Welt nicht erschaffen.‹« Wir mußten lachen. »Was sagen Sie dazu?« sagte Goethe; »das war doch eine Abneigung, die ein wenig weit ging und die man sich kaum erklären konnte.«

»Von dieser Abneigung,« versetzte ich, »haben dagegen[19] unsere jungen Leute, besonders unsere Studenten, gar nichts. Die trefflichsten, reifsten Stücke von Schiller und andern können gegeben werden, und man sieht von jungen Leuten und Studirenden wenige oder gar keine im Theater; aber man gebe Schiller's ›Räuber‹ oder Schiller's ›Fiesco‹, und das Haus ist fast allein von Studenten gefüllt.« – »Das war,« versetzte Goethe, »vor funfzig Jahren wie jetzt und wird wahrscheinlich nach funfzig Jahren nicht anders sein. Was ein junger Mensch geschrieben hat, wird auch wieder am besten von jungen Leuten genossen werden. Und dann denke man nicht, daß die Welt so sehr in der Cultur und gutem Geschmack vorschritte, daß selbst die Jugend schon über eine solche rohere Epoche hinaus wäre! Wenn auch die Welt im ganzen vorschreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorn anfangen und als Individuum die Epochen der Weltcultur durchmachen. Mich irritirt das nicht mehr, und ich habe längst einen Vers darauf gemacht, der so lautet:


Johannisfeuer sei unverwehrt,

Die Freude nie verloren!

Besen werden immer stumpf gekehrt

Und Jungens immer geboren.


Ich brauche nur zum Fenster hinauszusehen, um in straßenkehrenden Besen und herumlaufenden Kindern die Symbole der sich ewig abnutzenden und immer sich verjüngenden Welt beständig vor Augen zu haben. Kinderspiele und Jugendvergnügungen erhalten sich daher[20] und pflanzen sich von Jahrhundert zu Jahrhundert fort; denn so absurd sie auch einem reifern Alter erscheinen mögen, Kinder bleiben doch immer Kinder und sind sich zu allen Zeiten ähnlich. Deshalb soll man auch die Johannisfeuer nicht verbieten und den lieben Kindern die Freude daran nicht verderben.«

Unter solchen und ähnlichen heitern Unterhaltungen gingen die Stunden des Tisches schnell vorüber. Wir jüngern Leute gingen sodann hinauf in die obern Zimmer, während der Kanzler bei Goethe blieb.[21]


1074.*


1827, 18. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Auf diesen Abend hatte Goethe mir den Schluß der Novelle versprochen. Ich ging halb sieben Uhr zu ihm und fand ihn in seiner traulichen Arbeitsstube allein. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch, und nachdem wir die nächsten Tagesereignisse besprochen hatten, stand Goethe auf und gab mir die erwünschten letzten Bogen. »Da lesen Sie den Schluß,« sagte er. Ich begann. Goethe ging derweile im Zimmer auf und ab und stand abwechselnd am Ofen. Ich las wie gewöhnlich leise für mich.

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Nicht ohne Rührung hatte ich die Handlung des Schlusses lesen können. Doch wußte ich nicht, was ich[21] sagen sollte, ich war überrascht, aber nicht befriedigt. Es war mir als wäre der Ausgang zu einsam, zu ideal, zu lyrisch, und als hätten wenigstens einige der übrigen Figuren wieder hervortreten und, das Ganze abschließend, dem Ende mehr Breite geben sollen.

Goethe merkte, daß ich einen Zweifel im Herzen hatte, und suchte mich ins Gleiche zu bringen. »Hätte ich,« sagte er, »einige der übrigen Figuren am Ende wieder hervortreten lassen, so wäre der Schluß prosaisch geworden. Und was sollten sie handeln und sagen, da alles abgethan war? Der Fürst mit den Seinigen ist in die Stadt geritten, wo seine Hilfe nöthig sein wird; Honorio, sobald er hört, daß der Löwe oben in Sicherheit ist, wird mit seinen Jägern folgen; der Mann aber wird sehr bald mit dem eisernen Käfig aus der Stadt da sein und den Löwen darin zurückführen. Dieses sind alles Dinge, die man voraussieht und die deshalb nicht gesagt und ausgeführt werden müssen. Thäte man es, so würde man prosaisch werden.

Aber ein ideeller, ja lyrischer Schluß war nöthig und mußte folgen; denn nach der pathetischen Rede des Mannes, die schon poetische Prosa ist, mußte eine Steigerung kommen, ich mußte zur lyrischen Poesie, ja zum Liede selbst übergehen.

Um für den Gang dieser Novelle ein Gleichniß zu haben,« fuhr Goethe fort, »so denken Sie sich aus der Wurzel hervorschießend ein grünes Gewächs, das eine Weile aus einem starken Stengel kräftige grüne[22] Blätter nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume endet. Die Blume war unerwartet, überraschend, aber sie mußte kommen; ja das grüne Blätterwerk war nur für sie da und wäre ohne sie nicht der Mühe werth gewesen.«

Bei diesen Worten athmete ich leicht auf, es fiel mir wie Schuppen vom Auge, und eine Ahnung von der Trefflichkeit dieser wunderbaren Composition fing an sich in mir zu regen.

Goethe fuhr fort: »Zu zeigen, wie das Unbändige, Unüberwindliche oft besser durch Liebe und Frömmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe dieser Novelle, und dieses schöne Ziel, welches sich im Kinde und Löwen darstellt, reizte mich zur Ausführung. Dies ist das Ideelle, dies die Blume. Und das grüne Blätterwerk der durchaus realen Exposition ist nur dieserwegen da und nur dieserwegen etwas werth. Denn was soll das Reale an sich? Wir haben Freude daran, wenn es mit Wahrheit dargestellt ist, ja es kann uns auch von gewissen Dingen eine deutlichere Erkenntniß geben; aber der eigentliche Gewinn für unsere höhere Natur liegt doch allein im Idealen, das aus dem Herzen des Dichters hervorging.«

Wie sehr Goethe recht hatte, empfand ich lebhaft, da der Schluß seiner Novelle noch in mir fortwirkte und eine Stimmung von Frömmigkeit in mir hervorgebracht hatte, wie ich sie lange nicht in dem Grade[23] empfunden. Wie rein und innig, dachte ich bei mir selbst, müssen doch in einem so hohen Alter noch die Gefühle des Dichters sein, daß er etwas so Schönes hat machen können! Ich enthielt mich nicht, mich darüber gegen Goethe auszusprechen, sowie überhaupt mich zu freuen, daß diese in ihrer Art einzige Production doch nun existire.

»Es ist mir lieb,« sagte Goethe, »wenn Sie zufrieden sind, und ich freue mich nun selbst, daß ich einen Gegenstand, den ich seit dreißig Jahren in mir herumgetragen, nun endlich los bin. Schiller und Humboldt, denen ich damals mein Vorhaben mittheilte, riethen mir ab, weil sie nicht wissen konnten, was in der Sache lag, und weil nur der Dichter allein weiß, welche Reize er seinem Gegenstande zu geben fähig ist. Man soll daher nie jemand fragen, wenn man etwas schreiben will. Hätte Schiller mich vor seinem ›Wallenstein‹ gefragt, ob er ihn schreiben solle, ich hätte ihm sicherlich abgerathen; denn ich hätte nie denken können, daß aus solchem Gegenstande überall ein so treffliches Theaterstück wäre zu machen gewesen. Schiller war gegen eine Behandlung meines Gegenstandes in Hexametern, wie ich es damals gleich nach ›Hermann und Dorothea‹ willens war; er rieth zu den achtzeiligen Stanzen. Sie sehen aber wohl, daß ich mit der Prosa letzt am besten gefahren bin. Denn es kam sehr auf genaue Zeichnung der Localität an, wobei man doch in solchen Reimen wäre genirt gewesen. Und dann[24] ließ sich auch der anfänglich ganz reale und am Schluß ganz ideelle Character der Novelle in Prosa am besten geben, sowie sich auch die Liederchen jetzt gar hübsch ausnehmen, welches doch so wenig in Hexametern als in den achtzeiligen Reimen möglich gewesen wäre.«

Die übrigen einzelnen Erzählungen und Novellen der ›Wanderjahre‹ kamen zur Sprache, und es ward bemerkt, daß jede sich von der andern durch einen besondern Character und Ton unterscheide.

»Woher dieses entstanden,« sagte Goethe, »will ich Ihnen erklären. Ich ging dabei zu Werke wie ein Maler, der bei gewissen Gegenständen gewisse Farben vermeidet und gewisse andere dagegen vorwalten läßt. Er wird z.B. bei einer Morgenlandschaft viel Blau auf seine Palette setzen, aber wenig Gelb. Malt er dagegen einen Abend, so wird er viel Gelb nehmen und die blaue Farbe fast ganz fehlen lassen. Auf eine ähnliche Weise verfuhr ich bei meinen verschiedenartigen schriftstellerischen Productionen, und wenn man ihnen einen verschiedenen Character zugesteht, so mag es daher rühren.«

Ich dachte bei mir, daß dies eine höchst kluge Maxime sei, und freute mich, daß Goethe sie ausgesprochen.

Sodann hatte ich, vorzüglich bei dieser letzten Novelle, noch das Detail zu bewundern, womit besonders das Landschaftliche dargestellt war.

»Ich habe,« sagte Goethe, »niemals die Natur[25] poetischer Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein früheres Landschaftszeichnen und dann mein späteres Naturforschen mich zu einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Natur bis in ihre kleinsten Details nach und nach auswendig gelernt, dergestalt, daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle. In Schillern lag dieses Naturbetrachten nicht. Was in seinem ›Tell‹ von schweizer Localität ist, habe ich ihm alles erzählt; aber er war ein so bewundernswürdiger Geist, daß er selbst nach solchen Erzählungen etwas machen konnte, das Realität hatte.«

Das Gespräch lenkte sich nun ganz auf Schiller, und Goethe fuhr folgendermaßen fort:

»Schiller's eigentliche Productivität lag im Idealen, und es läßt sich sagen, daß er so wenig in der deutschen als einer andern Literatur seinesgleichen hat. Von Lord Byron hat er noch das meiste; doch dieser ist ihm an Welt überlegen. Ich hätte gern gesehen, daß Schiller den Lord Byron erlebt hätte, und da hätt' es mich wundern sollen, was er zu einem so verwandten Geiste würde gesagt haben. Ob wohl Byron bei Schiller's Leben schon etwas publicirt hat?«

Ich zweifelte, konnte es aber nicht mit Gewißheit sagen. Goethe nahm daher das ›Conversations-Lexicon‹ und las den Artikel über Byron vor, wobei er nicht fehlen ließ, manche flüchtige Bemerkung einzuschalten.[26]

Es fand sich, daß Lord Byron vor 1807 nichts hatte drucken lassen, und daß also Schiller nichts von ihm gesehen.

»Durch alle Werke Schiller's,« fuhr Goethe fort, »geht die Idee von Freiheit, und diese Idee nahm eine andere Gestalt an, sowie Schiller in seiner Cultur weiter ging und selbst ein anderer wurde. In seiner Jugend war es die physische Freiheit, die ihm zu schaffen machte und die in seine Dichtungen überging, in seinem spätern Leben die ideelle.

Es ist mit der Freiheit ein wunderlich Ding, und jeder hat leicht genug, wenn er sich nur zu begnügen und zu finden weiß. Und was hilft uns ein Überfluß von Freiheit, die wir nicht gebrauchen können! Sehen Sie dieses Zimmer und diese angrenzende Kammer, in der Sie durch die offene Thür mein Bette sehen, beide sind nicht groß, sie sind ohnedies durch vielerlei Bedarf, Bücher, Manuscripte und Kunstsachen eingeengt, aber sie sind mir genug, ich habe den ganzen Winter darin gewohnt und meine vordern Zimmer fast nicht betreten. Was habe ich nun von meinem geräumigen Hause gehabt und von der Freiheit, von einem Zimmer ins andere zu gehen, da ich nicht das Bedürfniß hatte, sie zu benutzen!

Hat einer nur so viel Freiheit, um gesund zu leben und sein Gewerbe zu treiben, so hat er genug, und so viel hat leicht ein jeder. Und dann sind wir alle nur frei unter gewissen Bedingungen, die wir erfüllen[27] müssen. Der Bürger ist so frei wie der Adelige, sobald er sich in den Grenzen hält, die ihm von Gott durch seinen Stand, worin er geboren, angewiesen. Der Adelige ist so frei wie der Fürst; denn wenn er bei Hofe nur das wenige Ceremoniell beobachtet, so darf er sich als seinesgleichen fühlen. Nicht das macht frei, daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben, daß wir etwas verehren, das über uns ist; denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, daß wir selber das Höhere in uns tragen und werth sind, seinesgleichen zu sein. Ich bin bei meinen Reisen oft auf norddeutsche Kaufleute gestoßen, welche glaubten meinesgleichen zu sein, wenn sie sich roh zu mir an den Tisch setzten. Dadurch waren sie es nicht; allein sie wären es gewesen, wenn sie mich hätten zu schätzen und zu behandeln gewußt.

Daß nun diese physische Freiheit Schillern in seiner Jugend so viel zu schaffen machte, lag zwar theils in der Natur seines Geistes, größerntheils aber schrieb es sich von dem Drucke her, den er in der Militärschule hatte leiden müssen.

Dann aber in seinem reifern Leben, wo er der physischen Freiheit genug hatte, ging er zur ideellen über, und ich möchte fast sagen, daß diese Idee ihn getödtet hat; denn er machte dadurch Anforderungen an seine physische Natur, die für seine Kräfte zu gewaltsam waren.

[28] Der Großherzog bestimmte Schillern bei seiner Hierherkunft einen Gehalt von jährlich tausend Thalern und erbot sich, ihm das Doppelte zu geben, im Fall er durch Krankheit verhindert sein sollte zu arbeiten. Schiller lehnte dieses letzte Anerbieten ab und machte nie davon Gebrauch. ›Ich habe das Talent‹, sagte er, ›und muß mir selber helfen können.‹ Nun aber, bei seiner vergrößerten Familie in den letzten Jahren, mußte er der Existenz wegen jährlich zwei Stücke schreiben, und um dieses zu vollbringen, trieb er sich, auch an solchen Tagen und Wochen zu arbeiten, in denen er nicht wohl war; sein Talent sollte ihm zu jeder Stunde gehorchen und zu Gebote stehen.

Schiller hat nie viel getrunken, er war sehr mäßig; aber in solchen Augenblicken körperlicher Schwäche suchte er seine Kräfte durch etwas Liqueur oder ähnliches Spirituoses zu steigern. Dies aber zehrte an seiner Gesundheit und war auch den Productionen selbst schädlich; denn was gescheite Köpfe an seinen Sachen aussetzen, leite ich aus dieser Quelle her. Alle solche Stellen, von denen sie sagen, daß sie nicht just sind, möchte ich pathologische Stellen nennen, indem er sie nämlich an solchen Tagen geschrieben hat, wo es ihm an Kräften fehlte, um die rechten und wahren Motive zu finden. Ich habe vor dem kategorischen Imperativ allen Respect, ich weiß wie viel Gutes aus ihm hervorgehen kann, allein man muß es damit nicht zu[29] weit treiben, denn sonst führt diese Idee der ideellen Freiheit sicher zu nichts Gutem.«

Unter diesen interessanten Äußerungen und ähnlichen Gesprächen über Lord Byron und berühmte deutsche Literatoren, von denen Schiller gesagt, daß Kotzebue ihm lieber, weil er doch etwas hervorbringe, waren die Abendstunden schnell vorübergegangen, und Goethe gab mir die Novelle mit, um sie für mich zu Hause nochmals in der Stille zu betrachten.[30]


1075.*


1827, 21. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Ich ging diesen Abend halb acht zu Goethe und blieb ein Stündchen bei ihm. Er zeigte mir einen Band neuer französischer Gedichte der Demoiselle Gay und sprach darüber mit großem Lobe. »Die Franzosen,« sagte er, »machen sich heraus, und es ist der Mühe werth, daß man sich nach ihnen umsieht. Ich bin mit Fleiß darüber her, mir von dem Stande der neuesten französischen Literatur einen Begriff zu machen und, wenn es glückt, mich auch darüber auszusprechen. Es ist mir höchst interessant zu sehen, daß diejenigen Elemente bei ihnen erst anfangen zu wirken, die bei uns längst durchgegangen sind. Das mittlere Talent ist freilich immer in der Zeit befangen und muß sich aus denjenigen Elementen nähren, die in ihr liegen. Es[30] ist bei ihnen bis auf die neueste Frömmigkeit alles dasselbige wie bei uns, nur daß es bei ihnen ein wenig galanter und geistreicher zum Vorschein kommt.«

»Was sagen aber Euer Excellenz zu Béranger und dem Verfasser der Stücke der Clara Gazul? [Mérimée]«

»Diese nehme ich aus,« sagte Goethe, »das sind große Talente, die ein Fundament in sich selber haben und sich von der Gesinnungsweise des Tages frei erhalten.« – »Dieses zu hören ist mir sehr lieb,« sagte ich, »denn ich hatte über diese beiden ungefähr dieselbige Empfindung.«

Das Gespräch wendete sich von der französischen Literatur auf die deutsche. »Da will ich Ihnen doch etwas zeigen,« sagte Goethe, »das für Sie Interesse haben wird. Reichen Sie mir doch einen der Bände, die vor Ihnen liegen. Solger ist Ihnen bekannt?« – »Allerdings,« sagte ich, »ich habe ihn sogar lieb. Ich besitze seine Übersetzung des Sophokles, und sowohl diese als die Vorrede dazu gaben mir längst von ihm eine hohe Meinung.« – »Sie wissen, er ist vor mehrern Jahren gestorben,« sagte Goethe, »und man hat jetzt eine Sammlung seiner nachgelassenen Schriften und Briefe herausgegeben. In seinen philosophischen Untersuchungen, die er in der Form der platonischen Dialoge giebt, ist er nicht so glücklich, aber seine Briefe sind vortrefflich. In einem derselben schreibt er an Tieck über die ›Wahlverwandtschaften‹, und diesen muß[31] ich Ihnen vorlesen, denn es ist nicht leicht etwas Besseres über jenen Roman gesagt worden.«

Goethe las mir die treffliche Abhandlung vor, und wir besprachen sie punktweise, indem wir die von einem großen Character zeugenden Ansichten und die Consequenz seiner Ableitungen und Folgerungen bewunderten. Obgleich Solger zugestand, daß das Factum in den ›Wahlverwandtschaften‹ aus der Natur aller Charactere hervorgehe, so tadelte er doch den Character des Eduard.

»Ich kann ihm nicht verdenken,« sagte Goethe, »daß er den Eduard nicht leiden mag, ich mag ihn selber nicht leiden, aber ich mußte ihn so machen, um das Factum hervorzubringen. Er hat übrigens viele Wahrheit; denn man findet in den höhern Ständen Leute genug, bei denen ganz wie bei ihm der Eigensinn an die Stelle des Characters tritt.«

Hoch vor allen stellte Solger den Architekten; denn wenn alle übrigen Personen des Romans sich liebend und schwach zeigten, so sei er der einzige, der sich stark und frei erhalte. Und eben das Schöne an seiner Natur sei nicht sowohl dieses, daß er in die Verirrungen der übrigen Charactere nicht hineingerathe, sondern daß der Dichter ihn so groß gemacht, daß er nicht hineingerathen könne.

Wir freuten uns über dieses Wort. »Das ist freilich sehr schön,« sagte Goethe. – »Ich habe,« sagte ich, »den Character des Architekten auch immer sehr[32] bedeutend und liebenswürdig gefunden, allein daß er eben deswegen so vortrefflich sei, daß er vermöge seiner Natur in jene Verwickelungen der Liebe nicht hineingerathen könne, daran habe ich freilich nicht gedacht.« -»Wundern Sie sich darum nicht,« sagte Goethe; »denn ich habe selber nicht daran gedacht, als ich ihn machte. Aber Solger hat recht, es liegt allerdings in ihm.

Dieser Aufsatz,« fuhr Goethe fort, »ist schon im Jahre 1809 geschrieben, und es hätte mich damals freuen können, ein so gutes Wort über die ›Wahlverwandtschaften‹ zu hören, während man in jener Zeit und später mir eben nicht viel Angenehmes über jenen Roman erzeigte.

Solger hat, wie ich aus diesen Briefen sehe, viel Liebe zu mir gehabt; er beklagt sich in einem derselben, daß ich ihm auf den ›Sophokles‹, den er mir zugesendet, nicht einmal geantwortet. Lieber Gott – aber wie das bei mir geht! Es ist nicht zu verwundern. Ich habe große Herren gekannt, denen man viel zusendete. Diese machten sich gewisse Formulare und Redensarten, womit sie jedes erwiederten, und so schrieben sie Briefe zu Hunderten, die sich alle gleich und alle Phrase waren. In mir aber lag dieses nie. Wenn ich nicht jemand etwas Besonderes und Gehöriges sagen konnte, wie es in der jedesmaligen Sache lag, so schrieb ich lieber gar nicht. Oberflächliche Redensarten hielt ich für unwürdig, und so ist es denn gekommen,[33] daß ich manchem wackern Manne, dem ich gern geschrieben hätte, nicht antworten konnte. Sie sehen ja selbst, wie das bei mir geht und welche Zusendungen von allen Ecken und Enden täglich bei mir einlaufen, und müssen gestehen, daß dazu mehr als ein Menschenleben gehören würde, wenn man alles nur flüchtig erwiedern wollte. Aber um Solger thut es mir leid; er ist gar zu vortrefflich und hätte vor vielen andern etwas Freundliches verdient.«

Ich brachte das Gespräch auf die Novelle, die ich nun zu Hause wiederholt gelesen und betrachtet hatte. »Der ganze Anfang,« sagte ich, »ist nichts als Exposition, aber es ist darin nichts vorgeführt als da Nothwendige, und das Nothwendige mit Anmuth, sodaß man nicht glaubt, es sei eines Andern wegen da, sondern es wolle bloß für sich selber sein und für sich selber gelten.«

»Es ist mir lieb,« sagte Goethe, »wenn Sie dieses so finden. Doch eins muß ich noch thun. Nach den Gesetzen einer guten Exposition nämlich muß ich die Besitzer der Thiere schon vorn austreten lassen. Wenn die Fürstin und der Oheim an der Bude vorbeireiten, müssen die Leute heraustreten und die Fürstin bitten, auch ihre Bude mit einem Besuch zu beglücken.« – »Gewiß,« sagte ich, »Sie haben recht; denn da alles übrige in der Exposition angedeutet ist, so müssen es auch diese Leute werden, und es liegt ganz in der Sache, da sie sich gewöhnlich an der Casse aufhalten,[34] daß die Fürstin nicht so unangefochten werden vorbeireiten lassen.« – »Sie sehen,« sagte Goethe, »daß man an einer solchen Arbeit, wenn sie auch schon im ganzen fertig daliegt, im einzelnen noch immer zu thun hat.«

Goethe erzählte mir sodann von einem Ausländer, der in dieser Zeit ihn hin und wieder besucht und davon gesprochen, wie er dieses und jenes von seinen Werken übersetzen wolle. »Er ist ein guter Mensch,« sagte Goethe, »doch in literarischer Hinsicht bezeigt er sich als ein wahrer Dilettant; denn er kann noch kein Deutsch und spricht schon von Übersetzungen, die er machen, und von Portraits, die er machen will vordrucken lassen. Das ist aber eben das Wesen der Dilettanten, daß sie die Schwierigkeiten nicht kennen, die in einer Sache liegen, und daß sie immer etwas unternehmen wollen, wozu sie keine Kräfte haben.«.[35]


1076.*


1827, 29. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

und Friedrich Soret

Begleitet von dem Manuscript der Novelle und einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen sieben Uhr zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bei ihm in Gesprächen über die neue französische Literatur. Ich hörte mit Interesse zu, und es kam zur Sprache, daß die neuesten Talente hinsichtlich guter Verse sehr viel von[35] Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen Genfer, das Deutsche nicht ganz geläufig war, Goethe aber im Französischen sich ziemlich bequem ausdrückt, so ging die Unterhaltung französisch und nur an solchen Stellen deutsch, wo ich mich in das Gespräch mischte. Ich zog den Béranger aus der Tasche und überreichte ihn Goethe, der diese trefflichen Lieder von neuem zu lesen wünschte. Das den Gedichten vorstehende Portrait fand Herr Soret nicht ähnlich. Goethe freute sich, die zierliche Ausgabe in Händen zu halten. »Diese Lieder,« sagte er, »sind vollkommen und als das Beste in ihrer Art anzusehen, besonders wenn man sich das Gejodel des Refrains hinzudenkt, denn sonst sind sie als Lieder fast zu ernst, zu geistreich, zu epigrammatisch. Ich werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis erinnert, die beide auch über ihrer Zeit standen und die Sittenverderbniß spottend und spielend zur Sprache brachten. Béranger hat zu seiner Umgebung dieselbige Stellung. Weil er aber aus niederm Stande heraufgekommen, so ist ihm das Liederliche und Gemeine nicht allzu verhaßt, und er behandelt es noch mit einer gewissen Neigung.«

Viel Ähnliches ward noch über Béranger und andere neuere Franzosen hin- und hergesprochen, bis Herr Soret an den Hof ging und ich mit Goethe allein blieb.

Ein versiegeltes Paket lag auf dem Tische. Goethe legte seine Hand darauf. »Was ist das?« sagte er. »Es ist die ›Helena‹, die an Cotta zum Druck abgeht.«[36] Ich empfand bei diesen Worten mehr als ich sagen konnte, ich fühlte die Bedeutung des Augenblicks; denn wie bei einem neuerbauten Schiff, das zuerst in die See geht und wovon man nicht weiß, welche Schicksale es erleben wird, so ist es auch mit dem Gedankenwerk eines großen Meisters, das zuerst in die Welt hinaustritt, um für viele Zeiten zu wirken und mannigfaltige Schicksale zu erzeugen und zu erleben.

»Ich habe,« sagte Goethe, »bis jetzt immer noch Kleinigkeiten daran zu thun und nachzuhelfen gesunden. Endlich aber muß es genug sein, und ich bin nun froh, daß es zur Post geht und ich mich mit befreiter Seele zu etwas anderm wenden kann. Es mag nun seine Schicksale erleben! Was mich tröstet, ist, daß die Cultur in Deutschland doch jetzt unglaublich hoch steht und man also nicht zu fürchten hat, daß eine solche Production lange unverstanden und ohne Wirkung bleiben werde.«

»Es steckt ein ganzes Alterthum darin,« sagte ich. – »Ja,« sagte Goethe, »die Philologen werden daran zu thun finden.« – »Für den antiken Theil,« sagte ich, »fürchte ich nicht; denn es ist da das große Detail, die gründlichste Entfaltung des Einzelnen, wo jedes geradezu das sagt, was es sagen soll. Allein der moderne, romantische Theil ist sehr schwer; denn eine halbe Weltgeschichte steckt dahinter; die Behandlung ist bei so großem Stoff nur andeutend und macht sehr große Ansprüche an den Leser.« – »Aber doch,« sagte[37] Goethe, »ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der ›Zauberflöte‹ und andern Dingen der Fall ist.«

»Es wird,« sagte ich, »auf der Bühne einen ungewohnten Eindruck machen, daß ein Stück als Tragödie anfängt und als Oper endigt. Doch es gehört etwas dazu, die Großheit dieser Personen darzustellen und die erhabenen Reden und Verse zu sprechen.« – »Der erste Theil,« sagte Goethe, »erfordert die ersten Künstler der Tragödie, sowie nachher im Theile der Oper die Rollen mit den ersten Sängern und Sängerinnen besetzt werden müssen. Die Rolle der Helena kann nicht von einer, sondern sie muß von zwei großen Künstlerinnen gespielt werden; denn es ist ein seltener Fall, daß eine Sängerin zugleich als tragische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung ist.«

»Das Ganze,« sagte ich, »wird zu großer Pracht und Mannigfaltigkeit in Decorationen und Garderobe Anlaß geben, und ich kann nicht leugnen, ich freue mich darauf, es auf der Bühne zu sehen. Wenn nur ein recht großer Componist sich daran machte!« – »Es müßte einer sein,« sagte Goethe, »der wie Meyerbeer lange in Italien gelebt hat, sodaß er seine deutsche Natur mit der italienischen Art und Weise verbände.[38] Doch das wird sich schon finden, und ich habe keinen Zweifel; ich freue mich nur, daß ich es los bin. Auf den Gedanken, daß der Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will, sondern auf der heitern Oberfläche der Erde sich den Elementen zuwirft, thue ich mir wirklich etwas zu gute.« – »Es ist eine neue Art von Unsterblichkeit,« sagte ich.

»Nun,« fuhr Goethe fort, »wie steht es mit der Novelle?« – »Ich habe sie mitgebracht,« sagte ich. »Nachdem ich sie nochmals gelesen, finde ich, daß Euer Excellenz die intendirte Änderung nicht machen dürfen. Es thut gar gute Wirkung, wenn die Leute beim getödteten Tiger zuerst als durchaus fremde neue Wesen mit ihren abweichenden wunderlichen Kleidungen und Manieren hervortreten und sich als Besitzer der Thiere ankündigen. Brächten Sie sie aber schon früher, in der Exposition, so würde diese Wirkung gänzlich geschwächt, ja vernichtet werden.«

»Sie haben recht,« sagte Goethe, »ich muß es lassen wie es ist. Ohne Frage, Sie haben ganz recht. Es muß auch beim ersten Entwurf in mir gelegen haben, die Leute nicht früher zu bringen, eben weil ich sie ausgelassen. Diese intendirte Änderung war eine Forderung des Verstandes, und ich wäre dadurch bald zu einem Fehler verleitet worden. Es ist aber dieses ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.«

Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man[39] der Novelle geben solle; wir thaten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. »Wissen Sie was,« sagte Goethe, »wir wollen es die ›Novelle‹ nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich er eignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den ›Wahlverwandtschaften‹ vor.«

»Wenn man es recht bedenkt,« sagte ich, »so entsteht doch ein Gedicht immer ohne Titel und ist ohne Titel das was es ist, sodaß man also glauben sollte, der Titel gehöre gar nicht zur Sache.« – »Er gehört auch nicht dazu,« sagte Goethe; »die alten Gedichte hatten gar keine Titel, es ist dies ein Gebrauch der Neuern, von denen auch die Gedichte der Alten erst in einer spätern Zeit Titel erhalten haben. Doch dieser Gebrauch ist von der Nothwendigkeit herbeigeführt, bei einer ausgebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und von einander zu unterscheiden.

Hier,« sagte Goethe, »haben Sie etwas Neues; lesen Sie!« Mit diesen Worten reichte er mir eine Übersetzung eines serbischen Gedichts von Herrn Gerhard. Ich las mit großem Vergnügen, denn das Gedicht war sehr schön und die Übersetzung so einfach[40] und klar, daß man im Anschauen des Gegenstandes nie gestört wurde. Das Gedicht führte den Titel: ›Die Gefängnisschlüssel‹1. Ich sage hier nichts von dem Gang der Handlung; der Schluß indes kam mir abgerissen und ein wenig unbefriedigend vor.

»Das ist,« sagte Goethe, »eben das Schöne; denn dadurch läßt es einen Stachel im Herzen zurück, und die Phantasie des Lesers ist angeregt, sich selbst alle Möglichkeiten auszubilden, die nun folgen können. Der Schluß hinterläßt den Stoff zu einem ganzen Trauerspiele, allein er ist von der Art, wie schon vieles dagewesen ist. Dagegen das im Gedicht Dargestellte ist das eigentlich Neue und Schöne, und der Dichter verfuhr sehr weise, daß er nur dieses ausbildete und das andere dem Leser überließ. Ich theilte das Gedicht gern in ›Kunst und Alterthum‹ mit, allein es ist zu lang; dagegen habe ich mir diese drei gereimten von Gerhard ausgebeten, die ich im nächsten Heft werde abdrucken lassen. Was sagen Sie zu diesem? Hören Sie.«

Goethe las nun zuerst das Lied vom Alten, der ein junges Mädchen liebt, sodann das Trinklied der Weiber, und zuletzt das energische: ›Tanz' uns vor, Theodor‹2. Jedes las er in einem andern Tone und andern Schwunge, vortrefflich, sodaß man nicht leicht etwas Vollkommneres hören konnte.

[41] Wir mußten Herrn Gerhard loben, daß er die jedesmaligen Versarten und Refrains durchaus glücklich und im Character gewählt und alles leicht und vollkommen ausgeführt hatte, sodaß man nicht wußte wie er es hätte besser machen sollen. »Da sieht man,« sagte Goethe, »was bei einem solchen Talent wie Gerhard die große technische Übung thut. Und dann kommt ihm zugute, daß er kein eigentlich gelehrtes Metier, sondern ein solches treibt, das ihn täglich aufs praktische Leben weist. Auch hat er die vielen Reisen in England und andern Ländern gemacht, wodurch er denn bei seinem auf das Reale gehenden Sinn über unsere gelehrten jungen Dichter manche Avantagen hat. Wenn er sich immer an gute Überlieferungen hält und nur diese bearbeitet, so wird er nicht leicht etwas Schlechtes machen. Alle eigenen Erfindungen dagegen erfordern sehr viel und sind eine schwere Sache.«

Hieran knüpften sich manche Betrachtungen über die Productionen unserer neuesten jungen Dichter, und es ward bemerkt, daß fast keiner von ihnen mit einer guten Prosa aufgetreten.

»Die Sache ist sehr einfach,« sagte Goethe. »Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere giebt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber doch aussieht als wäre es was.«


1 Genau: Die Kerkerschlüssel.


2 Abgedruckt in ›Kunst u. Alterthum‹ VI, 1.[42]


1077.*


1827, 31. Januar.


Mit Johann Peter Eckermann

Bei Goethe zu Tische. »In diesen Tagen, seit ich Sie nicht gesehen,« sagte er, »habe ich vieles und mancherlei gelesen, besonders auch einen chinesischen Roman, [englisch als: Chinese Courtship] der mich noch beschäftigt und der mir im hohen Grade merkwürdig erscheint.« – »Chinesischen Roman?« sagte ich. »Der muß wohl recht fremdartig aussehen.« – »Nicht so sehr als man glauben sollte,« sagte Goethe. »Die Menschen denken, handeln und empfinden fast ebenso wie wir, und man fühlt sich sehr bald als ihresgleichen, nur daß bei ihnen alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht. Es ist bei ihnen alles verständig, bürgerlich, ohne große Leidenschaft und poetischen Schwung und hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem ›Hermann und Dorothea‹ sowie mit den englischen Romanen des Richardson. Es unterscheidet sich aber wieder dadurch, daß bei ihnen die äußere Natur neben den menschlichen Figuren immer mitlebt. Die Goldfische in den Teichen hört man immer plätschern, die Vögel auf den Zweigen fingen immer fort, der Tag ist immer heiter und sonnig, die Nacht immer klar; vom Mond ist viel die Rede, allein er verändert die Landschaft nicht, sein Schein ist so helle gedacht, wie der Tag selber. Und das Innere der Häuser so nett und zierlich wie ihre Bilder.[43] Z.B. ›Ich hörte die lieblichen Mädchen lachen, und als ich sie zu Gesichte bekam, saßen sie auf feinen Rohrstühlen.‹ Da haben Sie gleich die allerliebste Situation, denn Rohrstühle kann man sich gar nicht ohne die größte Leichtigkeit und Zierlichkeit denken. Und nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der Erzählung nebenher gehen und gleichsam sprichwörtlich angewendet werden. Z. B. von einem Mädchen, das so leicht und zierlich von Füßen war, daß sie auf einer Blume balancieren konnte, ohne die Blume zu knicken. Und von einem jungen Manne, der sich so sittlich und brav hielt, daß er in seinem dreißigsten Jahre die Ehre hatte, mit dem Kaiser zu reden. Und ferner von Liebespaaren, die in einem langen Umgange sich so enthaltsam bewiesen, daß, als sie einst genöthigt waren eine Nacht in einem Zimmer miteinander zuzubringen, sie in Gesprächen die Stunden durchwachten, ohne sich zu berühren. Und so unzählige von Legenden, die alle auf das Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch diese strenge Mäßigung in allem hat sich denn auch das chinesische Reich seit Jahrtausenden erhalten und wird dadurch ferner bestehen.

Einen höchst merkwürdigen Gegensatz zu diesem chinesischen Roman,« fuhr Goethe fort, »habe ich an den Liedern von Béranger, denen fast allen ein unsittlicher, liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im hohen Grade zuwider sein würden, wenn nicht ein so großes Talent wie Béranger die Gegenstände[44] behandelt hätte, wodurch sie denn erträglich, ja sogar anmuthig werden. Aber sagen Sie selbst, ist es nicht höchst merkwürdig, daß die Stoffe des chinesischen Dichters so durchaus sittlich, und diejenigen des jetzigen ersten Dichters von Frankreich ganz Gegentheil sind?«

»Ein solches Talent wie Béranger,« sagte ich, »würde an sittlichen Stoffen nichts zu thun finden.« – »Sie haben recht,« sagte Goethe; »eben an den Verkehrtheiten der Zeit offenbart und entwickelt Béranger seine bessere Natur.« – »Aber,« sagte ich, »ist denn dieser chinesische Roman vielleicht einer ihrer vorzüglichsten?« – »Keineswegs,« sagte Goethe; »die Chinesen haben deren zu Tausenden und hatten ihrer schon, als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten.

Ich sehe immer mehr,« fuhr Goethe fort, »daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt. Einer macht es ein wenig besser als der andere und schwimmt ein wenig länger oben als der andere, das ist alles. Der Herr von Matthisson muß daher nicht denken, er wäre es, und ich muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit der poetischen Gabe keine so seltene Sache sei, und daß niemand eben besondere Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht. Aber freilich wenn[45] wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und rathe jedem, es auch seinerseits zu thun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas Besonderm haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfniß von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen.«

Ich freute mich, Goethe in einer Folge über einen so wichtigen Gegenstand reden zu hören. Das Geklingel vorbeifahrender Schlitten lockte uns zum Fenster; denn wir erwarteten, daß der große Zug, der diesen Morgen nach Belvedere vorbeiging, wieder zurückkommen würde. Goethe setzte indes seine lehrreichen Äußerungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede, und er erzählte mir, daß Graf Reinhard Herrn Manzoni vor nicht langer Zeit in Paris gesehen, wo er als ein junger Autor von Namen in der Gesellschaft wohl aufgenommen gewesen sei, und daß er jetzt wieder in der[46] Nähe von Mailand auf seinem Landgute mit einer jungen Familie und seiner Mutter glücklich lebe.

»Manzoni,« fuhr Goethe fort, »fehlt weiter nichts, als daß er selbst nicht weiß, welch ein guter Poet er ist und welche Rechte ihm als solchem zustehen. Er hat gar zu viel Respect vor der Geschichte und fügt aus diesem Grunde seinen Stücken immer gern einige Auseinandersetzungen hinzu, in denen er nachweist, wie treu er den Einzelheiten der Geschichte geblieben. Nun mögen seine Facta historisch sein, aber seine Charactere sind es doch nicht, so wenig es mein Thoas und meine Iphigenia sind. Kein Dichter hat je die historischen Charactere gekannt, die er darstellte, hätte er sie aber gekannt, so hätte er sie schwerlich so gebrauchen können. Der Dichter muß wissen, welche Wirkungen er hervorbringen will, und danach die Natur seiner Charactere einrichten. Hätte ich den Egmont so machen wollen wie ihn die Geschichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kinder, so würde sein leichtsinniges Handeln sehr absurd erschienen sein. Ich mußte also einen andern Egmont haben, wie er besser mit seinen Handlungen und meinen dichterischen Absichten in Harmonie stände; und dies ist, wie Klärchen sagt, mein Egmont.

Und wozu wären denn die Poeten, wenn sie bloß die Geschichte eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns womöglich etwas Höheres und Besseres geben. Die Charactere[47] des Sophokles tragen alle etwas von der hohen Seele des großen Dichters, sowie Charactere des Shakespeare von der seinigen. Und so ist es recht, und so soll man es machen. Ja Shakespeare geht noch weiter und macht seine Römer zu Engländern, und zwar wieder mit Recht; denn sonst hätte ihn seine Nation nicht verstanden.

Darin,« fuhr Goethe fort, »waren nun wieder die Griechen groß, daß sie weniger auf die Treue eines historischen Factums gingen, als daraus wie es der Dichter behandelte. Zum Glück haben wir jetzt an den ›Philokteten‹ ein herrliches Beispiel, welches Sujet alle drei großen Tragiker behandelt haben, und Sophokles zuletzt und am besten. Dieses Dichters treffliches Stück ist glücklicherweise ganz auf uns gekommen; dagegen von den ›Philokteten‹ des Äschylus und Euripides hat man Bruchstücke aufgefunden, aus denen hinreichend zu sehen ist, wie sie ihren Gegenstand behandelt haben. Wollte es meine Zeit mir erlauben, so würde ich diese Stücke restauriren, sowie ich es mit dem ›Phaethon‹ des Euripides gethan, und es sollte mir keine unangenehme und unnütze Arbeit sein.

Bei diesem Sujet war die Aufgabe ganz einfach: nämlich den Philoktet nebst dem Bogen von der Insel Lemnos zu holen. Aber die Art, wie dieses geschieht, das war nun die Sache der Dichter, und darin konnte jeder die Kraft seiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvorthun. Der Ulyß soll ihn holen, aber soll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und[48] wodurch soll er unkenntlich sein? Soll der Ulyß allein gehen, oder soll er Begleiter haben, und wer soll ihn begleiten? Beim Äschylus ist der Gefährte unbekannt, beim Euripides ist es der Diomed, beim Sophokles der Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zustande soll man den Philoktet finden? Soll die Insel bewohnt sein oder nicht, und wenn bewohnt, soll sich eine mitleidige Seele seiner angenommen haben oder nicht? Und so hundert andere Dinge, die alle in der Willkür der Dichter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine vor dem andern seine höhere Weisheit zeigen konnte. Hierin liegt's, und so sollten es die jetzigen Dichter auch machen, und nicht immer fragen, ob ein Sujet schon behandelt worden oder nicht, wo sie denn immer in Süden und Norden nach unerhörten Begebenheiten suchen, die oft barbarisch genug sind, und die dann auch bloß als Begebenheiten wirken. Aber freilich, ein einfaches Sujet durch eine meisterhafte Behandlung zu etwas zu machen, erfordert Geist und großes Talent, und daran fehlt es.«

Vorbeifahrende Schlitten zogen uns wieder ans Fenster; der erwartete Zug von Belvedere war es aber wieder nicht. Wir sprachen und scherzten unbedeutende Dinge hin und her; dann fragte ich Goethe, wie es mit der Novelle stehe.

»Ich habe sie dieser Tage ruhen lassen,« sagte er, »aber eins muß doch noch in der Exposition geschehen. Der Löwe nämlich muß brüllen, wenn die Fürstin an[49] der Bude vorbeireitet; wobei ich denn einige gute Reflexionen über die Furchtbarkeit des gewaltigen Thiers anstellen lassen kann.«

»Dieser Gedanke ist sehr glücklich,« sagte ich; »denn dadurch entsteht eine Exposition, die nicht allein an sich, an ihrer Stelle, gut und nothwendig ist, sondern wodurch auch alles Folgende eine größere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erschien der Löwe fast zu sanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit zeigte. Dadurch aber, daß er brüllt, läßt er uns wenigstens seine Furchtbarkeit ahnen, und wenn er sodann später sanft der Flöte des Kindes folgt, so wird dieses eine desto größere Wirkung thun.«

»Diese Art, zu ändern und zu bessern,« sagte Goethe, »ist nun die rechte, wo man ein noch Unvollkommenes durch fortgesetzte Erfindungen zum Vollendeten steigert. Aber ein Gemachtes immer wieder neu zu machen und weiter zu treiben, wie z.B. Walter Scott mit meiner Mignon gethan, die er außer ihren übrigen Eigenheiten noch taubstumm sein läßt, diese Art, zu ändern, kann ich nicht loben.«[50]


1078.*


1827, 1. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe erzählte mir von einem Besuch des Kronprinzen von Preußen in Begleitung des Großherzogs. »Auch die Prinzen Karl und Wilhelm von Preußen,«[50] sagte er, »waren diesen Morgen bei mir. Der Kronprinz blieb mit dem Großherzog gegen drei Stunden, und es kam mancherlei zur Sprache, welches mir von dem Geist, Geschmack, den Kenntnissen und der Denkweise dieses jungen Fürsten eine hohe Meinung gab.«

Goethe hatte einen Band der ›Farbenlehre‹ vor sich liegen. »Ich bin,« sagte er, »Ihnen noch immer eine Antwort wegen des Phänomens der farbigen Schatten schuldig. Da dieses aber vieles voraussetzt und mit vielem andern zusammenhängt, so will ich Ihnen auch heute keine aus dem Ganzen herausgerissene Erklärung geben, vielmehr habe ich gedacht, daß es gut sein würde, wenn wir die Abende, die wir zusammenkommen, die ganze ›Farbenlehre‹ miteinander durchlesen. Dadurch haben wir immer einen soliden Gegenstand der Unterhaltung, und Sie selbst werden sich die ganze Lehre zu eigen machen, sodaß Sie kaum werfen, wie Sie dazu kommen. Das Überlieferte fängt bei Ihnen an zu leben und wieder productiv zu werden, wodurch ich denn voraussehe, daß diese Wissenschaft sehr bald Ihr Eigenthum sein wird. Nun lesen Sie den ersten Abschnitt.«

Mit diesen Worten legte Goethe mir das aufgeschlagene Buch vor. Ich fühlte mich sehr beglückt durch die gute Absicht, die er mit mir hatte. Ich las von den physiologischen Farben die ersten Paragraphen.

»Sie sehen,« Sagte Goethe, »es ist nichts außer uns, was nicht zugleich in uns wäre, und wie die[51] äußere Welt ihre Farben hat, so hat sie auch das Auge. Da es nun bei dieser Wissenschaft ganz vorzüglich auf Scharfe Sonderung des Objectiven vom Subjectiven ankommt, so habe ich billig mit den Farben, die dem Auge gehören, den Anfang gemacht, damit wir bei allen Wahrnehmungen immer wohl unterscheiden, ob die Farbe auch wirklich außer uns existire, oder ob es eine bloße Scheinfarbe sei, die sich das Auge selbst erzeugt hat. Ich denke also, daß ich den Vortrag dieser Wissenschaft beim rechten Ende angefaßt habe, indem ich zunächst das Organ berichtige, durch welches alle Wahrnehmungen und Beobachtungen geschehen müssen.«

Ich las weiter bis zu den interessanten Paragraphen von den geforderten Farben, wo gelehrt wird, daß das Auge das Bedürfniß des Wechsels habe, indem es nie gern bei derselbigen Farbe verweile, sondern sogleich eine andere fordere und zwar so lebhaft, daß es sich solche selbst erzeuge, wenn es sie nicht wirklich vorfinde.

Dieses brachte ein großes Gesetz zur Sprache, das durch die ganze Natur geht und worauf alles Leben und alle Freude des Lebens beruht. »Es ist dieses,« sagte Goethe, »nicht allein mit allen andern Sinnen so sondern auch mit unserm höhern geistigen Wesen; aber weil das Auge ein so vorzüglicher Sinn ist, so tritt dieses Gesetz des geforderten Wechsels so ausfallend bei den Farben hervor und wird uns bei ihnen so vor allen deutlich bewußt. Wir haben Tänze, die uns im[52] hohen Grade wohlgefallen, weil Dur und Moll in ihnen wechselt, wogegen aber Tänze aus bloßem Dur oder bloßem Moll sogleich ermüden.«

»Dasselbe Gesetz,« sagte ich, »scheint einem guten Stil zum Grunde zu liegen, bei welchem wir gern einen Klang vermeiden, der soeben gehört wurde. Auch beim Theater wäre mit diesem Gesetz viel zu machen, wenn man es gut anzuwenden wüßte. Stücke, besonders Trauerspiele, in denen ein einziger Ton ohne Wechsel durchgeht, haben etwas Lästiges und Ermüdendes, und wenn nun das Orchester bei einem traurigen Stück auch in den Zwischenacten traurige, niederschlagende Musik hören läßt, so wird man von einem unerträglichen Gefühl gepeinigt, dein man gern auf alle Weise entfliehen möchte.«

»Vielleicht,« sagte Goethe, »beruhen auch die eingeflochtenen heitern Scenen in den Shakespeare'schen Trauerspielen auf diesem Gesetz des geforderten Wechsels; allein auf die höhere Tragödie der Griechen scheint es nicht anwendbar, vielmehr geht bei dieser ein gewisser Grundton durch das Ganze.«

»Die griechische Tragödie,« sagte ich, »ist auch nicht von solcher Länge, daß sie bei einem durchgehenden gleichen Ton ermüden könnte, und dann wechseln auch Chöre und Dialog, und der erhabene Sinn ist von solcher Art, daß er nicht lästig werden kann, indem immer eine gewisse tüchtige Realität zum Grunde liegt, die stets heiterer Natur ist.«

[53] »Sie mögen recht haben,« sagte Goethe, »und es wäre wohl der Mühe werth, zu untersuchen, inwiefern auch die griechische Tragödie dem allgemeinen Gesetze des geforderten Wechsels unterworfen ist. Aber Sie sehen, wie alles aneinanderhängt, und wie sogar ein Gesetz der Farbenlehre auf eine Untersuchung der griechischen Tragödie führen kann. Nur muß man sich hüten, es mit einem solchen Gesetz zu weit treiben und es als Grundlage für vieles andere machen zu wollen, vielmehr geht man sicherer, wenn man es immer nur als ein Analogon, als ein Beispiel gebraucht und anwendet.«

Wir sprachen über die Art, wie Goethe seine Farbenlehre vorgetragen, daß er nämlich dabei alles aus großen Urgesetzen abgeleitet und die einzelnen Erscheinungen immer darauf zurückgeführt habe, woraus denn das Faßliche und ein großer Gewinn für den Geist hervorgehe.

»Dieses mag sein,« sagte Goethe, »und Sie mögen mich deshalb loben, aber diese Methode erfordert denn auch Schüler, die nicht in der Zerstreuung leben und die fähig sind, die Sache wieder im Grunde aufzufassen. Es sind einige recht hübsche Leute in meiner Farbenlehre heraufgekommen, allein das Unglück ist, sie bleiben nicht aus geradem Wege, sondern ehe ich es mir versehe, weichen sie ab und gehen einer Idee nach, statt das Object immer gehörig im Auge zu behalten. Aber ein guter Kopf, dem es zugleich um[54] die Wahrheit zu thun wäre, könnte noch immer viel leisten.«

Wir sprachen von Professoren, die, nachdem das Bessere gefunden, immer noch die Newton'sche Lehre vortragen. »Dies ist nicht zu verwundern,« sagte Goethe; »solche Leute gehen im Irrthum fort, weil sie ihm ihre Existenz verdanken. Sie müßten umlernen und das wäre eine sehr unbequeme Sache.« –

»Aber,« sagte ich, »wie können ihre Experimente die Wahrheit beweisen, da der Grund ihrer Lehre falsch ist?« – »Sie beweisen auch die Wahrheit nicht,« sagte Goethe, »und das ist auch keineswegs ihre Absicht, sondern es liegt ihnen bloß daran, ihre Meinung zu beweisen. Deshalb verbergen sie auch alle solche Experimente, wodurch die Wahrheit an den Tag kommen und die Unhaltbarkeit ihrer Lehre sich darlegen könnte.

Und dann, um von den Schülern zu reden, welchem von ihnen wäre es denn um die Wahrheit zu thun? Das sind auch Leute wie andere und völlig zufrieden, wenn sie über die Sache empirisch mitschwatzen können. Das ist alles. Die Menschen sind überhaupt eigener Natur: Sobald ein See zugefroren ist, sind sie gleich zu Hunderten darauf und amusiren sich auf der glatten Oberfläche, aber wem fällt es ein, zu untersuchen, wie tief er ist und welche Arten von Fischen unter dem Eise hin- und herschwimmen? Niebuhr hat jetzt einen Handelstractat zwischen Rom und Karthago entdeckt aus einer sehr frühen Zeit, woraus es erwiesen ist,[55] daß alle Geschichten des Livius vom frühen Zustande des römischen Volks nichts als Fabeln sind, indem aus jenem Tractat ersichtlich, daß Rom schon sehr früh in einem weit höhern Zustande der Cultur sich befunden, als aus dem Livius hervorgeht. Aber wenn Sie nun glauben, daß dieser entdeckte Tractat in der bisherigen Lehrart der römischen Geschichte eine große Reform hervorbringen werde, so sind Sie im Irrthum. Denken Sie nur immer an den gefrorenen See; so sind die Leute, ich habe sie kennen gelernt, so sind sie und nicht anders.«

»Aber doch,« sagte ich, »kann Sie es nicht gereuen, daß Sie die ›Farbenlehre‹ geschrieben; denn nicht allein daß Sie dadurch ein festes Gebäude dieser trefflichen Wissenschaft gegründet, sondern Sie haben auch darin ein Muster wissenschaftlicher Behandlung aufgestellt, woran man sich bei Behandlung ähnlicher Gegenstände immer halten kann.«

»Es gereut mich auch keineswegs,« sagte Goethe, »obgleich ich die Mühe eines halben Lebens hineingesteckt habe. Ich hätte vielleicht ein halb Dutzend Trauerspiele mehr geschrieben, das ist alles, und dazu werden sich noch Leute genug nach mir finden.

Aber Sie haben recht, ich denke auch, die Behandlung wäre gut; es ist Methode darin. In derselbigen Art habe ich auch eine Tonlehre geschrieben, sowie auch meine ›Metamorphose der Pflanzen‹ auf derselbigen. Anschauungs- und Ableitungsweise beruht.

[56] Mit meiner ›Metamorphose der Pflanzen‹ ging es mir eigen; ich kam dazu wie Herschel zu seinen Entdeckungen. Herschel nämlich war so arm, daß er sich kein Fernrohr anschaffen konnte, sondern daß er genöthigt war sich selber eins zu machen. Aber dies war sein Glück; denn dieses selbstfabricirte war besser als alle andern, und er machte damit seine großen Entdeckungen. In die Botanik war ich auf empirischem Wege hereingekommen. Nun weiß ich noch recht gut, daß mir bei der Bildung der Geschlechter die Lehre zu weitläufig wurde, als daß ich den Muth hatte, sie zu fassen. Das trieb mich an, der Sache auf eigenem Wege nachzuspüren und dasjenige zu finden, was allen Pflanzen ohne Unterschied gemein wäre, und so entdeckte ich das Gesetz der Metamorphose.

Der Botanik nun im einzelnen weiter nachzugehen, liegt gar nicht in meinem Wege, das überlasse ich andern, die es mir auch darin weit zuvorthun. Mir lag bloß daran, die einzelnen Erscheinungen auf ein allgemeines Grundgesetz zurückzuführen.

So auch hat die Mineralogie nur in einer doppelten Hinsicht Interesse für mich gehabt: zunächst nämlich ihres großen praktischen Nutzens wegen, und dann um darin ein Document über die Bildung der Urwelt zu finden, wozu die Werner'sche Lehre Hoffnung machte. Seit man nun aber nach des trefflichen Mannes Tode in dieser Wissenschaft das Oberste zu unterst kehrt, gehe ich in diesem Fache öffentlich nicht weiter[57] mit, sondern halte mich im Stillen in meiner Überzeugung fort.

In der ›Farbenlehre‹ steht mir nun noch die Entwickelung des Regenbogens bevor, woran ich zunächst gehen werde. Es ist dieses eine äußerst Schwierige Aufgabe, die ich jedoch zu lösen hoffe. Es ist mir aus diesem Grunde lieb, jetzt mit Ihnen die ›Farbenlehre‹ wieder durchzugehen, wodurch sich denn, zumal bei Ihrem Interesse für die Sache, alles wieder anfrischt.

Ich habe mich,« fuhr Goethe fort, »in den Naturwissenschaften ziemlich nach allen Seiten hin versucht; jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf solche Gegenstände, die mich irdisch umgaben und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten; weshalb ich mich denn auch nie mit Astronomie beschäftigt habe, weil hierbei die Sinne nicht mehr ausreichen, sondern weil man hier schon zu Instrumenten, Berechnungen und Mechanik seine Zuflucht nehmen muß, die ein eigenes Leben erfordern und die nicht meine Sachen waren.

Wenn ich aber in denen Gegenständen, die in meinem Wege lagen, etwas geleistet, so kam mir dabei zugute, daß mein Leben in eine Zeit fiel, die an großen Entdeckungen in der Natur reicher war als irgend eine andere. Schon als Kind begegnete mir Franklin's Lehre von der Elektricität, welches Gesetz er damals soeben gefunden hatte. Und so folgte durch mein ganzes[58] Leben, bis zu dieser Stunde, eine große Entdeckung der andern; wodurch ich denn nicht allein früh auf die Natur hingeleitet, sondern auch später immerfort in der bedeutendsten Anregung erhalten wurde.

Jetzt werden Vorschritte gethan, auch auf den Wegen, die ich einleitete, wie ich sie nicht ahnen konnte, und es ist mir wie einem, der der Morgenröthe entgegengeht und über den Glanz der Sonne erstaunt, wenn diese hervorleuchtet.«

Unter den Deutschen nannte Goethe bei dieser Gelegenheit die Namen Carus, d'Alton, Meyer in Königsberg mit Bewunderung.

»Wenn nur die Menschen,« fuhr Goethe fort, »das Rechte, nachdem es gefunden, nicht wieder umkehrten und verdüsterten, so wäre ich zufrieden; denn es thäte der Menschheit ein Positives noth, das man ihr von Generation zu Generation überlieferte, und es wäre doch gut, wenn das Positive zugleich das Rechte und Wahre wäre. In dieser Hinsicht sollte es mich freuen, wenn man in den Naturwissenschaften aufs Reine käme und sodann im Rechten beharrte, und nicht wieder transcendirte, nachdem im Faßlichen altes gethan worden. Aber die Menschen können keine Ruhe halten, und ehe man es sich versieht, ist die Verwirrung wieder oben auf.

So rütteln sie jetzt an den fünf Büchern Moses, und wenn die vernichtende Kritik irgend schädlich ist, so ist sie es in Religionssachen; denn hierbei beruht[59] alles auf dem Glauben, zu welchem man nicht zurückkehren kann, wenn man ihn einmal verloren hat.

In der Poesie ist die vernichtende Kritik nicht so schädlich. Wolf hat den Homer zerstört, doch dem Gedicht hat er nichts anhaben können; denn dieses Gedicht hat die Wunderkraft wie die Selben Walhalla's, die sich des Morgens in Stücke hauen und Mittags sich wieder mit heilen Gliedern zu Tische setzen.«

Goethe war in der besten Laune, und ich war glücklich, ihn abermals über so bedeutende Dinge reden zu hören. »Wir wollen uns nur,« sagte er, »im stillen auf dem rechten Wege forthalten und die übrigen gehen lassen; das ist das Beste.«[60]


1079.*


1827, 7. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe schalt heute auf gewisse Kritiker, die nicht mit Lessing zufrieden sind und an ihn ungehörige Forderungen machen.

»Wenn man,« sagte er, »die Stücke von Lessing mit denen der Alten vergleicht und sie schlecht und miserabel findet, was soll man da sagen! Bedauert doch den außerordentlichen Menschen, daß er in einer so erbärmlichen Zeit leben mußte, die ihm keine bessern Stoffe gab, als in seinen Stücken verarbeitet sind! Bedauert ihn doch, daß er in seiner ›Minna von[60] Barnhelm‹ an den Händeln der Sachsen und Preußen theilnehmen mußte, weil er nichts Besseres fand! Auch daß er immerfort polemisch wirkte und wirken mußte, lag in der Schlechtigkeit seiner Zeit. In der ›Emilia Galotti‹ hatte er seine Piquen auf die Fürsten, im ›Nathan‹ auf die Pfaffen.«[61]


1080.*


1827, 16. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

Ich erzählte Goethen, daß ich in diesen Tagen Winckelmann's Schrift ›Über die Nachahmung griechischer Kunstwerke‹ gelesen, wobei ich gestand, daß es mir oft vorgekommen als sei Winckelmann damals noch nicht Völlig klar über seine Gegenstände gewesen.

»Sie haben allerdings recht,« sagte Goethe, »man trifft ihn mitunter in einem gewissen Tasten; allein, was das Große ist, sein Tasten weist immer auf etwas hin; er ist dem Columbus ähnlich, als er die Neue Welt zwar noch nicht entdeckt hatte, aber sie doch schon ahnungsvoll im Sinne trug. Man lernt nichts wenn man ihn liest, aber man wird etwas.

Meyer ist nun weiter geschritten und hat die Kenntniß der Kunst auf ihren Gipfel gebracht. Seine ›Kunstgeschichte‹ ist ein ewiges Werk, allein er wäre das nicht geworden, wenn er sich nicht in der Jugend an Winckelmann hinaufgebildet hätte und auf dessen[61] Wege fortgegangen wäre. Da sieht man abermals, was ein großer Vorgänger thut, und was es heißt, wenn man sich diesen gehörig zunutze macht.«[62]


1081.*


1827, 21. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

Bei Goethe zu Tische. Er sprach viel und mit Bewunderung über Alexander von Humboldt, dessen Werk über Cuba und Columbien er zu lesen angefangen, und dessen Ansichten über das Project eines Durchstiches der Landenge von Panama für ihn ein ganz besonderes Interesse zu haben schienen. »Humboldt,« sagte Goethe, »hat mit großer Sachkenntniß noch andere Punkte angegeben, wo man mit Benutzung einiger in den Mexikanischen Meerbusen fließenden Ströme vielleicht noch vortheilhafter zum Ziele käme als bei Panama. Dies ist nun alles der Zukunft und einem großen Unternehmungsgeiste vorbehalten. So viel ist aber gewiß, gelänge ein Durchstich der Art, daß man mit Schiffen von jeder Ladung und jeder Größe durch solchen Kanal aus dem Mexikanischen Meerbusen in den Stillen Ocean fahren könnte, so würden daraus für die ganze civilisirte und nichtcivilisirte Menschheit ganz unberechenbare Resultate hervorgehen. Wundern sollte es mich aber, wenn die Vereinigten Staaten es sich sollten entgehen lassen,[62] ein solches Werk in ihre Hände zu bekommen. Es ist vorauszusehen, daß dieser jugendliche Staat, bei seiner entschiedenen Tendenz nach Westen, in dreißig bis vierzig Jahren auch die großen Landstrecken jenseit der Felsengebirge in Besitz genommen und bevölkert haben wird. Es ist ferner vorauszusehen, daß an dieser ganzen Küste des Stillen Oceans, wo die Natur bereits die geräumigsten und sichersten Häfen gebildet hat, nach und nach sehr bedeutende Handelsstädte entstehen werden, zur Vermittelung eines großen Verkehrs zwischen China nebst Ostindien und den Vereinigten Staaten. In solchem Falle wäre es aber nicht bloß wünschenswerth, sondern fast nothwendig, daß sowohl Handels- als Kriegsschiffe zwischen der nordamerikanischen westlichen und östlichen Küste eine raschere Verbindung unterhielten, als es bisher durch die langweilige, widerwärtige und kostspielige Fahrt um das Cap-Horn möglich gewesen. Ich wiederhole also: es ist für die Vereinigten Staaten durchaus unerläßlich, daß sie sich eine Durchfahrt aus dem Mexikanischen Meerbusen in den Stillen Ocean bewerkstelligen, und ich bin gewiß, daß sie es erreichen.

Dieses möchte ich erleben; aber ich werde es nicht. Zweitens möchte ich erleben, eine Verbindung der Donau mit dem Rhein hergestellt zu sehen. Aber dieses Unternehmen ist gleichfalls so riesenhaft, daß ich an der Ausführung zweifle, zumal in Erwägung unserer deutschen Mittel. Und endlich drittens möchte ich die[63] Engländer im Besitz eines Kanals von Suez sehen. Diese drei großen Dinge möchte ich erleben, und es wäre wohl der Mühe werth, ihnen zu Liebe es noch einige funfzig Jahre auszuhalten.«[64]


1082.*


1827, 1. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Bei Goethe zu Tische. Er erzählte mir, daß er eine Sendung vom Grafen Sternberg und Zauper erhalten, die ihm Freude mache. Sodann verhandelten wir viel über die Farbenlehre, über die subjectiven prismatischen Versuche, und über die Gesetze, nach denen der Regenbogen sich bildet. Er freute sich über meine fortwährend sich vergrößernde Theilnahme an diesen schwierigen Gegenständen.[64]


1083.*


1827, 1. März.


Mit Friedrich von Müller

Bei dem großen Lob, das er Vogel1 spendete, sagte er: Die neuern Künstler verstehen gar kein Bild mehr zu machen, sie haben das Falsche, Unnatürliche zum Maxim erhoben. Man probire einmal, schneide solch ein Bild in der Mitte durch und man wird das[64] obere Theil vielleicht recht brav gemalt finden, treu – lebendig, aber das untere Theil wird dann in seiner ganzen Nichtigkeit hervortreten. Als ob nicht jeder Theil zum Ganzen passen müßte, um ein Ganzes zu gestalten.


1 C. Vogel v. Vogelstein.[65]


1748.*


1827, 1. März.


Mit Friedrich von Müller

[Ergänzungen zu Nr. 1038. Anfang:]


Von 4 1/2 bis nach 6 Uhr war ich bei Goethe. Anfangs waren lange Gesprächspausen, dann war er recht munter und mittheilend. Er sprach über den schlechten Zustand der Akademie bei Gelegenheit der Cassation des Dr. Schenkischen Diploms. »Dergleichen ist kein Vergehen, sondern eine reine Folge, und die läßt sich nicht bestrafen. Es ist niemanden Ernst; das schlendert so hin. Familienconnexionen entscheiden. Da giebt es amende Katastrophen.«[144]


1084.*


1827, Anfang März (?).


Mit Auguste Sutorius

Auguste Sutorius, die einige Zeit in Weimar gewesen,.. hatte, als sie ihm vorgestellt wurde, in eine garstige Fußangel getreten. Der Berliner Hofschauspieler Krüger, zum Besuch in Weimar anwesend, hatte sich die Erlaubniß erbeten, die junge, talentvolle Schauspielerin bei Goethe einzuführen, und dieser empfing sie denn nun in seiner feierlichen Visitenmanier, in welche sich die Schülerin des Wiener Theatertons schwer zu finden wußte ..... Krüger... kam auf den unglücklichen Gedanken, einzuwerfen: Demoiselle Sutorius hat auch schon die Sophie in den »Mitschuldigen« .... gespielt, worauf die, in der Literatur völlig Unbewanderte mit lebhaftestem Widerwillen erwiedert: »Ach, ich bitt', Herr Krüger! reden Sie mir nicht von dem grauslichen Stück; das ist mir meine zuwiderste Rolle.« Und Goethe – während Krüger auf eine Öffnung in der Diele rechnet, durch die er zu Kellertiefen versinken möchte – spricht mit antiker Ruhe: »Nun, nun! das ist ja schön.«[65]


1085.*


1827, 21. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe zeigte mir ein Büchelchen von Hinrichs über das Wesen der antiken Tragödie. »Ich habe es mit großem Interesse gelesen,« sagte er. »Hinrichs hat besonders den ›Ödip‹ und die ›Antigone‹ von Sophokles als Grundlage genommen, um daran seine Ansichten zu entwickeln. Es ist sehr merkwürdig, und ich will es Ihnen mitgeben, damit Sie es auch lesen und wir darüber sprechen können. Ich bin nun keineswegs seiner Meinung; aber es ist im hohen Grade lehrreich, zu sehen wie ein so durch und durch philosophisch gebildeter Mensch von dem eigenthümlichen Standpunkt seiner Schule aus ein dichterisches Kunstwerk ansieht. Ich will heute nichts weiter sagen, um Ihnen nicht vorzugreifen. Lesen Sie nur, und Sie werden sehen, daß man dabei zu allerlei Gedanken kommt.«[66]


1086.*


1827, 28. März.


Mit Johann Peter Eckermann

Ich brachte Goethen das Buch von Hinrichs zurück, das ich indes eifrig gelesen. Auch hatte ich sämmtliche Stücke des Sophokles abermals durchgenommen,[66] um im vollkommenen Besitz des Gegenstandes zu sein.

»Nun,« sagte Goethe, »wie haben Sie ihn gefunden? Nicht wahr, er geht den Dingen zu Leibe.«

»Ganz wunderlich,« sagte ich, »geht es mir mit diesem Buche. Es hat keins so viele Gedanken in mir angeregt als dieses, und doch bin ich mit keinem so oft in Widerspruch gerathen, als gerade mit diesem.«

»Das ist's eben!« sagte Goethe. »Das Gleiche läßt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns productiv macht.«

»Seine Intentionen,« sagte ich, »sind mir im hohen Grade respectabel erschienen; auch haftet er keineswegs an der Oberfläche der Dinge. Allein er verliert sich oft so sehr im Feinen und Innerlichen der Verhältnisse, und zwar auf so subjective Weise, daß er darüber die wahre Anschauung des Gegenstandes im Einzelnen wie die Übersicht des Ganzen verliert, und man in den Fall kommt, sich und den Gegenständen Gewalt anthun zu müssen, um so zu denken wie er. Auch ist es mir oft vorgekommen als wären meine Organe zu grob, um die ungewöhnliche Subtilität seiner Unterscheidungen aufzufassen.«

»Wären Sie philosophisch präparirt wie er,« sagte Goethe, »so würde es besser gehen. Wenn ich aber ehrlich sagen soll, so thut es mir leid, daß ein ohne Zweifel kräftig geborener Mensch von der norddeutschen Seeküste[67] wie Hinrichs durch die Hegel'sche Philosophie so zugerichtet worden, daß ein unbefangenes natürliches Anschauen und Denken bei ihm ausgetrieben, und eine künstliche und schwerfällige Art und Weise sowohl des Denkens wie des Ausdrucks ihm nach und nach angebildet worden, sodaß wir in seinem Buche auf Stellen gerathen, wo unser Verstand durchaus stillsteht und man nicht mehr weiß, was man liest.«

»Das ist mir nicht besser gegangen,« sagte ich. »Doch habe ich mich gefreut auch auf Stellen zu stoßen, die mir durchaus menschlich und klar erschienen sind, wie z.B. seine Relation der Fabel des Ödip.«

»Hierbei,« sagte Goethe, »mußte er sich freilich scharf an der Sache halten. Es giebt aber in seinem Buche nicht wenige Stellen, bei denen der Gedanke nicht rückt und fortschreitet und wobei sich die dunkele Sprache immer auf demselbigen Fleck und immer in demselbigen Kreise bewegt, völlig so wie das Einmaleins der Hexe in meinem ›Faust‹. Geben Sie mir doch einmal das Buch. Von seiner sechsten Vorlesung, über den Chor, habe ich soviel wie gar nichts verstanden. Was sagen Sie z.B. zu diesem, welches nahe am Ende steht:

›Diese Wirklichkeit (nämlich des Volkslebens) ist als die wahre Bedeutung derselben deshalb auch allein nur ihre wahrhafte Wirklichkeit, die zugleich als sich selber die Wahrheit und Gewißheit, darum die allgemein[68] geistige Gewißheit ausmacht, welche Gewißheit zugleich die versöhnende Gewißheit des Chors ist, so daß allein in dieser Gewißheit, die sich als das Resultat der gesammten Bewegung der tragischen Handlung erwiesen, der Chor erst wahrhaft dem allgemeinen Volksbewußtsein gemäß sich verhält und als solcher nicht bloß das Volk mehr vorstellt, sondern selbst an und für sich dasselbe seiner Gewißheit nach ist.‹

Ich dächte, wir hätten genug! Was sollen erst die Engländer und Franzosen von der Sprache unserer Philosophen denken, wenn wir Deutschen sie selber nicht verstehen.«

»Und trotz alledem,« sagte ich, »sind wir darüber einig, daß dem Buche ein edles Wollen zu Grunde liege, und daß es die Eigenschaft habe, Gedanken zu erregen.«

»Seine Idee von Familie und Staat,« sagte Goethe, »und daraus hervorgehen könnenden tragischen Conflicten ist allerdings gut und fruchtbar, doch kann ich nicht zugeben, daß sie für die tragische Kunst die beste oder gar die einzig richtige sei.

Freilich leben wir alle in Familien und im Staat, und es trifft uns nicht leicht ein tragisches Schicksal, das uns nicht als Glieder von beiden träfe. Doch können wir auch ganz gut tragische Personen sein, und wären wir bloße Familien- oder wären wir bloße Staatsglieder. Denn es kommt im Grunde bloß auf[69] den Conflict an, der keine Auflösung zuläßt, und dieser kann entstehen aus dem Widerspruche welcher Verhältnisse er wolle, wenn er nur einen echten Naturgrund hinter sich hat und nur ein echt tragischer ist. So geht der Ajas zu Grunde an dem Dämon verletzten Ehrgefühls, und der Herkules an dem Dämon liebender Eifersucht. In beiden Fällen ist nicht der geringste Conflict von Familienpietät und Staatstugend vorhanden, welches doch nach Hinrichs die Elemente der griechischen Tragödie sein sollen.«

»Man sieht deutlich,« sagte ich, »daß er bei dieser Theorie blos die Antigone im Sinne hatte. Auch scheint er bloß den Character und die Handlungsweise dieser Heldin vor Augen gehabt zu haben, als er die Behauptung hinstellte, daß die Familienpietät am reinsten im Weibe erscheine und am allerreinsten in der Schwester, und daß die Schwester nur den Bruder ganz rein und geschlechtslos lieben könne.«

»Ich dächte,« erwiederte Goethe, »daß die Liebe von Schwester zur Schwester noch reiner und geschlechtloser wäre! Wir müßten denn nicht wissen, daß unzählige Fälle vorgekommen sind, wo zwischen Schwester und Bruder, bekannter- und unbekannterweise, die sinnlichste Neigung stattgefunden.

Überhaupt,« fuhr Goethe fort, »werden Sie bemerkt haben, daß Hinrichs bei Betrachtung der griechischen Tragödie ganz von der Idee ausgeht, und daß er sich auch den Sophokles als einen solchen denkt,[70] der bei Erfindung und Anordnung seiner Stücke gleichfalls von einer Idee ausging und danach seine Charactere und deren Geschlecht und Stand bestimmte. Sophokles ging aber bei seinen Stücken keineswegs von einer Idee aus, vielmehr ergriff er irgend eine längst fertige Sage seines Volks, worin bereits eine gute Idee vorhanden, und dachte nur darauf, diese für das Theater so gut und wirksam als möglich darzustellen. Den Ajas wollen die Atreiden auch nicht beerdigen lassen, aber so wie in der ›Antigone‹ die Schwester für den Bruder strebt, so strebt im ›Ajas‹ der Bruder für den Bruder. Daß sich des unbeerdigten Polyneikes die Schwester und des gefallenen Ajas der Bruder annimmt, ist zufällig und gehört nicht der Erfindung des Dichters, sondern der Überlieferung, welcher der Dichter folgte und folgen mußte.«

»Auch was er über die Handlungsweise des Kreon sagt,« versetzte ich, »scheint ebenso wenig Stich zu halten. Er sucht durchzuführen, daß dieser bei dem Verbot der Beerdigung des Polyneikes aus reiner Staatstugend handle, und da nun Kreon nicht blos ein Mann, sondern auch ein Fürst ist, so stellt er den Satz auf, daß da der Mann die tragische Macht des Staates vorstelle, dieses kein anderer sein könne als derjenige, welcher die Persönlichkeit des Staates selber sei, nämlich der Fürst, und daß von allen Personen der Mann als Fürst diejenige Person sei, welche die sittlichste Staatstugend übe.«

[71] »Das sind Behauptungen,« erwiederte Goethe mit einigem Lächeln, »an die wohl niemand glauben wird. Kreon handelt auch keineswegs aus Staatstugend, sondern aus Haß gegen den Todten. Wenn Polyneikes sein väterliches Erbtheil, woraus man ihn gewaltsam vertrieben, wieder zu erobern suchte, so lag darin keineswegs ein so unerhörtes Vergehen gegen den Staat, daß sein Tod nicht genug gewesen wäre und daß es noch der Bestrafung des unschuldigen Leichnams bedurft hätte.

Man sollte überhaupt nie eine Handlungsweise eine Staatstugend nennen, die gegen die Tugend im allgemeinen geht. Wenn Kreon den Polyneikes zu beerdigen verbietet und durch den verwesenden Leichnam nicht bloß die Luft verpestet, sondern auch Ursache ist, daß Hunde und Raubvögel die abgerissenen Stücke des Todten umherschleppen und damit sogar die Altäre besudeln, so ist eine solche Menschen und Götter beleidigende Handlungsweise keineswegs eine Staatstugend, sondern vielmehr ein Staatsverbrechen. Auch hat er das ganze Stück gegen sich: er hat die Ältesten des Staats, welche den Chor bilden, gegen sich; er hat das Volk im allgemeinen gegen sich; er hat den Teiresias gegen sich; er hat seine eigene Familie gegen sich. Er aber hört nicht, sondern frevelt eigensinnig fort, bis er alle die Seinigen zu Grunde gerichtet hat und er selber am Ende nur noch ein Schatten ist.«

[72] »Und doch,« sagte ich, »wenn man ihn reden hört, so sollte man glauben, daß er einiges Recht habe.«

»Das ist's eben,« erwiederte Goethe, »worin Sophokles ein Meister ist, und worin überhaupt das Leben des Dramatischen besteht. Seine Charactere besitzen aus eine solche Redegabe und wissen die Motive ihrer Handlungsweise so überzeugend darzulegen, daß der Zuhörer fast immer auf der Seite dessen ist, der zuletzt gesprochen hat.

Man sieht, er hat in seiner Jugend eine sehr tüchtige rhetorische Bildung genossen, wodurch er denn geübt worden, alle in einer Sache liegenden Gründe und Scheingründe aufzusuchen. Doch verleitete ihn diese seine große Fähigkeit auch zu Fehlern, indem er mitunter in den Fall kam, zu weit zu gehen.

So kommt in der ›Antigone‹ eine Stelle vor, die mir immer als ein Flecken erscheint, und worum ich vieles geben möchte, wenn ein tüchtiger Philologe uns bewiese, sie wäre eingeschoben und unecht.

Nachdem nämlich die Heldin im Laufe des Stückes die herrlichsten Gründe für ihre Handlung ausgesprochen und den Edelmuth der reinsten Seele entwickelt hat, bringt sie zuletzt, als sie zum Tode geht, ein Motiv vor, das ganz schlecht ist und fast ans Komische streift.

Sie sagt, daß sie das, was sie für ihren Bruder gethan, wenn sie Mutter gewesen wäre, nicht für ihre[73] gestorbenen Kinder und nicht für ihren gestorbenen Gatten gethan haben würde; denn, sagte sie, wäre mir ein Gatte gestorben, so hätte ich einen andern genommen, und wären mir Kinder gestorben, so hätte ich mir von dem neuen Gatten andere Kinder zeugen lassen. Allein mit meinem Bruder ist es ein anderes: einen Bruder kann ich nicht wiederbekommen; denn da mein Vater und meine Mutter todt sind, so ist niemand da, der ihn zeugen könnte.

Dies ist wenigstens der nackte Sinn dieser Stelle, die nach meinem Gefühl in dem Munde einer zum Tode gehenden Heldin die tragische Stimmung stört, und die mir überhaupt sehr gesucht und gar zu sehr als ein dialektisches Calcul erscheint. Wie gesagt, ich möchte sehr gern, daß ein guter Philologe uns bewiese, die Stelle sei unecht.«

Wir sprachen darauf über Sophokles weiter, und daß er bei seinen Stücken weniger eine sittliche Tendenz vor Augen gehabt, als eine tüchtige Behandlung seines jedesmaligen Gegenstandes, besonders mit Rücksicht auf theatralische Wirkung.

»Ich habe nichts dawider,« sagte Goethe, »daß ein dramatischer Dichter eine sittliche Wirkung vor Augen habe, allein wenn es sich darum handelt, seinen Gegenstand klar und wirksam vor den Augen des Zuschauers vorüberzuführen, so können ihm dabei seine sittlichen Endzwecke wenig helfen, und er muß vielmehr ein großes Vermögen der Darstellung und Kenntniß der Bretter[74] besitzen, um zu wissen, was zu thun und zu lassen. Liegt im Gegenstande ein sittliche Wirkung, so wird sie auch hervorgehen, und hätte der Dichter weiter nichts im Auge als seines Gegenstandes wirksame und kunstgemäße Behandlung. Hat ein Poet den hohen Gehalt der Seele wie Sophokles, so wird seine Wirkung immer sittlich sein, er mag sich stellen wie er wolle. Übrigens kannte er die Bretter und verstand sein Metier wie einer.«

»Wie sehr er das Theater kannte,« versetzte ich, »und wie sehr er eine theatralische Wirkung im Auge hatte, sieht man an seinem ›Philoktet‹ und der großen Ähnlichkeit, die dieses Stück in der Anordnung und dem Gange der Handlung mit dem ›Ödip in Kolonos‹ hat.

In beiden Stücken sehen wir den Helden in einem hilflosen Zustande, beide alt und an körperlichen Gebrechen leidend. Der Ödip hat als Stütze die führende Tochter zur Seite, der Philoktet den Bogen. Nun geht die Ähnlichkeit weiter. Beide hat man in ihrem Leiden verstoßen, aber nachdem das Orakel über beide ausgesagt, daß nur mit ihrer Hülfe der Sieg erlangt werden könne, so sucht man beider wieder habhaft zu werden. Zum Philoktet kommt der Odysseus, zum Ödip der Kreon. Beide beginnen ihre Reden mit List und süßen Worten, als aber diese nichts fruchten, so brauchen sie Gewalt, und wir sehen den Philoktet des Bogens und den Ödip der Tochter beraubt.«

[75] »Solche Gewaltthätigkeiten,« sagte Goethe, »gaben Anlaß zu trefflichen Wechselreden, und solche hilflose Zustände erregten die Gemüther des hörenden und schauenden Volkes, weshalb denn solche Situationen vom Dichter, dem es um Wirkung auf sein Publicum zu thun war, gern herbeigeführt wurden. Um diese Wirkung beim Ödip zu verstärken, läßt ihn Sophokles als schwachen Greis auftreten, da er doch allen Umständen nach noch ein Mann in seiner besten Blüthe sein mußte. Aber in so rüstigem Alter konnte ihn der Dichter in diesem Stück nicht gebrauchen; er hätte keine Wirkung gethan, und er machte ihn daher zu einem schwachen hilfsbedürftigen Greise.«

»Die Ähnlichkeit mit dem Philoktet,« fuhr ich fort, »geht weiter. Beide Helden des Stückes sind nicht handelnd, sondern duldend. Dagegen hat jeder dieser passiven Helden der handelnden Figuren zwei gegen sich: der Ödip den Kreon und Polyneikes, der Philoktet den Neoptolemos und Odyß. Und zwei solcher gegenwirkenden Figuren waren nöthig, um den Gegenstand von allen Seiten zur Sprache zu bringen, und um auch für das Stück selbst die gehörige Fülle und Körperlichkeit zu gewinnen.«

»Sie könnten noch hinzufügen,« nahm Goethe das Wort, »daß beide Stücke auch darin Ähnlichkeit haben, daß wir in beiden die höchst wirksame Situation eines freudigen Wechsels sehen, indem dem einen Helden in seiner Trostlosigkeit die geliebte Tochter, und dem[76] andern der nicht weniger geliebte Bogen zurückgegeben wird.«

»Auch sind die versöhnenden Ausgänge beider Stücke sich ähnlich, indem beide Helden aus ihren Leiden Erlösung erlangen: der Ödip, indem er selig entrückt wird, der Philoktet aber, indem wir durch Götterspruch seine Heilung vor Ilion durch den Äsculap voraussehen.«

»Wenn wir übrigens,« fuhr Goethe fort, »für unsere modernen Zwecke lernen wollen uns aus dem Theater zu benehmen, so wäre Molière der Mann, an den wir uns zu wenden hätten.

Kennen Sie seinen ›Malade imaginaire‹? Es ist darin eine Scene, die mir, so oft ich das Stück lese, immer als Symbol einer vollkommenen Bretterkenntniß erscheint. Ich meine die Scene, wo der eingebildete Kranke seine kleine Tochter Louison befragt, ob nicht in dem Zimmer ihrer ältern Schwester ein junger Mann gewesen.

Nun hätte ein anderer, der das Metier nicht so gut verstand wie Molière, die kleine Louison das Factum sogleich ganz einfach erzählen lassen, und es wäre gethan gewesen.

Was bringt aber Molière durch allerlei retardirende Motive in diese Examination für Leben und Wirkung, indem er die kleine Louison zuerst thun läßt als verstehe sie ihren Vater nicht; dann leugnet, daß sie etwas wisse; dann, von der Ruthe bedroht, wie[77] todt hinfällt; dann, als der Vater in Verzweiflung ausbricht, aus ihrer fingirten Ohnmacht wieder schelmisch-heiter aufspringt, und zuletzt nach und nach alles gesteht.

Diese meine Andeutung giebt Ihnen von dem Leben jenes Auftritts nur den allermagersten Begriff; aber lesen Sie die Scene selbst und durchdringen Sie sich von ihrem theatralischen Werthe, und Sie werden gestehen, daß darin mehr praktische Lehre enthalten als in sämmtlichen Theorien.

Ich kenne und liebe Molière,« fuhr Goethe fort, »seit meiner Jugend und habe während meines ganzen Lebens von ihm gelernt. Ich unterlasse nicht, jährlich von ihm einige Stücke zu lesen, um mich immer im Verkehr des Vortrefflichen zu erhalten. Es ist nicht bloß das vollendete künstlerische Verfahren, was mich an ihm entzückt, sondern vorzüglich auch das liebenswürdige Naturell, das hochgebildete Innere des Dichters. Es ist in ihm eine Grazie und ein Tact für das Schickliche und ein Ton des feinen Umgangs, wie es seine angeborene schöne Natur nur im täglichen Verkehr mit den vorzüglichsten Menschen seines Jahrhunderts erreichen konnte. Von Menander kenne ich nur die wenigen Bruchstücke, aber diese geben mir von ihm gleichfalls eine so hohe Idee, daß ich diesen großen Griechen für den einzigen Menschen halte, der mit Molière wäre zu vergleichen gewesen.«

»Ich bin glücklich,« erwiederte ich, »Sie so gut[78] über Molière reden zu hören. Das klingt freilich ein wenig anders als Herr von Schlegel! Ich habe noch in diesen Tagen in seinen ›Vorlesungen über dramatische Poesie‹ mit großem Widerwillen verschluckt was er über Molière sagt. Er behandelt ihn, wie Sie wissen, ganz von oben herab, als einen gemeinen Possenreißer, der die gute Gesellschaft nur aus der Ferne gesehen und dessen Gewerbe es gewesen zur Ergötzung seines Herrn allerlei Schwänke zu erfinden. In solchen niedrig-lustigen Schwänken sei er noch am glücklichsten gewesen, doch habe er das Beste gestohlen. Zu der höhern Gattung des Lustspiels habe er sich zwingen müssen, und es sei ihm nie damit gelungen.«

»Einem Menschen wie Schlegel,« erwiederte Goethe, »ist freilich eine so tüchtige Natur wie Molière ein wahrer Dorn im Auge: er fühlt, daß er von ihm keine Ader hat, er kann ihn nicht ausstehen. Der ›Misanthrop‹, den ich, als eins meiner liebsten Stücke in der Welt, immer wieder lese, ist ihm zuwider; den ›Tartufe‹ lobt er gezwungenerweise ein bischen, aber er setzt ihn sogleich wieder herab, so viel er nur kann. Daß Molière die Affectationen gelehrter Frauen lächerlich macht, kann Schlegel ihm nicht verzeihen; er fühlt wahrscheinlich, wie einer meiner Freunde bemerkte, daß er ihn selbst lächerlich gemacht haben würde, wenn er mit ihm gelebt hätte.

Es ist nicht zu leugnen,« fuhr Goethe fort, »Schlegel weiß unendlich viel, und man erschrickt fast[79] über seine außerordentlichen Kenntnisse und seine große Belesenheit, allein damit ist es nicht gethan. Alle Gelehrsamkeit ist noch kein Urtheil. Seine Kritik ist durchaus einseitig, indem er fast bei allen Theaterstücken bloß das Skelett der Fabel und Anordnung vor Augen hat und immer nur kleine Ähnlichkeiten mit großen Vorgängern nachweist, ohne sich im mindesten darum zu bekümmern, was der Autor uns von anmuthigem Leben und Bildung einer hohen Seele entgegenbringt. Was helfen aber alle Künste des Talents, wenn aus einem Theaterstücke uns nicht eine liebenswürdige oder große Persönlichkeit des Autors entgegenkommt, dieses Einzige, was in die Cultur des Volkes übergeht!

In der Art und Weise wie Schlegel das französische Theater behandelt, finde ich das Recept zu einem schlechten Recensenten, dem jedes Organ für die Verehrung des Vortrefflichen mangelt, und der über eine tüchtige Natur und einen großen Character hingeht als wäre es Spreu und Stoppel.«

»Den Shakespeare und Calderon dagegen,« versetzte ich, »behandelt er gerecht und sogar mit entschiedener Neigung.«

»Beide,« erwiederte Goethe, »sind freilich der Art, daß man über sie nicht Gutes genug sagen kann, wiewohl ich mich auch nicht wundern würde, wenn Schlegel sie gleichfalls ganz schmählich herabgesetzt hätte. So ist er auch gegen Äschylus und Sophokles gerecht,[80] allein dies scheint nicht sowohl zu geschehen weil er von ihrem ganz außerordentlichen Werthe lebendig durchdrungen wäre, als weil es bei den Philologen herkömmlich ist, beide sehr hoch zu stellen; denn im Grunde reicht doch Schlegels eigenes Persönchen nicht hin, so hohe Naturen zu begreifen und gehörig zu schätzen. Wäre dies, so müßte er auch gegen Euripides gerecht sein und auch gegen diesen ganz anders zu Werke gehen als er gethan. Von diesem weiß er aber, daß die Philologen ihn nicht eben sonderlich hoch halten, und er Verspürt daher kein geringes Behagen, daß es ihm, auf so große Autorität hin, vergönnt ist, über diesen großen Alten ganz schändlich herzufallen und ihn zu schulmeistern wie er kann.

Ich habe nichts dawider, daß Euripides seine Fehler habe; allein er war von Sophokles und Ächylus doch immerhin ein sehr ehrenwerther Mitstreiter. Wenn er nicht den hohen Ernst und die strenge Kunstvollendung seiner beiden Vorgänger besaß und dagegen als Theaterdichter die Dinge ein wenig läßlicher und menschlicher tractirte, so kannte er wahrscheinlich seine Athenienser hinreichend, um zu wissen, daß der von ihm angestimmte Ton für seine Zeitgenossen eben der rechte sei. Ein Dichter aber, den Sokrates seinen Freund nannte, den Aristoteles hochstellte, den Menander bewunderte und um den Sophokles und die Stadt Athen bei der Nachricht von seinem Tode Trauerkleider anlegte, mußte doch wohl in der That etwas sein. Wenn[81] ein moderner Mensch wie Schlegel an einem so großen Alten Fehler zu rügen hätte, so sollte es billig nicht anders geschehen als auf den Knien.«[82]


1087.*


1827, 1. April.


Mit Johann Peter Eckermann

Abends bei Goethe. Ich sprach mit ihm über die gestrige Vorstellung seiner ›Iphigenie‹, worin Herr Krüger vom königlichen Theater zu Berlin den Orest spielte und zwar zu großem Beifall.

»Das Stück,« sagte Goethe, »hat seine Schwierigkeiten. Es ist reich an innerm Leben, aber arm an äußerm. Daß aber das innere Leben hervorgekehrt werde, darin liegt's. Es ist voll der wirksamsten Mittel, die aus den mannigfaltigsten Greueln hervorwachsen, die dem Stücke zu Grunde liegen. Das gedruckte Wort ist freilich nur ein matter Widerschein von dem Leben, das in mir bei der Erfindung rege war. Aber der Schauspieler muß uns zu dieser ersten Gluth, die den Dichter seinem Sujet gegenüber beseelte, wieder zurückbringen. Wir wollen von der Meerluft frisch angewehte, kraftvolle Griechen und Helden sehen, die, von mannigfaltigen Übeln und Gefahren geängstigt und bedrängt, stark herausreden, was ihnen das Herz im Busen gebietet, aber wir wollen keine schwächlich empfindenden Schauspieler, die ihre Rollen nur so[82] obenhin auswendig gelernt haben, am wenigsten aber solche, die ihre Rollen nicht einmal können.

Ich muß gestehen, es hat mir noch nie gelingen wollen, eine vollendete Aufführung meiner ›Iphigenie‹ zu erleben. Das war auch die Ursache, warum ich gestern nicht hineinging. Denn ich leide entsetzlich, wenn ich mich mit diesen Gespenstern herumschlagen muß, die nicht so zur Erscheinung kommen wie sie sollten.«

»Mit dem Orest, wie Herr Krüger ihn gab,« sagte ich, »würden Sie wahrscheinlich zufrieden gewesen sein. Sein Spiel hatte eine Deutlichkeit, daß nichts begreiflicher, nichts faßlicher war als seine Rolle. Es drang sich alles ein, und ich werde seine Bewegungen und Worte nicht vergessen.

Dasjenige, was in dieser Rolle der exaltirten Anschauung, der Vision gehört, trat durch seine körperlichen Bewegungen und den veränderten abwechselnden Ton seiner Stimme so aus seinem Innern heraus, daß man es mit leiblichen Augen zu sehen glaubte. Beim Anblick dieses Orest hätte Schiller die Furien sicher nicht vermißt; sie waren hinter ihm her, sie waren um ihn herum.

Die bedeutende Stelle, wo Orest, aus seiner Ermattung erwachend, sich in die Unterwelt versetzt glaubt, gelang zu hohem Erstaunen. Man sah die Reihen der Ahnherren in Gesprächen wandeln, man sah Orest sich ihnen gesellen, sie befragen und sich an sie an[83] schließen. Man fühlte sich selbst versetzt und in die Mitte dieser Seligen mit aufgenommen: so rein und tief war die Empfindung des Künstlers und so groß sein Vermögen, das Unfaßlichste uns vor die Augen zu bringen.«

»Ihr seid doch noch Leute, auf die sich wirken läßt!« erwiederte Goethe lachend. »Aber fahren Sie fort und sagen Sie weiter. Er scheint also wirklich gut gewesen zu sein und seine körperlichen Mittel von Bedeutung?«

»Sein Organ,« sagte ich, »war rein und wohltönend, auch viel geübt und dadurch der höchsten Biegsamkeit und Mannigfaltigkeit fähig. Physische Kraft und körperliche Gewandtheit standen ihm sodann bei Ausführung aller Schwierigkeiten zur Seite; es schien, daß er es sein Leben lang an der mannigfaltigsten körperlichen Ausbildung und Übung nicht hatte fehlen lassen.«

»Ein Schauspieler,« sagte Goethe, »sollte eigentlich auch bei einem Bildhauer und Maler in die Lehre gehen. So ist ihm, um einen griechischen Helden darzustellen, durchaus nöthig, daß er die auf uns gekommenen antiken Bildwerke wohl studirt und sich die ungesuchte Grazie ihres Sitzens, Stehens und Gehens wohl eingeprägt habe.

Auch ist es mit dem Körperlichen noch nicht gethan. Er muß auch durch ein fleißiges Studium der besten alten und neuen Schriftsteller seinem Geiste eine[84] große Ausbildung geben, welches ihm denn nicht blos zum Verständniß seiner Rolle zu gute kommen, sondern auch seinem ganzen Wesen und seiner Haltung einen höhern Anstrich geben wird. Doch erzählen Sie weiter! Was war denn noch sonst Gutes an ihm zu bemerken?«

»Es schien mir,« sagte ich, »als habe ihm eine große Liebe für seinen Gegenstand beigewohnt. Er hatte durch ein emsiges Studium sich alles einzeln klar gemacht, sodaß er in seinem Helden mit großer Freiheit lebte und webte, und nichts übrig blieb, was nicht durchaus wäre das Seinige geworden. Hieraus entstand denn ein richtiger Ausdruck und eine richtige Betonung jedes einzelnen Wortes, und eine solche Sicherheit, daß für ihn der Souffleur eine ganz überflüssige Person war.«

»Das freut mich,« sagte Goethe, »und so ist es recht. Nichts ist schrecklicher, als wenn die Schauspieler nicht Herr ihrer Rolle sind und bei jedem neuen Satze nach dem Souffleur horchen müssen, wodurch ihr Spiel sogleich null ist und sogleich ohne alle Kraft und Leben. Wenn bei einem Stück wie meine ›Iphigenie‹ die Schauspieler in ihren Rollen nicht durchaus fest sind, so ist es besser, die Aufführung zu unterlassen. Denn das Stück kann blos Erfolg haben, wenn alles sicher, rasch und lebendig geht.

Nun, nun, es ist mir lieb, daß es mit Krügern so gut abgelaufen. Zelter hatte mir ihn empfohlen[85] und es wäre mir fatal gewesen, wenn es mit ihm nicht so gut gegangen wäre wie es ist. Ich werde ihm auch meinerseits einen kleinen Spaß machen und ihm ein hübsch eingebundenes Exemplar der ›Iphigenie‹ zum Andenken verehren mit einigen eingeschriebenen Versen in Bezug auf sein Spiel.«

Das Gespräch lenkte sich auf die ›Antigone‹ von Sophokles, auf die darin waltende hohe Sittlichkeit und endlich auf die Frage: wie das Sittliche in die Welt gekommen.

»Durch Gott selber,« erwiederte Goethe, »wie alles andere Gute. Es ist kein Product menschlicher Reflexion, sondern es ist angeschaffene und angeborene schöne Natur. Es ist mehr oder weniger den Menschen im allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemüthern. Diese haben durch große Thaten oder Lehren ihr göttliches Innere offenbart, welches sodann durch die Schönheit seiner Erscheinung die Liebe der Menschen ergriff und zur Verehrung und Nacheiferung gewaltig fortzog.

Der Werth des Sittlich-Schönen und Guten aber konnte durch Erfahrung und Weisheit zum Bewußt sein gelangen, indem das Schlechte sich in seinen Folgen als ein solches erwies, welches das Glück des Einzelnen wie des Ganzen zerstörte, dagegen das Edle und Rechte als ein solches, welches das besondere und allgemeine Glück herbeiführte und befestigte. So konnte das Sittlich-Schöne zur Lehre werden und sich als[86] ein Ausgesprochenes über ganze Völkerschaften verbreiten.«

»Ich las neulich irgendwo die Meinung ausgesprochen,« versetzte ich, »die griechische Tragödie habe sich die Schönheit des Sittlichen zum besondern Gegenstande gemacht.«

»Nicht sowohl das Sittliche,« erwiederte Goethe, »als das Rein-Menschliche in seinem ganzen Umfange, besonders aber in den Richtungen, wo es, mit einer rohen Macht und Satzung in Conflict gerathend, tragischer Natur werden konnte. In dieser Region lag denn freilich auch das Sittliche, als ein Haupttheil der menschlichen Natur.

Das Sittliche der ›Antigone‹ ist übrigens nicht von Sophokles erfunden, sondern es lag im Sujet, welches aber Sophokles um so lieber wählen mochte, als es neben der sittlichen Schönheit so viel Dramatisch-Wirksames in sich hatte.«

Goethe sprach sodann über den Character des Kreon und der Ismene und über die Nothwendigkeit dieser beiden Figuren zur Entwickelung der schönen Seele der Heldin.

»Alles Edle,« sagte er, »ist an sich stiller Natur und scheint zu schlafen, bis es durch Widerspruch geweckt und herausgefordert wird. Ein solcher Widerspruch ist Kreon, welcher theils der Antigone wegen da ist, damit sich ihre edle Natur und das Recht, was aus ihrer Seite liegt, an ihm hervorkehre, theils aber[87] um sein selbst willen, damit sein unseliger Irrthum uns als ein Haffenswürdiges erscheine.

Da aber Sophokles uns das hohe Innere seiner Heldin auch vor der That zeigen wollte, so mußte noch ein anderer Widerspruch da sein, woran sich ihr Character entwickeln konnte, und das ist die Schwester Ismene. In dieser hat der Dichter uns nebenbei ein schönes Maß des Gewöhnlichen gegeben, woran uns die ein solches Maß weit übersteigende Höhe der Antigone desto auffallender sichtbar wird.«

Das Gespräch wendete sich auf dramatische, Schriftsteller im allgemeinen, und welche bedeutende Wirkung auf die große Masse des Volks von ihnen ausgehe und ausgehen könne.

»Ein großer dramatischer Dichter,« sagte Goethe, »wenn er zugleich productiv ist und ihm eine mächtige edle Gesinnung beiwohnt, die alle seine Werke durchdringt, kann erreichen, daß die Seele seiner Stücke zur Seele des Volks wird. Ich dächte, das wäre etwas, das wohl der Mühe werth wäre. Von Corneille ging eine Wirkung aus, die fähig war Heldenseelen zu bilden. Das war etwas für Napoleon, der ein Heldenvolk nöthig hatte; weshalb er denn von Corneille sagte, daß, wenn er noch lebte, er ihn zum Fürsten machen würde. Ein dramatischer Dichter, der seine Bestimmung kennt, soll daher unablässig an seiner höhern Entwickelung arbeiten, damit die Wirkung, die von ihm auf das Volk ausgeht, eine wohlthätige und edle sei.

[88] Man studire nicht die Mitgeborenen und Mitstrebenden, sondern große Menschen der Vorzeit, deren Werke seit Jahrhunderten gleichen Werth und gleiches Ansehen behalten haben. Ein wirklich hochbegabter Mensch wird das Bedürfniß dazu ohnedies in sich fühlen, und gerade dieses Bedürfniß des Umgangs mit großen Vorgängern ist das Zeichen einer höhern Anlage. Man studire Molière, man studire Shakespeare, aber vor allen Dingen die alten Griechen und immer die Griechen.«

»Für hochbegabte Naturen,« bemerkte ich, »mag das Studium der Schriften des Alterthums allerdings ganz unschätzbar sein; allein im allgemeinen scheint es auf den persönlichen Character wenig Einfluß auszuüben. Wenn das wäre, so müßten ja alle Philologen und Theologen die vortrefflichsten Menschen sein. Dies ist aber keineswegs der Fall, und es sind solche Kenner der griechischen und lateinischen Schriften des Alterthums eben tüchtige Leute oder auch arme Wichte, je nach den guten oder schlechten Eigenschaften, die Gott in ihre Natur gelegt oder die sie von Vater und Mutter mitbrachten.«

»Dagegen ist nichts zu erinnern,« erwiederte Goethe; »aber damit ist durchaus nicht gesagt, daß das Studium der Schriften des Alterthums für die Bildung eines Characters überall ohne Wirkung wäre. Ein Lump bleibt freilich ein Lump, und eine kleinliche Natur wird durch einen selbst täglichen Verkehr mit der Großheit[89] antiker Gesinnung um keinen Zoll größer werden. Allein ein edler Mensch, in dessen Seele Gott die Fähigkeit künstiger Charactergröße und Geisteshoheit gelegt, wird durch die Bekanntschaft und den vertraulichen Umgang mit den erhabenen Naturen griechischer und römischer Vorzeit sich auf das herrlichste entwickeln und mit jedem Tage zusehends zu ähnlicher Größe heranwachsen.«[90]


1088.*


1827, 11. April.


Mit Johann Peter Eckermann u.a.

Ich ging diesen Mittag um 1 Uhr zu Goethe, der mich vor Tische zu einer Spazierfahrt hatte einladen lassen. Wir fuhren die Straße nach Erfurt. Das Wetter war sehr schön, die Kornfelder zu beiden Seiten des Wegs erquickten das Auge mit dem lebhaftesten Grün; Goethe schien in seinen Empfindungen heiter und jung wie der beginnende Lenz, in seinen Worten aber alt an Weisheit.

»Ich sage immer und wiederhole es,« begann er, »die Welt könnte nicht bestehen, wenn sie nicht so einfach wäre. Dieser elende Boden wird nun schon tausend Jahre bebaut, und seine Kräfte sind immer dieselbigen. Ein wenig Regen, ein wenig Sonne, und es wird jeden Frühling wieder grün, und so fort.« Ich fand auf diese Worte nichts zu erwiedern und[90] hinzuzusetzen. Goethe ließ seine Blicke über die grünenden Felder schweifen, sodann aber wieder zu mir gewendet, fuhr er über andere Dinge folgendermaßen fort:

»Ich habe in diesen Tagen eine wunderliche Lectüre gehabt, nämlich die ›Briefe Jacobi's und seiner Freunde‹. Dies ist ein höchst merkwürdiges Buch, und Sie müssen es lesen, nicht um etwas daraus zu lernen, sondern um in den Zustand damaliger Cultur und Literatur hineinzublicken, von dem man keinen Begriff hat. Man sieht lauter gewissermaßen bedeutende Menschen, aber keine Spur von gleicher Richtung und gemeinsamem Interesse, sondern jeder rund abgeschlossen für sich und seinen eigenen Weg gehend, ohne im geringsten an den Bestrebungen des andern theilzunehmen. Sie sind mir vorgekommen wie die Billardkugeln, die auf der grünen Decke blind durcheinander laufen, ohne voneinander zu wissen, und die, sobald sie sich berühren, nur desto weiter auseinanderfahren.«

Ich lachte über das treffende Gleichniß. Ich erkundigte mich nach den correspondirenden Personen, und Goethe nannte sie mir, indem er mir über jeden etwas Besonderes sagte.

»Jacobi war eigentlich ein geborener Diplomat, ein schöner Mann von schlankem Wuchs, seinen vornehmen Wesens, der als Gesandter ganz an seinem Platz gewesen wäre. Zum Poeten und Philosophen fehlte ihm etwas, um beides zu sein.

Sein Verhältniß zu mir war eigener Art. Er[91] hatte mich persönlich lieb, ohne an meinen Bestrebungen theilzunehmen oder sie wohl gar zu billigen. Es bedurfte daher der Freundschaft, um uns aneinanderzu halten. Dagegen war mein Verhältniß mit Schiller so einzig, weil wir das herrlichste Bindungsmittel in unsern gemeinsamen Bestrebungen fanden und es für uns keiner sogenannten besondern Freundschaft weiter bedurfte.«

Ich fragte nach Lessing, ob auch dieser in den Briefen vorkomme. »Nein,« sagte Goethe, »aber Herder und Wieland.

Herdern war es nicht wohl bei den Verbindungen; er stand zu hoch, als daß ihm das hohle Wesen auf die Länge nicht hätte lästig werden sollen, sowie auch Hamann diese Leute mit überlegenem Geiste behandelte.

Wieland, wie immer, erscheint auch in diesen Briefen durchaus heiter und wie zu Hause. An keiner andern Meinung hängend, war er gewandt genug, um in alles einzugehen. Er war einem Rohre ähnlich, das der Wind der Meinungen hin- und herbewegte, das aber aus seinem Wurzelchen immer fest blieb.

Mein persönliches Verhältniß zu Wieland war immer sehr gut, besonders in der frühern Zeit, wo er mir allein gehörte. Seine kleinen Erzählungen hat er auf meine Anregung geschrieben. Als aber Herder nach Weimar kam, wurde Wieland mir ungetreu; Herder nahm ihn mir weg, denn dieses Mannes persönliche Anziehungskraft war sehr groß.«

[92] Der Wagen wendete sich zum Rückwege. Wir sahen gegen Osten vielfaches Regengewölk, das sich ineinanderschob. »Diese Wolken,« sagte ich, »sind doch so weit gebildet, daß sie jeden Augenblick als Regen niederzugehen drohen. Wäre es möglich, daß sie sich wieder auflösten, wenn das Barometer stiege?« – »Ja,« sagte Goethe, »diese Wolken würden sogleich von oben herein verzehrt und aufgesponnen werden wie ein Rocken. So stark ist mein Glauben an das Barometer. Ja, ich sage immer und behaupte: wäre in jener Nacht der großen Überschwemmung von Petersburg das Barometer gestiegen, die Welle hätte nicht herangekonnt.

Mein Sohn glaubt beim Wetter an den Einfluß des Mondes, und Sie glauben vielleicht auch daran, und ich verdenke es euch nicht; denn der Mond erscheint als ein zu bedeutendes Gestirn, als daß man ihm nicht eine entschiedene Einwirkung auf unsere Erde zuschreiben sollte, allein die Veränderung des Wetters, der höhere oder tiefere Stand des Barometers rührt nicht vom Mondwechsel her, sondern ist rein tellurisch.

Ich denke mir die Erde mit ihrem Dunstkreise gleichnißweise als ein großes lebendiges Wesen, das im ewigen Ein- und Ausathmen begriffen ist. Athmet die Erde ein, so zieht sie den Dunstkreis an sich, sodaß er in die Nähe ihrer Oberfläche herankommt und sich verdichtet bis zu Wolken und Regen. Diesen Zustand nenne ich die Wasserbejahung; dauerte er über alle Ordnung fort, so würde er die Erde ersäufen. Dies[93] aber giebt sie nicht zu, sie athmet wieder aus und entläßt die Wasserdünste nach oben, wo sie sich in den ganzen Raum der hohen Atmosphäre ausbreiten und sich dergestalt verdünnen, daß nicht allein die Sonne glänzend herdurchgeht, sondern auch sogar die ewige Finsterniß des unendlichen Raums als frisches Blau herdurchgesehen wird. Diesen Zustand der Atmosphäre nenne ich die Wasserverneinung. Denn wie bei dem entgegengesetzten nicht allein häufiges Wasser von oben kommt, sondern auch die Feuchtigkeit der Erde nicht verdunsten und abtrocknen will, so kommt dagegen bei diesem Zustande nicht allein keine Feuchtigkeit von oben, sondern auch die Nässe der Erde selbst verfliegt und geht aufwärts, sodaß bei einer Dauer über alle Ordnung hinaus die Erde auch ohne Sonnenschein zu vertrocknen und zu verdörren Gefahr liefe.«

So sprach Goethe über diesen wichtigen Gegenstand, und ich hörte ihm mit großer Aufmerksamkeit zu.

»Die Sache ist sehr einfach,« fuhr er fort, »und so am Einfachen, Durchgreifenden halte ich mich und gehe ihm nach, ohne mich durch einzelne Abweichungen irreleiten zu lassen. Hohes Barometer: Trockenheit, Ostwind; tiefes Barometer: Nässe, Westwind; dies ist das herrschende Gesetz, woran ich mich halte. Weht aber einmal bei hohem Barometer und Ostwind ein nasser Nebel her, oder haben wir blauen Himmel bei Westwind, so kümmert mich dieses nicht und macht meinen Glauben an das herrschende Gesetz nicht irre,[94] sondern ich sehe daraus blos, daß auch manches Mitwirkende existirt, dem man nicht sogleich beikommen kann.

Ich will Ihnen etwas sagen, woran Sie sich im Leben halten mögen. Es giebt in der Natur ein Zugängliches und Unzugängliches. Dieses unterscheide und bedenke man wohl und habe Respect. Es ist uns schon geholfen, wenn wir es überall nur wissen, wiewohl es immer sehr schwer bleibt, zu sehen wo das eine aufhört und das andere beginnt. Wer es nicht weiß, quält sich vielleicht lebenslänglich am Unzugänglichen ab, ohne je der Wahrheit nahe zu kommen. Wer es aber weiß und klug ist, wird sich am Zugänglichen halten, und indem er in dieser Region nach allen Seiten geht und sich befestigt, wird er sogar auf diesem Wege dem Unzugänglichen etwas abgewinnen können, wiewohl er hier doch zuletzt gestehen wird, daß manchen Dingen nur bis zu einem gewissen Grade beizukommen ist und die Natur immer etwas Problematisches hinter sich behalte, welches zu ergründen die menschlichen Fähigkeiten nicht hinreichen.«

Unter diesen Worten waren wir wieder in die Stadt hereingefahren. Das Gespräch lenkte sich auf unbedeutende Gegenstände, wobei jene hohen Ansichten noch eine Weile in meinem Innern fortleben konnten.

Wir waren zu früh zurückgekehrt, um sogleich an Tisch zu gehen, und Goethe zeigte mir vorher noch[95] eine Landschaft von Rubens, und zwar einen Sommerabend. Links im Vordergrunde sah man Feldarbeiter nach Hause gehen; in der Mitte des Bildes folgte eine Heerde Schafe ihrem Hirten dem Dorfe zu: rechts tiefer im Bilde stand ein Heuwagen, um welchen Arbeiter mit Aufladen beschäftigt waren, abgespannte Pferde grasten nebenbei; sodann abseits in Wiesen und Gebüsch zerstreut weideten mehrere Stuten mit ihren Fohlen, denen man ansah, daß sie auch in der Nacht draußen bleiben würden. Verschiedene Dörfer und eine Stadt schlossen den hellen Horizont des Bildes, worin man den Begriff von Thätigkeit und Ruhe auf das anmuthigste ausgedrückt fand.

Das Ganze schien mir mit solcher Wahrheit zusammenzuhängen und das Einzelne lag mir mit solcher Treue vor Augen, daß ich die Meinung äußerte: Rubens habe dieses Bild wohl ganz nach der Natur abgeschrieben.

»Keineswegs!« sagte Goethe, »ein so vollkommenes Bild ist niemals in der Natur gesehen worden, sondern wir verdanken diese Composition dem poetischen Geiste des Malers. Aber der große Rubens hatte ein so außerordentliches Gedächtniß, daß er die ganze Natur im Kopfe trug und sie ihm in ihren Einzelheiten immer zu Befehl war. Daher kommt diese Wahrheit des Ganzen und Einzelnen, sodaß wir glauben, alles sei eine reine Kopie nach der Natur. Jetzt wird eine solche Landschaft gar nicht mehr gemacht, diese Art zu empfinden[96] und die Natur zu sehen ist ganz verschwunden, es mangelt unsern Malern an Poesie.

Und dann sind unsere jungen Talente sich selber überlassen, es fehlen die lebendigen Meister, die sie in die Geheimnisse der Kunst einführen. Zwar ist auch von den Todten etwas zu lernen, allein dieses ist, wie es sich zeigt, mehr ein Absehen von Einzelheiten als ein Eindringen in eines Meisters tiefere Art zu denken und zu verfahren.«

Frau und Herr von Goethe traten herein, und wir setzten uns zu Tische. Die Gespräche wechselten über heitere Gegenstände des Tages: Theater, Bälle und Hof, flüchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder auf ernstere Dinge gerathen, und wir sahen uns in einem Gespräch über Religionslehren in England tief befangen.

»Ihr müßtet wie ich,« sagte Goethe, »seit funfzig Jahren die Kirchengeschichte studirt haben, um zu begreifen, wie das alles zusammenhängt. Dagegen ist es höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohammedaner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, daß dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weitern.

Ich will nicht untersuchen, was an dieser Lehre[97] Wahres oder Falsches, Nützliches oder Schädliches sein mag, aber im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen, auch ohne daß es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Muth und Heiterkeit behalten! Die Lehre des christlichen Glaubens: Kein Sperling fällt vom Dache ohne den Willen eures Vaters, ist aus derselbigen Quelle hervorgegangen und deutet auf eine Vorsehung, die das Kleinste im Auge behält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann.

Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre: daß nichts existire, wovon sich nicht das Gegentheil sagen lasse, und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß.

Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegentheil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das[98] Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet.

Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt, und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind, und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann.«

»Ich werde dadurch,« sagte ich, »an die Griechen erinnert, deren philosophische Erziehungsweise eine ähnliche gewesen sein muß, wie uns dieses ihre Tragödie beweist, deren Wesen im Verlauf der Handlung auch ganz und gar auf dem Widerspruch beruht, indem niemand der redenden Personen etwas behaupten kann, wovon der andere nicht ebenso klug das Gegentheil zu sagen wüßte.«

»Sie haben vollkommen recht,« sagte Goethe; »auch fehlt der Zweifel nicht, welcher im Zuschauer oder Leser erweckt wird, sowie wir denn am Schluß durch das Schicksal zur Gewißheit gelangen, welches sich an das Sittliche anschließt und dessen Partei führt.«

Wir standen von Tische auf, und Goethe nahm mich mit hinab in den Garten, um unsere Gespräche fortzusetzen.

»An Lessing,« sagte ich, »ist es merkwürdig, daß er in seinen theoretischen Schriften, z.B. im ›Laokoon‹, nie geradezu auf Resultate losgeht, sondern uns immer erst jenen philosophischen Weg durch Meinung, Gegenmeinung und Zweifel herumführt, ehe er uns endlich zu einer Art von Gewißheit gelangen läßt. Wir sehen mehr die Operation des Denkens und Findens, als[99] daß wir große Ansichten und große Wahrheiten erhielten, die unser eigenes Denken anzuregen und uns selbst productiv zu machen geeignet wären.«

»Sie haben wohl recht,« sagte Goethe. »Lessing soll selbst einmal geäußert haben, daß, wenn Gott ihm die Wahrheit geben wolle, er sich dieses Geschenk verbitten, vielmehr die Mühe vorziehen würde, sie selber zu suchen.

Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe geistiger Tugend man denn eigentlich stehe.

Lessing hält sich, seiner polemischen Natur nach, am liebsten in der Region der Widersprüche und Zweifel auf; das Unterscheiden ist seine Sache, und dabei kam ihm sein großer Verstand auf das herrlichste zustatten. Mich selbst werden Sie dagegen ganz anders finden: ich habe mich nie auf Widersprüche eingelassen, die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen gesucht, und nur die gefundenen Resultate habe ich ausgesprochen.«

Ich fragte Goethe, welchen der neuern Philosophen er für den vorzüglichsten halte.

»Kant,« sagte er, »ist der vorzüglichste, ohne allen Zweifel. Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fortwirkend erwiesen hat und die in unsere deutsche Cultur am tiefsten eingedrungen ist. Er hat auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn gelesen haben. Jetzt brauchen[100] Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben konnte, besitzen Sie schon. Wenn Sie einmal später etwas von ihm lesen wollen, so empfehle ich Ihnen seine ›Kritik der Urtheilskraft‹, worin er die Rhetorik vortrefflich, die Poesie leidlich, die bildende Kunst aber unzulänglich behandelt hat.«

»Haben Euer Excellenz je zu Kant ein persönliches Verhältniß gehabt?« fragte ich.

»Nein,« sagte Goethe. »Kant hat nie von mir Notiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen ähnlichen Weg ging als er. Meine ›Metamorphose der Pflanzen‹ habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung des Subjects vom Object, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existirt, und nicht etwa der Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können, dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen. Später schrieb ich die Lehre vom Versuch, welche als Kritik von Subject und Object und als Vermittelung von beiden anzusehen ist.

Schiller pflegte mir immer das Studium der Kant'schen Philosophie zu widerrathen. Er sagte gewöhnlich, Kant könne mir nichts geben. Er selbst studirte ihn dagegen eifrig, und ich habe ihn auch studirt und zwar nicht ohne Gewinn.«

Unter diesen Gesprächen gingen wir im Garten auf und ab. Die Wolken hatten sich indes verdichtet und[101] es fing an zu tröpfeln, sodaß wir genöthigt waren uns in das Haus zurückzuziehen, wo wir denn unsere Unterhaltungen noch eine Weile fortsetzten.[102]


1089.*


1827, 18. April.


Mit Johann Peter Eckermann u.a.

Mit Goethe vor Tische spazieren gefahren eine Strecke die Straße nach Erfurt hinaus. Es begegnete uns allerhand Frachtfuhrwerk mit Waaren für die Leipziger Messe. Auch einige Züge Koppelpferde, worunter sehr schöne Thiere.

»Ich muß über die Ästhetiker lachen,« sagte Goethe, »welche sich abquälen, dasjenige Unaussprechliche, wofür wir den Ausdruck schön gebrauchen, durch einige abstracte Worte in einen Begriff zu bringen. Das Schöne ist ein Urphänomen, das zwar nie selber zur Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes sichtbar wird und so mannigfaltig und so verschiedenartig ist als die Natur selber.«

»Ich habe oft aussprechen hören,« sagte ich, »die Natur sei immer schön; sie sei die Verzweiflung des Künstlers, indem er selten fähig sei, sie ganz zu erreichen.«

»Ich weiß wohl,« erwiederte Goethe, »daß die Natur oft einen unerreichbaren Zauber entfaltet; allein[102] ich bin keineswegs der Meinung, daß sie in allen ihren Äußerungen schön sei. Ihre Intensionen sind zwar immer gut, allein die Bedingungen sind es nicht, die dazu gehören, sie stets vollkommen zur Erscheinung gelangen zu lassen.

So ist die Eiche ein Baum, der sehr schön sein kann. Doch wie vielgünstige Umstände müssen zusammentreffen, ehe es der Natur einmal gelingt, ihn wahrhaft schön hervorzubringen! Wächst die Eiche im Dickicht des Waldes heran, von bedeutenden Nachbarstämmen umgeben, so wird ihre Tendenz immer nach oben gehen, immer nach freier Luft und Licht. Nach den Seiten hin wird sie nur wenige schwache Äste treiben, und auch diese werden im Laufe des Jahrhunderts wieder verkümmern und abfallen. Hat sie aber endlich erreicht, sich mit ihrem Gipfel oben im Freien zu fühlen, so wird sie sich beruhigen und nun anfangen sich nach den Seiten hin auszubreiten und eine Krone zu bilden. Allein sie ist auf dieser Stufe bereits über ihr mittleres Alter hinaus, ihr vieljähriger Trieb nach oben hat ihre frischesten Kräfte hingenommen, und ihr Bestreben, sich jetzt noch nach der Breite hin mächtig zu erweisen, wird nicht mehr den rechten Erfolg haben. Hoch, stark und schlankstämmig wird sie nach vollendetem Wuchse dastehen, doch ohne ein solches Verhältniß zwischen Stamm und Krone, um in der That schön zu sein.

Wächst hinwieder die Eiche an feuchten, sumpfigen[103] Orten und ist der Boden zu nahrhaft, so wird sie, bei gehörigem Raum, frühzeitig viele Äste und Zweige nach allen Seiten treiben; es werden jedoch die widerstrebenden, retardirenden Einwirkungen fehlen, das Knorrige, Eigensinnige, Zackige wird sich nicht entwickeln, und aus einiger Ferne gesehen wird der Baum ein schwaches, lindenartiges Ansehen gewinnen, und er wird nicht schön sein, wenigstens nicht als Eiche.

Wächst sie endlich an bergigen Abhängen, auf dürftigem, steinigtem Erdreich, so wird sie zwar im Übermaß zackig und knorrig erscheinen, allein es wird ihr an freier Entwickelung fehlen, sie wird in ihrem Wuchs frühzeitig kümmern und stocken, und sie wird nie erreichen, daß man von ihr sage: es walte in ihr etwas, das fähig sei uns in Erstaunen zu setzen.«

Ich freute mich dieser guten Worte. »Sehr schöne Eichen,« sagte ich, »habe ich gesehen, als ich vor einigen Jahren von Göttingen aus mitunter kleine Touren ins Weserthal machte. Besonders mächtig fand ich sie im Solling in der Gegend von Höxter.«

»Ein sandiger oder mit Sand gemischter Boden,« fuhr Goethe fort, »wo ihr nach allen Richtungen hin mächtige Wurzeln zu treiben vergönnt ist, scheint ihr am günstigsten zu sein. Und dann will sie einen Stand, der ihr gehörigen Raum gewährt, alle Einwirkungen von Licht und Sonne und Regen und Wind von allen Seiten her in sich aufzunehmen. Im behaglichen Schutz vor Wind und Wetter herangewachsen, wird aus ihr[104] nichts; aber ein hundertjähriger Kampf mit den Elementen macht sie stark und mächtig, sodaß nach vollendetem Wuchs ihre Gegenwart uns Erstaunen und Bewunderung einflößt.«

»Könnte man nicht aus diesen Ihren Andeutungen,« versetzte ich, »ein Resultat ziehen und sagen: ein Geschöpf sei dann schön, wenn es zu dem Gipfel seiner natürlichen Entwickelung gelangt sei?«

»Recht wohl,« erwiederte Goethe; »doch müßte man zuvor aussprechen, was man unter dem Gipfel der natürlichen Entwickelung wolle verstanden haben.«

»Ich würde damit,« erwiederte ich, »diejenige Periode des Wachsthums bezeichnen, wo der Character, der diesem oder jenem Geschöpf eigenthümlich ist, vollkommen ausgeprägt erscheint.«

»In diesem Sinne,« erwiederte Goethe, »wäre nichts dagegen einzuwenden, besonders wenn man noch hinzufügte, daß zu solchem vollkommen ausgeprägten Character zugleich gehöre, daß der Bau der verschiedenen Glieder eines Geschöpfes dessen Naturbestimmung angemessen und also zweckmäßig sei.

So wäre z.B. ein mannbares Mädchen, dessen Naturbestimmung ist, Kinder zu gebären und Kinder zu säugen, nicht schön ohne gehörige Breite des Beckens und ohne gehörige Fülle der Brüste. Doch wäre auch ein Zuviel nicht schön, denn das würde über das Zweckmäßige hinausgehen.

Warum konnten wir vorhin einige der Reitpferde,[105] die uns begegneten, schön nennen, als eben wegen der Zweckmäßigkeit ihres Baues? Es war nicht blos das Zierliche, Leichte, Graziöse ihrer Bewegungen, sondern noch etwas mehr, worüber ein guter Reiter und Pferdekenner reden müßte und wovon wir andern blos den allgemeinen Eindruck empfinden.«

»Könnte man nicht auch,« sagte ich, »einen Karrengaul schön nennen, wie uns vorhin einige sehr starke vor den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten?«

»Allerdings,« erwiederte Goethe; »und warum nicht? Ein Maler fände an dem stark ausgeprägten Character, an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und Muskeln eines solchen Thieres wahrscheinlich noch ein weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten als an dem mildern, egalern Character eines zierlichen Reitpferdes.

Die Hauptsache ist immer,« fuhr Goethe fort, »daß die Rasse rein und der Mensch nicht seine verstümmelnde Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und Mähne abgeschnitten, ein Hund mit gestutzten Ohren, ein Baum, dem man die mächtigsten Zweige genommen und das übrige kugelförmig geschnitzelt hat, und über alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch Schnürbrüste verdorben und entstellt worden, alles dieses sind Dinge, von denen sich der gute Geschmack abwendet und die blos in dem Schönheitskatechismus der Philister ihre Stelle haben.«

[106] Unter diesen und ähnlichen Gesprächen waren wir wieder zurückgekehrt. Wir machten vor Tische noch einige Gänge im Hausgarten. Das Wetter war sehr, schön; die Frühlingssonne fing an mächtig zu werden und an Büschen und Hecken schon allerlei Laub und Blüthen hervorzulocken. Goethe war voller Gedanken und Hoffnungen eines genußreichen Sommers.

Darauf bei Tische waren wir sehr heiter. Der junge Goethe hatte die ›Helena‹ seines Vaters gelesen und sprach darüber mit vieler Einsicht eines natürlichen Verstandes. Über den im antiken Sinne gedichteten Theil ließ er eine entschiedene Freude blicken, während ihm die opernartige romantische Hälfte, wie man merken konnte, beim Lesen nicht lebendig geworden.

»Du hast imgrunde recht, und es ist ein eigenes Ding,« sagte Goethe. »Man kann zwar nicht sagen, daß das Vernünftige immer schön sei; allein das Schöne ist doch immer vernünftig, oder wenigstens es sollte so sein. Der antike Theil gefällt dir aus dem Grunde, weil er faßlich ist, weil du die einzelnen Theile übersehen und du meiner Vernunft mit der deinigen beikommen kannst. In der zweiten Hälfte ist zwar auch allerlei Verstand und Vernunft gebraucht und verarbeitet worden, allein es ist schwer und erfordert einiges Studium, ehe man den Dingen beikommt und ehe man mit eigener Vernunft die Vernunft des Autors wieder herausfindet.«

[107] Goethe sprach darauf mit allerlei Lob und Anerkennung über die Gedichte der Madame Tastu, mit deren Lectüre er sich in diesen Tagen beschäftigt.

Als die übrigen gingen und ich mich auch anschickte zu gehen, bat er mich, noch einwenig zu bleiben. Er ließ ein Portefeuille mit Kupferstichen und Radirungen niederländischer Meister herbeibringen.

»Ich will Sie doch,« sagte er, »zum Nachtisch noch mit etwas Gutem tractiren.« Mit diesen Worten legte er mir ein Blatt vor, eine Landschaft von Rubens. »Sie haben,« sagte er, »dieses Bild zwar schon bei mir gesehen; allein man kann etwas Vortreffliches nicht oft genug betrachten, und diesmal handelt es sich noch dazu um etwas ganz Besonderes. Möchten Sie mir wohl sagen, was Sie sehen?«

»Nun,« sagte ich, »wenn ich von der Tiefe anfange, so haben wir im äußersten Hintergrunde einen sehr hellen Himmel, wie eben nach Sonnenuntergang. Dann gleichfalls in der äußersten Ferne ein Dorf und eine Stadt in der Helle des Abendlichtes. In der Mitte des Bildes sodann einen Weg, worauf eine Heerde Schafe dem Dorfe zueilt. Rechts im Bilde allerlei Heuhaufen und einen Wagen, der soeben vollgeladen worden. Angeschirrte Pferde grasen in der Nähe. Ferner, seitwärts in Gebüschen zerstreut, mehrere weidende Stuten mit ihren Fohlen, die das Ansehen haben als würden sie in der Nacht draußen bleiben. Sodann näher dem Vordergrunde zu eine Gruppe[108] großer Bäume und zuletzt, ganz im Vordergrunde links verschiedene nach Hause gehende Arbeiter.«

»Gut,« sagte Goethe, »das wäre wohl alles. Aber die Hauptsache fehlt noch. Alle diese Dinge, die wir dargestellt sehen; die Heerde Schafe, der Wagen mit Heu, die Pferde, die nach Hause gehenden Feldarbeiter, von welcher Seite sind sie beleuchtet?«

»Sie haben das Licht,« sagte ich, »auf der uns zugekehrten Seite und werfen die Schatten in das Bild hinein. Besonders die nach Hause gehenden Feldarbeiter im Vordergrunde sind sehr im Hellen, welches einen trefflichen Effect thut.«

»Wodurch hat aber Rubens diese schöne Wirkung hervorgebracht?«

»Dadurch,« antwortete ich, »daß er diese hellen Figuren auf einem dunkeln Grunde erscheinen läßt.«

»Aber dieser dunkle Grund,« erwiederte Goethe, »wodurch entsteht er?«

»Es ist der mächtige Schatten,« sagte ich, »den die Baumgruppe den Figuren entgegenwirft. – Aber wie,« fuhr ich mit Überraschung fort, »die Figuren werfen den Schatten in das Bild hinein, die Baumgruppe dagegen wirft den Schatten dem Beschauer entgegen! Da haben wir ja das Licht von zwei entgegengesetzten Seiten, welches aber ja gegen alle Natur ist!«

»Das ist eben der Punkt,« erwiederte Goethe mit einigem Lächeln. »Das ist es, wodurch Rubens sich groß erweist und an den Tag legt, daß er mit freiem[109] Geiste über der Natur steht und sie seinen höhern Zwecken gemäß tractirt. Das doppelte Licht ist allerdings gewaltsam, und Sie können immerhin sagen, es sei, gegen die Natur, allein wenn es gegen die Natur ist, so sage ich zugleich, es sei höher als die Natur, so sage ich, es sei der kühne Griff des Meisters, wodurch er auf geniale Weise an den Tag legt, daß die Kunst der natürlichen Nothwendigkeit nicht durchaus unterworfen ist, sondern ihre eigenen Gesetze hat.

Der Künstler,« fuhr Goethe fort, »muß freilich die Natur im einzelnen treu und fromm nachbilden, er darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen und Muskeln eines Thieres nicht willkürlich ändern, sodaß dadurch der eigenthümliche Character verletzt würde; denn das hieße die Natur vernichten, allein in den höhern Regionen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar zu Fictionen schreiten, wie Rubens in dieser Landschaft mit dem doppelten Lichte gethan.

Der Künstler hat zur Natur ein zwiefaches Verhältniß: er ist ihr Herr und ihr Sklave zugleich. Er ist ihr Sklave, insofern er mit irdischen Mitteln wirken muß, um verstanden zu werden, ihr Herr aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen höhern Intentionen unterwirft und ihnen dienstbar macht.

Der Künstler will zur Welt durch ein Ganzes sprechen; dieses Ganze aber findet er nicht in der Natur,[110] sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchtenden göttlichen Odems.

Betrachten wir diese Landschaft von Rubens nur so obenhin, so kommt uns alles so natürlich vor, als sei es nur geradezu von der Natur abgeschrieben. Es ist aber nicht so. Ein so schönes Bild ist nie in der Natur gesehen worden, ebenso wenig als eine Landschaft von Poussin oder Claude Lorrain, die uns auch sehr natürlich erscheint, die wir aber gleichfalls in der Wirklichkeit vergebens suchen.«

»Ließen sich nicht auch,« sagte ich, »ähnliche kühne Züge künstlerischer Fiction wie dieses doppelte Licht von Rubens in der Literatur finden?«

»Da brauchten wir nicht eben weit zu gehen,« erwiederte Goethe nach einigem Nachdenken. »Ich könnte sie Ihnen im Shakespeare zu Dutzenden nachweisen. Nehmen Sie nur den ›Macbeth‹. Als die Lady ihren Gemahl zur That begeistern will, sagt sie:


Ich habe Kinder aufgesäugt –


Ob dieses wahr ist oder nicht, kommt gar nicht darauf an, aber die Lady sagt es, und sie muß es sagen, um ihrer Rede dadurch Nachdruck zu geben. Im spätern Verlauf des Stückes aber, als Macduff die Nachricht von dem Untergange der Seinen erfährt, ruft er im wilden Grimme aus:


Er hat keine Kinder![111]


Diese Worte des Macduff kommen also mit denen der Lady in Widerspruch, aber das kümmert Shakespeare nicht. Ihm kommt es auf die Kraft der jedesmaligen Rede an, und so wie die Lady zum höchsten Nachdruck ihrer Worte sagen mußte: ›Ich habe Kinder aufgesäugt‹, so mußte auch zu ebendiesem Zwecke Macduff sagen: ›Er hat keine Kinder!‹

Überall,« fuhr Goethe fort, »sollen wir es mit dem Pinselstriche eines Malers oder dem Worte eines Dichters nicht so genau und kleinlich nehmen: vielmehr sollen wir ein Kunstwerk, das mit kühnem und freiem Geiste gemacht worden, auch womöglich mit ebensolchem Geiste wieder anschauen und genießen.

So wäre es thöricht, wenn man aus den Worten des Macbeth:


Gebier mir keine Töchter –


den Schluß ziehen wollte, die Lady sei ein ganz jugendliches Wesen, das noch nicht geboren habe. Und ebenso thöricht wäre es, wenn man weiter gehen und verlangen wollte, die Lady müsse auf der Bühne als eine solche sehr jugendliche Person dargestellt werden.

Shakespeare läßt den Macbeth diese Worte keineswegs sagen, um damit die Jugend der Lady zu beweisen, sondern diese Worte, wie die vorhin angeführten der Lady und des Macduff, sind bloß rhetorischer Zwecke wegen da und wollen weiter nichts beweisen, als daß der Dichter seine Personen jedesmal das reden läßt, was eben an dieser Stelle gehörig, wirksam und[112] gut ist, ohne sich viel und ängstlich zu bekümmern und zu calculiren, ob diese Worte vielleicht mit einer andern Stelle in scheinbaren Widerspruch gerathen möchten.

Überhaupt hat Shakespeare bei seinen Stücken schwerlich daran gedacht, daß sie als gedruckte Buchstaben vorliegen würden, die man überzählen und gegeneinander vergleichen und berechnen möchte; viel mehr hatte er die Bühne vor Augen, als er schrieb; er sah seine Stücke als ein Bewegliches, Lebendiges an, das von den Brettern herab den Augen und Ohren rasch vorüberfließen würde, das man nicht fest halten und im einzelnen bekritteln könnte, und wobei es bloß darauf ankam, immer nur im gegenwärtigen Moment wirksam und bedeutend zu sein.«[113]


1749.*


1827, 22. April.


Mit Jean Jacques Ampère


a.

Cher père, je suis à Weimar; j'ai vu Goethe, qui m'a reçu à bras ouverts. Tu sais qu'il s'était donné la peine de traduire mes deux premiers articles sur lui. Ayant perdu le manuscrit da second, il l'a retraduit encore une fois pour le prochain numéro de son journal.

[144] J'ai eu le plaisir de me lire en feuille à mon arrivée à Weimar. J'ai trouvé le grand homme très-bon, très-simple, très-bien portant et très-aimable; il m'a beaucoup parlé de mon père et m'a dit qu'on n'avait ici son appareil.

– – – – – – – – – – – – – –

Me voilà à Weimar, établi pour une quinzaine au moins. Goethe a beaucoup d'admiration pour le ›Globe‹, pour ›Clara Gazul‹, il m'a parlé avec reconnaissance des bontés distinguées que M. Cuvier a pour, lui et de la ›lettre charmante‹ que sa fille lui a écrite.


b.

Je suis arrivé ici à quatre heures de matin.

– – – – – – – – – – – – – – –

Mais il faut vous [Madame Recamier] dire un mot de Goethe, que j'ai déjà vu. C'est le plus simple et le phis aimable des hommes. Je m'attendais à quelque raideur, à des habitudes d'idole, qui seraient excusables: pas l'ombre de cela; il m'a parlé francais quoique je lui aie offert de parler allemand; j'espère qu'il laissera là cette politesse et que je l'entendrai dans sa langue. Il m'a entretenue des découvertes de mon père, qu'il connait très-bien; de M. Cousin, qu'il admire fort, et du ›Globe‹, qu'il goûte beaucoup, de la traduction d'Albert. Je me trouvais ainsi en pays de connaissance. Je n'ai pas découvert chez lui une nuance d'affectation ou de[145] prétention. Il a la physionomie triste et une expression sereine. A peine arrivé j'ai eu le temps de faire la conquête d'un homme qui me sera trèsprécieux, parcequ'il est une manière de confident de secrétaire de Goethe. Goethe a désiré que je logeasse là où loge ce monsieur; ainsi je me trouverai naturellement dans l'intimité du grand homme. Tout prend la tournure d'un séjour de deux ou trois semaines.[146]


1750.*


1827, vom 22. April bis 9. Mai.


Mit Jean Jacques Ampère


a.

Cher père, je suis ici très-agréablement; je vois souvent Goethe, j'ai dîné la semaine dernière trois fois chez lui en petit comité, faveur qu'il accorde très-rarement aux étrangers. J'ai pu pénétrer plus avant dans son âme, l'entendre parler plusieurs heures de suite, s'épancher avec une verve et une chaleur qui ont cinquante ans de moins que lui. Ce qu'il y a d'admirable, c'est qu'il est au courant de tout, s'intéresse à tout, est présent à tout; il raconte nos vaudevilles nouveaux comme s'il venait de les voir, sait par coeur les chansons de Béranger; il ne se fait rien en Allemagne sans qu'il y prenne part. Ses traits ressemblent beaucoup au portrait[146] qu'il a envoyé, à Mlle Cuvier, et que Mme de Goethe, sa belle-fille, m'a donné; mais il faut placer sur ses lèvres sévères, un peu dédaigneuses, le sourire de bonhomie qui y erre sans cesse, et dans ses yeux une flamme extraordinaire qui en jaillit par moments, pour avoir l'idée de Goethe quand il est lui-même, c'est-à-dire en famille. Avec du monde il est plus froid, mais sans raideur dans ses manières. Sa taille est droite comme un jonc; c'est véritablement une nature d'une force prodigieuse.

Je viens de lire ›Héléna‹, épisode de la Suite de ›Faust‹, qu'il a composé l'hiver passé, à soixante-dix-sept ans, et qui paraîtra dans quinze jours avec la première livraison de ses oeuvres complètes. C'est un ouvrage très – extraordinaire, on y trouve des passages d'une puissance d'une grâce incomparable.


b.

Goethe est un homme prodigieux; il est charmant pour moi. Il s'intéresse à tout, a des idées sur tout, de l'admiration pour tout ce qui en peu admettre; et avec sa robe de chambre bien blanche qui lui donne l'air d'un gros mouton blanc, entre son fils, sa belle-fille et ses deux petits enfants, qui jouent avec lui, parlant de Schiller, de leurs communs, de ce que celui-ci voulait faire, de ce qu'il aurait fait, de ses propres ouvrages, de ses intentions,[147] de ses souvenirs, il est le plus intéressant et le plus aimable des hommes. Il a une conscience naïve de sa gloire qui ne peut déplaire, parce qu'il est occupé des autres talents et véritablement sensible à tout ce qui se fait de bon en tous genres.

A genoux devant Molière et La Fontaine, il admire ›Athalie‹ et goûte ›Bérénice‹. A propos du Tasse il prétend avoir fait de grandes recherches et dit que l'hi stoire se rapproche beaucoup de la manière dont il a traité son sujet. Il soutient que la prison est une conte, ce qui vous fera plaisir; il croit à l'amour du Tasse et à celui de la princesse, mais toujours à distance, toujours romanesque, et sans ces plates et absurdes propositions d'épouser de M. Alex Duval.

J'ai lu en manuscrit un ouvrage très-extraordinaire de lui, qui va paraître; c'est une épisode ou plutôt un intermède destiné à trouver place dans la suite de ›Faust‹ qui n'est pas encore faite. C'est, comme il l'intitule lui même, une fantasmagorie à peu. près intraduisible; mais à travers beaucoup de bizarrerie et assez d'obscurité, pleine de profondeur, de poesie et de grâce. Depuis le siège de Troie jusqu'au siège de Missolonghi, la mythologie grecque, le moyen âge, le temps actuel, lord Byron, tout s'y trouve. C'est un rêve d'un grand sens, et cette conception, dans laquelle, bon ou mauvais, tout est créé, est sortie d'une tête presque octogénaire.[148]


1090.*


1827, 24. April.


Gesellschaft bei Goethe

August Wilhelm Schlegel ist hier. Goethe machte mit ihm vor Tische eine Spazierfahrt ums Webicht und gab ihm zu Ehren diesen Abend einen großen Thee, wobei auch Schlegel's Reisegefährte Herr Dr. Lassen gegenwärtig. Alles in Weimar, was irgend Namen und Rang hatte, war dazu eingeladen, sodaß das Getreibe in Goethes Zimmer groß war. Herr von Schlegel war ganz von Damen umringt, denen[113] er aufgerollte schmale Streifen mit indischen Götterbildern vorzeigte sowie den ganzen Text von zwei großen indischen Gedichten, von denen außer ihm selbst und Dr. Lassen wahrscheinlich niemand etwas verstand. Schlegel war höchst sauber angezogen und höchst jugendlichen, blühenden Ansehens, sodaß einige der Anwesenden behaupten wollten, er scheine nicht unerfahren in Anwendung kosmetischer Mittel.

Goethe zog mich [Eckermann] in ein Fenster. »Nun, wie gefällt er Ihnen?« – »Noch ganz so wie sonst,« erwiederte ich. – »Er ist freilich in vieler Hinsicht kein Mann,« fuhr Goethe fort, »aber doch kann man ihm seiner vielseitigen gelehrten Kenntnisse und seiner großen Verdienste wegen schon etwas zugute halten.«[114]


1091.*


1827, 25. April.


Mit Johann Peter Eckermann u.a.

Bei Goethe zu Tische mit Herrn Dr. Lassen. Schlegel war heute abermals an Hof zur Tafel gezogen. Herr Lassen entwickelte große Kenntnisse der indischen Poesie, die Goethen höchst willkommen zu sein schienen, um sein eigenes immerhin nur sehr lückenhaftes Wissen in diesen Dingen zu ergänzen.

Ich war abends wieder einige Augenblicke bei Goethe. Er erzählte mir, daß Schlegel in der Dämmerung[114] bei ihm gewesen, und daß er mit ihm ein höchst bedeutendes Gespräch über literarische und historische Gegenstände geführt, das für ihn sehr belehrend gewesen. »Nur muß man,« fügte er hinzu, »keine Trauben von den Dornen und keine Feigen von den Disteln verlangen; übrigens ist alles ganz vortrefflich.«[115]


1095.*


1827, 28. oder 29. April.1.


Mit Karl von Holtei u.a.

Während ich nun mit mir selbst capitulirte, wie ich mich bei Goethe einführen und wie ich am besten vermeiden könnte, eine gar zu alberne Figur zu machen, erinnerte ich mich plötzlich, daß ich ihm schon früher einige meiner versificirten Versuche zugesendet, und daß er mir durch unsern Wolff, sein ehemaliges theatralisches Schooskind, einige majestätisch-huldreiche Floskeln über das kleine Versspiel »Die Farben« hatte zustellen lassen. Er hatte, von meinen Arbeiten mit jenem redend, den bezeichnenden Ausdruck gebraucht: »Dieser[127] Mensch ist so eine Art von Improvisator auf dem Papiere; es scheint ihm sehr leicht zu werden, aber er sollte sich's nicht so leicht machen!« – Vielleicht, dacht' ich, giebt das den Anknüpfungspunkt für ein Gespräch; denn meine Angst, daß er nicht reden werde, (man hatte mir in Weimar zugeflüstert, er gäbe bisweilen, wenn er übler Laune sei, dergleichen stumme Audienzen!) war fürchterlich .....

Es schlug 11 Uhr, als ich [wie vorbeschieden] im Empfangzimmer stand, und ich blieb, nachdem der Diener mich hineingeschoben, einige Minuten mir selbst überlassen .....

»Nun, so ist es mir denn lieb, daß ich Sie auch einmal zu sehen bekomme!« Mit diesen Worten trat er ein und nahm, nachdem er mich zum Sitzen genöthigt, neben mir Platz. Verbindliche und möglichst schön gestellte Redensarten von meiner Seite schienen keinen Eindruck zu machen, wenigstens lockten sie keine Erwiederung hervor. Er führte den in Wohlgeruch gebadeten Zipfel seines weißen Tuches von Zeit zu Zeit an die Nase und ließ mich sprechen. Drei- oder viermal erneute ich den Angriff, immer prallt' ich wie von einer steinernen Mauer wieder ab. Je geistreicher ich zu sein mir Mühe gab, desto abgeschmackter mag ich ihm wohl geschienen haben; denn es dämmerte in mir selbst so etwas vom Bewußtsein eigener Gebrechlichkeit auf. Ein guter Geist gab mir die Erinnerung ein, daß ich in Paris den Duval'schen »Tasso«[128] spielen sehen; den macht' ich zu meinem Zauberstabe, – und, siehe da! der Fels gab Wasser. »Aus Paris kommen Sie? Und was machen uns're Freunde, die Globisten?« (Mitarbeiter an dem Journal Le Globe.) Auf diese Frage wußt' ich freilich verzweifelt wenig zu antworten, aber da sie andere Fragen erzeugte, in deren Beantwortung ich besser bestand, so kam doch bald einiges Leben in die einsame Stunde. Ich fühlte wieder Grund und Boden unter meinen Füßen. Je mehr ich mich gehen ließ, meinem natürlichen Wesen getreu, ohne weitere Ansprüche auf zarten Ausdruck, desto lebendiger wurde der alte Herr. Einige Male that er, als ob er lachen wollte, und als ich ihm erzählte, daß ein französischer Kritiker nach Aufführung des Duval'schen »Tasso« geschrieben hätte: M. Alexandre Duval, en estropiant le »Tasse« de Schiller, da lachte er wirklich. So wurde denn aus den zehn Minuten, die ich mir als längste Audienzfrist geträumt hatte, eine rasch genug durchplauderte Stunde. Als es zwölf Uhr schlug, erhob er sich und sprach: »Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, so muß der Berg zum Propheten kommen: da ich nicht mehr zu Hofe gehe, so erweisen die höchsten Herrschaften mir die Gnade; also will es sich ziemen, dieselben zu empfangen.« Dabei gab er mir ein Entlassungszeichen, welches ich, da ich nun erst in Zug gekommen war, wahrscheinlich mit sehr unzufriedener oder betrübter Miene aufnahm. Als ich schon an der Ausgangsthüre stand, rief er, als[129] ob er bemerkt hätte, wie schwer mir das Scheiden wurde, mich noch einmal zurück und sagte: »Wollen Sie mit uns speisen, so werden Sie um 2 Uhr willkommen sein.«

– – – – – – – – – – – – – – – –

Goethes Schwiegertochter Ottilie war unpäßlich; statt ihrer erschien deren Schwester Fräulein Ulrike v. Pogwisch bei Tafel. Außer August v. Goethe waren noch einpaar Herren zugegen – meines Bedünkens der Kanzler v. Müller und Professor Riemer. Der Alte sprach viel und trank nicht wenig. Die Unterhaltung war lebhaft, ungezwungen und ohne Prätension. Das Dessert stand noch nicht auf dem Tische, als ich mich schon vollkommen eingebürgert sah. Ich redete was mir in den Sinn kam, ohne Bedenken, ob es in Goethes Kram taugte oder nicht. Dies Verfahren beobachtete ich bei späterem Aufenthalte, wo ich häufig auch in größerer Gesellschaft dort speisete, unerschütterlich und kam damit am besten fort; denn ob ich mir gleich bisweilen – wie man sich auszudrücken pflegt – das Maul verbrannte, entging ich doch dem Vorwurf der Ziererei, den so viele in ähnlicher Lage auf sich geladen haben. – Gegen Ende der Tafel traten die Enkel Walther und Wolf, zwei muntere Knaben, ein und gaben, vom Großvater aufgefordert, allerlei Schwänke zum besten. Unter andern fangen sie auch einige Lieder aus meinen auf der Bühne gegebenen Stücken. Der Alte sagte dann, indem er ihnen[130] Näschereien reichte: »Nun, seht Euch einmal diesen Mann an! Das ist der, welcher das dumme Zeug gemacht hat.«


1 Nach Holtei's Erzählung in Verbindung mit Oppenheim's Brief im Goethe-Jahrbuch VI, 144 wäre der 4. Mai zu setzen; indessen stimmt dies nicht mit Ecker mann's wohl zuverlässigerer Angabe. Wiederum paßt jedoch Goethes Frage nach den »Globisten« nicht mit Ampère's damaliger Anwesenheit in Weimar. Vielleicht giebt einst Goethes Tagebuch, das zu benutzen mir versagt ist, zuverlässige Auskunft.[131]


1092.*


1827, Ende April oder Anfang Mai.


Mit Jean Jacques Ampère und Albert Stapfer

Nous sommes arrivés à Weimar à deux heures. Nous avions, en cette ville, deux visites intéressantes à faire. On ne peut passer par Weimar sans aller présenter l'hommage de son admiration au célèbre Goethe, le Nestor de la littérature allemande, et sans chercher à entendre le pianiste admirable Hummel. Ce dernier, pour lequel nous avions aussi une lettre de recommandation, était parti pour enchanter les oreilles autrichiennes, et nous espérons bien le retrouver à Vienne. Nous avons été d'autant plus contrariés de cette absence, que nous comptions beaucoup sur M. Hummel, auquel nous étions recommandés d'une manière pressante, pour nous introduire, nous et notre lettre, près de l'auteur de Werther, qu'on dit très-défiant. Cependant, M. Goethe voulut bien répondre au domestique que j'envoyai[115] chez lui pour savoir s'il consentait à nous recevoir, qu'il nous attendait à cinq heures. Sa maison est située derrière le parc du grand-duc. Un joli perron conduit à une vaste antichambre, d'où un large escalier, qui se divise après quelques marches, et aboutit d'abord à l'appartement de fille de M. Goethe et du mari de cette dame, vous laisse à la porte qui ouvre le logement de l'auteur de Werther. Sur le seuil de cette porte, une mosaïque fort bien travaillée présente d'abord aux visiteurs et aux amis le mot »Salve«; on traverse un cabinet garni d'un grand nombre de bustes et d'antiques, et, en suivant une assez longue galerie, on arrive dans la bibliotheque qui tient à la chambre à coucher du grand homme. Cette bibliothèque paraît lui servir de cabinet de travail; c'est là que nous avons été reçus avec une politesse germanique, c'est à dire peu démonstrative, mais qui ne manquait pas d'un certain air de cordialité et de bonté. M. Goethe a passé en revue un certain nombre de nos hommes de lettres les plus remarquables. Il nous a fait un grand éloge de l'ermite de la Chaussée-d'Antin [Jouy], »dont l'ermitage ne pouvait pas être une solitude, car il était connu et recherché de toute l'Europe.« En parlant de l'imitation française de quelques-uns de ses propres ouvrages, il nous a dit qu'il concevait peu comment M. Duval avait pu mettre au théâtre le drame du Tasse. Il nous a assuré qu'en écrivant[116] la pièce allemande, il ne l'avait pas destinée a la représentation, ne la jugeant pas susceptible d'un effet dramatique, et que c'était par la faveur particulière qu'on attachait en Allemagne à ses ouvrages, qu'on avait voulu représenter celui-ci. Beaucoup d'éloges pour Casimir Delavigne, pour Scribe; une approbation marquée pour le vaudeville intitulé »La mère au bal et la fille à la maison«, ont terminé cette séance. Goethe, qui paraît âgé de soixante ans (il en a soixante-treize), ne semble pas trop éloigné de l'idée de venir un jour visiter la France; il se tient au courant de toutes les nouveautés de ce pays par la lecture du »Globe«, journal qu'il parait affectionner. »On dit ce journal un peu lourd; c'est peut-être à cause de cela que nous l'aimons, nous autres Germains, qu'on n'accuse pas d'être lègers.« Il a semblé surtout partager les opinions du rédacteur des articles de musique dans cette feuille. Goethe parle français avec un peu de difficulté, mais cependant avec correction; on ne s'aperçoit de cette difficulté que par l'intervalle qu'il met entre chaque mot; elle n'est d'ailleurs pas sans une espèce de charme, et donne même souvent de la valeur à ce qu'il dit. Sa taille est moyenne, plutôt grande que petite; sa figure est noble et parfois très-expressive, son habitude sérieuse; il a le nez prononcé, la bouche presque entièrement dégarnie de dents, mais sa complexion paraît robuste.[117]


1093.*


1827, 3. Mai.


Mit Johann Peter Eckermann

Die höchst gelungene Übersetzung der dramatischen Werke Goethes von Stapfer hat in dem zu Paris erscheinenden ›Globe‹ des vorigen Jahres durch Herrn J. J. Ampère eine Beurtheilung gefunden, die nicht weniger vortrefflich ist, und die Goethen so angenehm berührte, daß er sehr oft darauf zurückkam und sich sehr oft mit großer Anerkennung darüber ausließ.

»Der Standpunkt des Herrn Ampère,« sagte er, »ist ein sehr hoher. Wenn deutsche Recensenten bei ähnlichen Anlässen gern von der Philosophie ausgehen und bei Betrachtung und Besprechung eines dichterischen Erzeugnisses auf eine Weise verfahren, daß dasjenige, was sie zu dessen Aufklärung beibringen, nur Philosophen ihrer eigenen Schule zugänglich, für andere Leute aber weit dunkler ist als das Werk, das sie erläutern wollen, selber, so benimmt sich dagegen Herr Ampère durchaus praktisch und menschlich. Als einer, der das Metier aus dem Grunde kennt, zeigt er die Verwandtschaft des Erzeugten mit dem Erzeuger und beurtheilt die verschiedenen poetischen Productionen als verschiedene Früchte verschiedener Lebensepochen des Dichters.

Er hat den abwechselnden Gang meiner irdischen Laufbahn und meiner Seelenzustände im tiefsten studirt[118] und sogar die Fähigkeit gehabt, das zu sehen, was ich nicht ausgesprochen und was sozusagen nur zwischen den Zeilen zu lesen war. Wie richtig hat er bemerkt, daß ich in den ersten zehn Jahren meines weimarischen Dienst- und Hoflebens so gut wie gar nichts gemacht, daß die Verzweiflung mich nach Italien getrieben, und daß ich dort, mit neuer Lust zum Schaffen, die Geschichte des Tasso ergriffen, um mich in Behandlung dieses angemessenen Stoffs von demjenigen freizumachen, was mir noch aus meinen weimarischen Eindrücken und Erinnerungen Schmerzliches und Lästiges anklebte. Sehr treffend nennt er daher auch den ›Tasso‹ einen gesteigerten ›Werther‹.

Sodann über den ›Faust‹ äußert er sich nicht weniger geistreich, indem er nicht bloß das düstere, unbefriedigte Streben der Hauptfigur, sondern auch den Hohn und die herbe Ironie des Mephistopheles als Theile meines eigenen Wesens bezeichnet.«

In dieser und ähnlicher anerkennender Weise sprach Goethe über Herrn Ampère sehr oft; wir faßten für ihn ein entschiedenes Interesse, wir suchten uns seine Persönlichkeit klar zu machen, und wenn uns dieses auch nicht gelingen konnte, so waren wir doch darüber einig, daß es ein Mann von mittlern Jahren sein müsse, um die Wechselwirkung von Leben und Dichten so aus dem Grunde zu verstehen.

Sehr überrascht waren wir daher, als Herr Ampère vor einigen Tagen in Weimar eintraf und sich[119] uns als ein lebensfroher Jüngling von einigen zwanzig Jahren darstellte; und nicht weniger überrascht waren wir, als er gegen uns im Laufe eines weitern Verkehrs äußerte, daß sämmtliche Mitarbeiter des ›Globe‹, dessen Weisheit, Mäßigung und hohe Bildungsstufe wir oft bewundert, lauter junge Leute wären wie er.

»Ich begreife wohl,« sagte ich, »daß einer jung sein kann, um Bedeutendes zu produciren und, gleich Mérimée, im zwanzigsten Jahre treffliche Stücke zu schreiben; allein daß einem bei ähnlich jungen Jahren eine solche Übersicht und so tiefe Einblicke zu Gebote stehen, um eine solche Höhe des Urtheils zu besitzen wie die Herren des ›Globe‹, das ist mir durchaus etwas Neues.«

»Ihnen in Ihrer Heide,« erwiederte Goethe, »ist es freilich nicht so leicht geworden, und auch wir andern im mittlern Deutschland haben unser bischen Weisheit schwer genug erkaufen müssen. Denn wir führen doch im Grunde alle ein isolirtes armseliges Leben! Aus dem eigentlichen Volke kommt uns sehr wenig Cultur entgegen, und unsere sämmtliche Talente und guten Köpfe sind über ganz Deutschland ausgesäet. Da sitzt einer in Wien, ein anderer in Berlin, ein anderer in Königsberg, ein anderer in Bonn oder Düsseldorf, alle durch fünfzig bis hundert Meilen von einander getrennt, sodaß persönliche Berührungen und ein persönlicher Austausch von Gedanken zu den Seltenheiten gehört. Was dies aber wäre, empfinde ich, wenn[120] Männer wie Alexander von Humboldt hier durchkommen und mich in dem, was ich suche und mir zu wissen nöthig, in einem einzigen Tage weiter bringen, als ich sonst auf meinem einsamen Wege in Jahren nicht erreicht hätte.

Nun aber denken Sie sich eine Stadt wie Paris, wo die vorzüglichsten Köpfe eines großen Reichs auf einem einzigen Fleck beisammen sind und in täglichem Verkehr, Kampf und Wetteifer sich gegenseitig belehren und steigern, wo das Beste aus allen Reichen der Natur und Kunst des ganzen Erdbodens der täglichen Anschauung offen steht; diese Weltstadt denken Sie sich, wo jeder Gang über eine Brücke oder einen Platz an eine große Vergangenheit erinnert, und wo an jeder Straßenecke ein Stück Geschichte sich entwickelt hat! Und zu diesem allen denken Sie sich nicht das Paris einer dumpfen geistlosen Zeit, sondern das Paris des neunzehnten Jahrhunderts, in welchem seit drei Menschenaltern durch Männer wie Molière, Voltaire, Diderot und ihresgleichen eine solche Fülle von Geist in Curs gesetzt ist, wie sie sich auf der ganzen Erde auf einem einzigen Fleck nicht zum zweitenmale findet, und Sie werden begreifen, daß ein guter Kopf wie Ampère, in solcher Fülle ausgewachsen, in seinem vierundzwanzigsten Jahre wohl etwas sein kann.

Sie sagten doch vorhin,« fuhr Goethe fort, »Sie könnten sich sehr wohl denken, daß einer in seinem zwanzigsten Jahre so gute Stücke schreiben könne wie[121] Mérimée. Ich habe gar nichts dawider, und bin auch imganzen recht wohl Ihrer Meinung, daß eine jugendlich-tüchtige Production leichter sei als ein jugendlich-tüchtiges Urtheil. Allein in Deutschland soll einer es wohl bleiben lassen, so jung wie Mérimée etwas so Reifes hervorzubringen, als er in den Stücken seiner ›Clara Gazul‹ gethan. Es ist wahr, Schiller war recht jung, als er seine ›Räuber‹, seine ›Cabale und Liebe‹ und seinen ›Fiesco‹ schrieb; allein wenn wir aufrichtig sein wollen, so sind doch alle diese Stücke mehr Äußerungen eines außergewöhnlichen Talents, als daß sie von großer Bildungsreife des Autors zeugten. Daran ist aber nicht Schiller schuld, sondern der Culturzustand seiner Nation und die große Schwierigkeit, die wir alle erfahren, uns auf einsamem Wege durchzuhelfen.

Nehmen Sie dagegen Béranger. Er ist der Sohn armer Ältern, der Abkömmling eines armen Schneiders, dann armer Buchdruckerlehrling, dann mit kleinem Gehalte angestellt in irgend einem Bureau, er hat nie eine gelehrte Schule, nie eine Universität besucht, und doch sind seine Lieder so voll reifer Bildung, so voll Grazie, so voll Geist und feinster Ironie und von einer solchen Kunstvollendung und meisterhaften Behandlung der Sprache, daß er nicht bloß die Bewunderung von Frankreich, sondern des ganzen gebildeten Europa ist.

Denken Sie sich aber diesen selben Béranger, anstatt in Paris geboren und in dieser Weltstadt herangekommen, als den Sohn eines armen Schneiders zu[122] Jena oder Weimar, und lassen Sie ihn seine Laufbahn an gedachten kleinen Orten gleich kümmerlich fortsetzen, und fragen Sie sich, welche Früchte dieser selbe Baum, in einem solchen Boden und in einer solchen Atmosphäre aufgewachsen, wohl würde getragen haben.

Also, mein Guter, ich wiederhole: es kommt darauf an, daß in einer Nation viel Geist und tüchtige Bildung in Curs sei, wenn ein Talent sich schnell und freudig entwickeln soll.

Wir bewundern die Tragödien der alten Griechen; allein recht besehen sollten wir mehr die Zeit und die Nation bewundern, in der sie möglich waren, als die einzelnen Verfasser; denn wenn auch diese Stücke unter sich ein wenig verschieden, und wenn auch der eine dieser Poeten ein wenig größer und vollendeter erscheint als der andere, so trägt doch, im Großen und Ganzen betrachtet, alles nur einen einzigen durchgehenden Character. Dies ist der Character des Großartigen, des Tüchtigen, des Gesunden, des Menschlich-Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen Denkungsweise, der reinkräftigen Anschauung, und welche Eigenschaften man noch sonst aufzählen könnte. Finden sich nun aber alle diese Eigenschaften nicht bloß in den auf uns gekommenen dramatischen, sondern auch in den lyrischen und epischen Werken; finden wir sie ferner bei den Philosophen, Rhetoren und Geschichtschreibern, und in gleich hohem Grabe in den auf uns gekommenen Werken der bildenden Kunst, so muß man[123] sich wohl überzeugen, daß solche Eigenschaften nicht bloß einzelnen Personen anhafteten, sondern daß sie der Nation und der ganzen Zeit angehörten und in ihr in Curs waren.

Nehmen Sie Burns. Wodurch ist er groß, als daß die alten Lieder seiner Vorfahren im Munde des Volks lebten, daß sie ihm sozusagen bei der Wiege gesungen wurden, daß er als Knabe unter ihnen heranwuchs und die hohe Vortrefflichkeit dieser Muster sich ihm so einlebte, daß er darin eine lebendige Basis hatte, worauf er weiter schreiten konnte. Und ferner, wodurch ist er groß, als daß seine eigenen Lieder in seinem Volke sogleich empfängliche Ohren fanden, daß sie ihm alsobald im Felde von Schnittern und Binderinnen entgegenklangen, und er in der Schenke von heitern Gesellen damit begrüßt wurde. Da konnte es freilich etwas werden!

Wie ärmlich sieht es dagegen bei uns Deutschen aus! Was lebte denn in meiner Jugend von unsern nicht weniger bedeutenden alten Liedern im eigentlichen Volke? Herder und seine Nachfolger mußten erst anfangen sie zu sammeln und der Vergessenheit zu entreißen, dann hatte man sie doch meistens gedruckt in Bibliotheken. Und später, was haben nicht Bürger und Voß für Lieder gedichtet! Wer wollte sagen, daß sie geringer und weniger volksthümlich wären als die des vortrefflichen Burns! Allein was ist davon lebendig geworden, sodaß es uns aus dem Volke wieder[124] entgegenklänge? Sie sind geschrieben und gedruckt worden und stehen in Bibliotheken, ganz gemäß dem allgemeinen Lose deutscher Dichter. Von meinen eigenen Liedern was lebt denn? Es wird wohl eins und das andere einmal von einem hübschen Mädchen am Klaviere gesungen, allein im eigentlichen Volke ist alles stille. Mit welchen Empfindungen muß ich der Zeit gedenken, wo italienische Fischer mir Stellen des ›Tasso‹ sangen!

Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig cultivirt, allein es können noch einpaar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unsern Landsleuten so viel Geist und höhere Cultur eindringe und allgemein werde, daß sie gleich den Griechen der Schönheit huldigen, daß sie sich für ein hübsches Lied begeistern, und daß man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, daß sie Barbaren gewesen.«[125]


1094.*


1827, 4. Mai.


Mittag bei Goethe und nachher

Zu Ehren Ampère's und seines Freundes Stapfer großes Diner bei Goethe. Die Unterhaltung war laut, heiter und bunt durcheinander. Ampère erzählte Goethen viel von Mérimée, Alfred de Vigny und andern bedeutenden Talenten. Auch ward sehr viel über Béranger gesprochen, dessen unvergleichliche Lieder Goethe[125] täglich in Gedanken hat. Es kam zur Erwähnung, ob Béranger's heitere Liebeslieder vor seinen politischen den Vorzug verdienten, wobei Goethe seine Meinung dahin entwickelte, daß im allgemeinen ein rein poetischer Stoff einem politischen so sehr voranstehe als die reine ewige Naturwahrheit der Parteiansicht.

»Übrigens«, fuhr er fort, »hat Béranger in seinen politischen Gedichten sich als Wohlthäter seiner Nation erwiesen. Nach der Invasion der Alliirten fanden die Franzosen in ihm das beste Organ ihrer gedrückten Gefühle. Er richtete sie auf durch vielfache Erinnerungen an den Ruhm der Waffen unter dem Kaiser, dessen Andenken noch in jeder Hütte lebendig, und dessen große Eigenschaften der Dichter liebt, ohne jedoch eine Fortsetzung seiner despotischen Herrschaft zu wünschen. Jetzt, unter den Bourbonen, scheint es ihm nicht zu behagen. Es ist freilich ein schwach gewordenes Geschlecht! Und der jetzige Franzose will auf dem Throne große Eigenschaften, obgleich er gern selber mitherrscht und selber gern ein Wort mitredet.«

Nach Tisch verbreitete sich die Gesellschaft im Garten, und Goethe winkte mir zu einer Spazierfahrt um das Gehölz auf dem Wege nach Tiefurt.

Er war im Wagen sehr gut und liebevoll. Er freute sich, daß mit Ampère ein so hübsches Verhältniß angeknüpft worden, wovon er sich für die Anerkennung und Verbreitung der deutschen Literatur in Frankreich die Schönsten Folgen verspreche.

[126] »Ampère,« fügte er hinzu, »steht freilich in seiner Bildung so hoch, daß die nationalen Vorurtheile, Apprehensionen und Bornirtheiten vieler seiner Landsleute weit hinter ihm liegen und er seinem Geiste nach weit mehr ein Weltbürger ist, als ein Bürger von Paris. Ich sehe übrigens die Zeit kommen, wo er in Frankreich Tausende haben wird, die ihm gleich denken.«[127]


1096.*


1827, 6. Mai.


Mit Moritz Oppenheim

Heute ließ er mich zum zweiten Male zu sich bitten, wobei ich ihm auch meine zwei Bilder vorstellte, denen er wirklich eine sehr lange Aufmerksamkeit schenkte, mir nur Schmeichelhaftes darüber sagte und sich dann ausbat, sie ein bischen bei ihm stehen zu lassen, weil – wie er sich ausdrückte – Sachen, über die man lange gedacht und gearbeitet hat, auch lange Zeit betrachtet werden müssen.[131]


1097.*


1827, 6. Mai.


Mittag bei Goethe

Abermalige Tischgesellschaft bei Goethe, wobei dieselbigen Personen zugegen sind wie vorgestern. Man sprach sehr viel über die ›Helena‹ und den ›Tasso‹. Goethe erzählte uns darauf, wie er im Jahre 1797 den Plan gehabt, die Sage vom Tell als episches Gedicht in Hexametern zu behandeln.

»Ich besuchte,« sagte er, »im gedachten Jahre noch einmal die kleinen Cantone um den Vierwaldstättersee,[131] und diese reizende, herrliche und großartige Natur machte auf mich abermals einen solchen Eindruck, daß es mich anlockte, die Abwechselung und Fülle einer so unvergleichlichen Landschaft in einem Gedicht darzustellen. Um aber in meine Darstellung mehr Reiz, Interesse und Leben zu bringen, hielt ich es gut, den höchst bedeutenden Grund und Boden mit ebenso bedeutenden menschlichen Figuren zu staffiren, wo denn die Sage vom Tell mir als sehr erwünscht zustatten kam.

Den Tell dachte ich mir als einen urkräftigen, in sich selbst zufriedenen, kindlich-unbewußten Heldenmenschen, der als Lastträger die Cantone durchwandert, überall gekannt und geliebt ist, überall hülfreich, übrigens ruhig sein Gewerbe treibend, für Weib und Kind sorgend, und sich nicht kümmernd wer Herr oder Knecht sei.

Den Geßler dachte ich mir dagegen zwar als einen Tyrannen, aber als einen von der behaglichen Sorte, der gelegentlich Gutes thut, wenn es ihm Spaß macht, und gelegentlich Schlechtes thut, wenn es ihm Spaß macht, und dem übrigens das Volk und dessen Wohl und Wehe so völlig gleichgültige Dinge sind, als ob sie gar nicht existirten.

Das Höhere und Bessere der menschlichen Natur dagegen, die Liebe zum heimathlichen Boden, das Gefühl der Freiheit und Sicherheit unter dem Schutze vaterländischer Gesetze, das Gefühl ferner der Schmach,[132] sich von einem fremden Wüstling unterjocht und gelegentlich mißhandelt zu sehen, und endlich die zum Entschluß reifende Willenskraft, ein so verhaßtes Joch abzuwerfen – alles dieses Höhere und Gute hatte ich den bekannten edlen Männern Walther Fürst, Stauffacher, Winkelried und andern zugetheilt, und dieses waren meine eigentlichen Helden, meine mit Bewußtsein handelnden höhern Kräfte, während der Tell und Geßler zwar auch gelegentlich handelnd auftraten, aber imganzen mehr Figuren passiver Natur waren.

Von diesem schönen Gegenstande war ich ganz voll, und ich summte dazu schon gelegentlich meine Hexameter. Ich sah den See im ruhigen Mondschein, erleuchtete Nebel in den Tiefen der Gebirge. Ich sah ihn im Glanze der lieblichsten Morgensonne, ein Jauchzen und Leben in Wald und Wiesen. Dann stellte ich einen Sturm dar, einen Gewittersturm, der sich aus den Schluchten auf den See wirft. Auch fehlte es nicht an nächtlicher Stille und an heimlichen Zusammenkünften über Brücken und Stegen.

Von allem diesen erzählte ich Schillern, in dessen Seele sich meine Landschaften und meine handelnden Figuren zu einem Drama bildeten. Und da ich andere Dinge zu thun hatte und die Ausführung meines Vorsatzes sich immer weiter verschob, so trat ich meinen Gegenstand Schillern völlig ab, der denn darauf sein bewundernswürdiges Gedicht schrieb.«

Wir freuten uns dieser Mittheilung, die allen[133] interessant zu hören war. Ich machte bemerklich, daß es mir vorkomme, als ob die in Terzinen geschriebene prächtige Beschreibung des Sonnenausgangs in der ersten Scene vom zweiten Theile des ›Faust‹ aus der Erinnerung jener Natureindrücke des Vierwaldstättersees entstanden sein möchte.

»Ich will es nicht leugnen,« sagte Goethe, »daß diese Anschauungen dort herrühren, ja ich hätte ohne die frischen Eindrücke jener wundervollen Natur den Inhalt der Terzinen gar nicht denken können. Das ist aber auch alles, was ich aus dem Golde meiner Tell-Localitäten mir gemünzt habe. Das übrige ließ ich Schillern, der denn auch davon, wie wir wissen, den schönsten Gebrauch gemacht.«

Das Gespräch wendete sich auf den ›Tasso‹, und welche Idee Goethe darin zur Anschauung zu bringen gesucht.

»Idee?« sagte Goethe – »das ich nicht wüßte! Ich hatte das Leben Tasso's, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand mir das Bild des Tasso, dem ich als prosaischen Contrast den Antonio entgegenstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte. Die weitern Hof-, Lebens- und Liebesverhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara, und ich kann mit Recht von meiner Darstellung sagen: sie ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.

[134] Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig. Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermuthigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstracter Gedanke und Idee wäre!

Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem ›Faust‹ zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte! Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Noth etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Bessern aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Scene im besondern zu Grunde liege. Es hätte auch in der That ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im ›Faust‹ zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!

Es war im ganzen,« fuhr Goethe fort, »nicht meine Art, als Poet nach Verkörperung von etwas[135] Abstractem zu streben. Ich empfing in meinem Innern Eindrücke, und zwar Eindrücke sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot, und ich hatte als Poet weiter nichts zu thun, als solche Anschauungen und Eindrücke in mir künstlerisch zu runden und auszubilden und durch eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, daß andere dieselbigen Eindrücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen.

Wollte ich jedoch einmal als Poet irgend eine Idee darstellen, so that ich es in kleinen Gedichten, wo eine entschiedene Einheit herrschen konnte und welches zu übersehen war, wie z.B. ›Die Metamorphose der Thiere‹, die ›der Pflanzen‹, das Gedicht ›Vermächtniß‹ [?], und viele andere. Das einzige Product von größerm Umfang, wo ich mir bewußt bin nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine ›Wahlverwandtschaften‹. Der Roman ist dadurch für den Verstand faßlich geworden, aber ich will nicht sagen, daß er dadurch besser geworden wäre! Vielmehr bin ich der Meinung: je incommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Production, desto besser.«[136]


1565.*


1827, Anfang Mai.


Mit Moritz Oppenheim

Oppenheim... erzählte mir [Rießer]: Am Schlusse seines Aufenthalts in Weimar habe Goethe ihn gefragt, ob er einen Titel oder einen Orden haben wolle; er habe geantwortet, daß er sich, offen gestanden, aus[114] beiden nichts mache. Hierauf aber habe Goethe erwiedert: ›Sie thun unrecht, mein Lieber! Titel und Orden halten manchen Puff ab im Gedränge.‹[115]


1098.*


1827, 15. Mai.


Mit Karl von Holtei

Irgend ein unangenehmer Zufall, eine kleine Familienscene, machte ihn verdrüßlich, und er sprach diesen Verdruß zum höchsten Erstaunen des Hofes und der ganzen Stadt dadurch aus, daß er urplötzlich vom raschesten Entschlusse getrieben seine Wohnung mied und das kleine Gartenhaus am Park bezog. Mit diesem, seinen Verehrern völlig unerklärlichen Wechsel des gewohnten Aufenthaltes war denn auch der Wille, allein und ungestört zu bleiben, ausgesprochen, und ich würde Weimar verlassen haben, ohne ihn noch einmal zu sehen, wenn nicht Eckermann in seiner unerschöpflichen Gutmüthigkeit mir ein Abschiedsstündchen vermittelt hätte. Hab' ich mir's nur eingebildet, oder hatte der unerforschliche Greis im ländlichen Häuschen andere Formen angenommen, – mir erschien er, als ich mich dort einfand, zugänglicher, wie in den städtischen Räumen, milder, mittheilender. Als ich ihm das Erstaunen schilderte, in welches diese seine Übersiedelung Weimar versetzt habe, sagte er mit einem fast wehmüthigen Ausdrucke: »Wir haben hier in diesem Gartenhäuschen tüchtige Jahre verlebt, und weil es denn mit uns sich auch dem Abschlusse nähert, so mag sich die Schlange in den Schwanz beißen, damit es ende, wo es begonnen.«[137]


1751.*


1827, etwa 20. Mai.


Mit Jean Jacques Ampère

J'ai enfin quitté Weimar; Goethe m'a donné sa médaille, m'a embrassé et je suis parti tout attendri. La demière heare, que nous avons passé ensemble avait vraiment quelque chose de soleimel et de touchant. Nous étions assis sur le même banc, daas le jardin d'uae petite maison rustique d'ou l'on a la vue du parc, et ou il a écrit ›Iphigénie‹ il y a quarante ans. Tous les arbres ont été plantes par lui; c'est sous ces arbres que nous étions assis et que nous regardions le parc-, éclairé par la lumière du soir .... Il était serein, gai même, me parlant, avec beaucoup de finesse et cette legère ironie, qui lui va si bien, des moeurs de mes Chinois, à propos du roman de M. Abel Rémusat, racontaat d'autres romans chinois qu'il a lus il y a un demi-siècle, et dont les incidents lui sont présents.[149]


1099.*


1827, Ende Mai oder Anfang Juni (?).


Mit Eduard Genast u.a.

Auf dem Rückwege [von Cassel] hielt ich mich einige Tage bei meinem Vater auf, dem Goethe bereits zu wissen gethan, daß wir bei ihm zu Mittag essen sollten. Ich hatte ihn fast zwei Jahre nicht gesehen und fand ihn sehr wohl auf; bei Tafel war er äußerst heiter. Er liebte es, mit Schauspielern über das Theater zu sprechen, und so mußte ich ihm von meinen jüngsten Kunstreisen alles erzählen, was ich Anerkennungswerthes bemerkt und getroffen. Außer diesem zog ihn mein Zusammensein in Breslau mit Baron Ferdinand v. L. an, den er... zu Anfang dieses Jahrhunderts hatte kennen lernen. Ich erzählte ihm viele Anecdoten, die L. geliefert, und namentlich das Selbstgespräch in und unter dem Bett [unter das er sich gelegt hatte, um sich selbst für Betrunkenheit zu bestrafen] setzte Goethes Lachmuskeln außerordentlich in Thätigkeit. Er erzählte nun auch seinerseits, auf welche Weise er in Lauchstädt die Bekanntschaft dieses Originals gemacht. Auf einem einsamen Spaziergange durch die Felder war ihm auf einem Rain ein langer Mann im Militärrock mit verschränkten Armen begegnet, dicht vor ihm stehen geblieben und hatte statt der üblichen Begrüßung eine Strophe aus dem Lied der Parzen nicht ohne Geschick recitirt. »Das ist unter allen Schöpfungen die schönste,[138] womit Ew. Excellenz die Welt beglückt haben. Weder Tasso noch Ariost haben Ähnliches geschrieben, und selbst Schiller, den ich so hoch verehre, läßt öfter seiner Phantasie in seinen Dichtungen zu freien Spielraum, wodurch er die Wahrheit hier und da beeinträchtigt, aber Ew. Excellenz halten in beiden das richtige Maaß. Ich habe die Ehre, Ew. Excellenz in mir den Baron Ferdinand v. L. vorzustellen.« – »So sprach der Mann,« fuhr Goethe fort, »und ich wandelte längere Zeit mit ihm in der schattigen Lindenallee auf und ab, mich an seinem Urtheil über die alten und neuen Dichter ergötzend.« ....

Beim Abschied drückte er mir die Hand und fügte hinzu: »Grüße herzlichst Dein liebes Weib, und mag Dich Dein Weg bald wieder über Weimar führen!«[139]


1100.*


1827, Mitte Juni.


Mit Kaspar von Sternberg

Freund Goethe hat mich mit gewohnter Freundlichkeit aufgenommen. Sein Geist ist noch wunderbar gesund und frisch und zwingt den etwas hinfälligen Körper durch geistige Gewalt noch festzuhalten. Er sprach mit mir gleich von unserem Monatsblatt [der Gesellschaft des vaterländischen Museums in Böhmen], lobt das Unternehmen und wünscht soviel wie möglich die älteren Hajek'schen Sagen, wie Horimir und Semir,[139] in selbem erscheinen zu sehen, um uns an die serbische Literatur anzuschließen. Er hat sich hierüber im ersten Hefte des sechsten Bandes »Über Kunst und Alterthum« p. 197 ausgesprochen, welches er mir mit folgenden eingeschriebenen Worten zuschickte:


Wenn mit jugendlichen Schaaren

Wir beblümte Wege gehn,

Ist die Welt doch gar so schön;

Aber wenn bei hohen Jahren

Sich ein Edler uns gesellt,

O, wie herrlich ist die Welt!


Lasse die angezeigte Stelle Palacky lesen; sie wird ihm Vergnügen machen. Der Aufsatz von Dobrovsky, ›Was die guten Schriftsteller für Böhmen geleistet‹ hat ihn auch besonders angesprochen; er findet es sehr verständig, daß wir uns auf Böhmen einschließen, wodurch sich unsere Zeitschrift von allen unterscheidet, die alles aufnehmen und eben dadurch sich unter sich gar nicht unterscheiden, als insoferne sie bessere oder schlechtere Mitarbeiter haben; die Poesie aber sei weltbürgerlich und umsomehr interessant, als sie sich national zeigt.[140]


1101.*


1827, 20. Juni.


Mittag bei Goethe


a.

Der Familientisch zu fünf Couverts stand gedeckt, die Zimmer waren leer und kühl, welches bei der[140] großen Hitze sehr wohl that. Ich [Eckermann] trat in das geräumige an den Speisesaal angrenzende Zimmer, worin der gewirkte Fußteppich liegt und die kolossale Büste der Juno steht. Ich war nicht lange allein auf- und abgegangen, als Goethe, aus seinem Arbeitszimmer kommend, hereintrat und mich in seiner herzlichen Art liebevoll begrüßte und anredete. Er setzte sich auf einen Stuhl am Fenster. »Nehmen Sie sich auch ein Stühlchen,« sagte er, »und setzen Sie sich zu mir; wir wollen ein wenig reden, bis die übrigen kommen. Es ist mir lieb, daß Sie doch auch den Grafen Sternberg bei mir haben kennen gelernt; er ist wieder abgereist, und ich bin nun ganz wieder in der gewohnten Thätigkeit und Ruhe.«

»Die Persönlichkeit des Grafen,« sagte ich »ist mir sehr bedeutend erschienen, nicht weniger seine großen Kenntnisse; denn das Gespräch mochte sich lenken wohin es wollte, er war überall zu Hause und sprach über alles gründlich und umsichtig mit großer Leichtigkeit.«

»Ja,« sagte Goethe, »er ist ein höchst bedeutender Mann, und sein Wirkungskreis und seine Verbindungen in Deutschland sind groß. Als Botaniker ist er durch seine ›Flora subterranea‹ in ganz Europa bekannt; so auch ist er als Mineraloge von großer Bedeutung. Kennen Sie seine Geschichte?« – »Nein,« sagte ich, »aber ich möchte gern etwas über ihn erfahren. Ich sah ihn als Grafen und Weltmann, zugleich als vielseitigen[141] tiefen Gelehrten: dieses ist mir ein Problem, das ich gern möchte gelöst sehen.« Goethe erzählte mir darauf, wie der Graf, als Jüngling zum geistlichen Stande bestimmt, in Rom seine Studien begonnen, darauf aber, nachdem Österreich gewisse Vergünstigungen zurückgenommen, nach Neapel gegangen sei. Und so erzählte Goethe weiter, gründlich, interessant und bedeutend, ein merkwürdiges Leben, der Art, daß es die ›Wanderjahre‹ zieren würde, das ich aber hier zu wiederholen mich nicht geschickt fühle. Ich war höchst glücklich, ihm zuzuhören, und dankte ihm mit meiner ganzen Seele. Das Gespräch lenkte sich nun auf die böhmischen Schulen und ihre großen Vorzüge, besonders in Bezug auf eine gründliche ästhetische Bildung.

Herr und Frau von Goethe und Fräulein Ulrike von Pogwisch waren indessen auch hereingekommen, und wir setzten uns zu Tische. Die Gespräche wechselten heiter und mannigfaltig, besonders aber waren die Frömmler einiger norddeutschen Städte ein oft wiederkehrender Gegenstand. Es ward bemerkt, daß diese pietistischen Absonderungen ganze Familien miteinander uneins gemacht und zersprengt hätten. Ich konnte einen ähnlichen Fall erzählen, wo ich fast einen trefflichen Freund verloren, weil es ihm nicht gelingen wollen, mich zu seiner Meinung zu bekehren. »Dieser,« sagte ich, »war ganz von dem Glauben durchdrungen, daß alles Verdienst und alle gute Werke nichts seien, und[142] daß der Mensch bloß durch die Gnade Christi ein gutes Verhältniß zur Gottheit gewinnen könne.« – »Etwas Ähnliches,« sagte Frau von Goethe, »hat auch eine Freundin zu mir gesagt, aber ich weiß noch immer nicht, was es mit diesen guten Werken und dieser Gnade für eine Bewandtniß hat.«

»So wie alle diese Dinge,« sagte Goethe, »heutigentags in der Welt in Curs und Gespräch sind, ist es nichts als ein Mantsch, und vielleicht niemand von Euch weiß wo es herkommt. Ich will es Euch sagen. Die Lehre von den guten Werken, daß nämlich der Mensch durch Gutesthun, Vermächtnisse und milde Stiftungen eine Sünde abverdienen und sich überhaupt in der Gnade Gottes dadurch heben könne, ist katholisch. Die Reformatoren aber, aus Opposition, verwarfen diese Lehre und setzten dafür an die Stelle, daß der Mensch einzig und allein trachten müsse, die Verdienste Christi zu erkennen und sich seiner Gnaden theilhaftig zu machen, welches denn freilich auch zu guten Werken führe. So ist es; aber heutigentags wird alles durcheinandergemengt und verwechselt, und niemand weiß woher die Dinge kommen.«

Ich bemerkte mehr in Gedanken, als daß ich es aussprach, daß die verschiedene Meinung in Religionssachen doch von jeher die Menschen entzweit und zu Feinden gemacht habe, ja daß sogar der erste Mord durch eine Abweichung in der Verehrung Gottes herbeigeführt sei. Ich sagte, daß ich dieser Tage Byron's[143] ›Kain‹ gelesen und besonders den dritten Act und die Motivirung des Todtschlags bewundert habe.

»Nicht wahr,« sagte Goethe, »das ist vortrefflich motivirt! Es ist von so einziger Schönheit, daß es in der Welt nicht zum zweitenmal vorhanden ist.«

»Der ›Kain‹,« sagte ich, »war doch anfänglich in England verboten, jetzt aber liest ihn jedermann, und die reisenden jungen Engländer führen gewöhnlich einen kompleten Byron mit sich.«

»Es ist auch Thorheit,« sagte Goethe; »denn im Grunde steht im ganzen ›Kain‹ doch nichts, als was die englischen Bischöfe selber lehren.«

Der Kanzler ließ sich melden und trat herein und setzte sich zu uns an den Tisch. So kamen auch Goethes Enkel, Walter und Wolfgang, nacheinander gesprungen. Wolf schmiegte sich an den Kanzler. »Hole dem Herrn Kanzler,« sagte Goethe, »dein Stammbuch und zeige ihm deine Prinzeß und was Dir der Graf Sternberg geschrieben.« Wolf sprang hinauf und kam bald mit dem Buche zurück. Der Kanzler betrachtete das Portrait der Prinzeß [Marie Louise Alexandrine von Sachsen-Weimar] mit beigeschriebenen Versen von Goethe. Er durchblätterte das Buch ferner und traf auf Zelter's Inschrift und las laut heraus: Lerne gehorchen!

»Das ist doch das einzige vernünftige Wort,« sagte Goethe lachend, »was im ganzen Buche steht. Ja, Zelter ist immer grandios und tüchtig! Ich gehe jetzt mit Riemer seine Briefe durch, die ganz unschätzbare Sachen enthalten. Besonders sind die Briefe, die er[144] mir auf Reisen geschrieben, von vorzüglichem Werth; denn da hat er als tüchtiger Baumeister und Musikus den Vortheil, daß es ihm nie an bedeutenden Gegenständen des Urtheils fehlt. Sowie er in eine Stadt eintritt, stehen die Gebäude vor ihm und sagen ihm, was sie Verdienstliches und Mangelhaftes an sich tragen. Sodann ziehen die Musikvereine ihn sogleich in ihre Mitte und zeigen sich dem Meister in ihren Tugenden und Schwächen. Wenn ein Geschwindschreiber seine Gespräche mit seinen musikalischen Schülern aufgeschrieben hätte, so besäßen wir etwas ganz Einziges in seiner Art. Denn in diesen Dingen ist Zelter genial und groß und trifft immer den Nagel auf den Kopf.«


b.

Ich [v. Müller] traf ihn mit seinen Kindern und Enkeln auch Eckermann noch bei Tische, höchst milde und munter, vergnügt und mittheilend. Er erwähnte Gall's Verlangen nach einem Abguß seines Kopfes; verweigerte die Mittheilung seines Briefes an Gries [mit dein Danke des Großherzogs für die Widmung der Übersetzung von Ariost's ›Rasendem Roland‹]: nicht als ob vor mir Geheimes darin, sondern weil ihm so viel Unangenehmes im langen Leben aus Mittheilung der Briefe entstanden sei, daß er sich solches wie eine übte Angewöhnung abzugewöhnen trachte.

[145] Bei Durchsicht von Stammbuchs-Inschriften kam er auf Sternberg und dessen oft verhehlte Gemüthlichkeit. »Man kömmt mit ihm stets weiter.«

Schützen's Plattheit gegen Haug verglich Goethe mit der »Platitude in Ampère's Brief«. Ich vertheidigte Letztern gar sehr. »Das Übel kommt immer daher,« erwiederte Goethe, »daß die Leute, besonders die Fremden, das Naive des Augenblicks nicht zu würdigen wissen durch Wiedererzählung es zur Plattheit umprägen. Überhaupt ist es immer gefährlich zum Publicum von der Gegenwart zu sprechen.«

Dann kam das seltsame Schicksal von Goethes Gedicht1 an seines Enkels Walther Geburtstag im Jahr 1818 zur Sprache, das er anonym übergab und das sehr gescholten wurde.

Nachher durchblätterten wir viele Mappen mit Zeichnungen und Kupferstichen.

»Freiheit,« sagte Goethe unter anderm, »ist nichts als die Möglichkeit, unter allen Bedingungen das Vernünftige zu thun. Das Absolute steht noch über dem Vernünftigen. Darum handeln Souveräns oft unvernünftig, um sich in der absoluten Freiheit zu erhalten.«


1 Wiegenlied dem jungen Mineralogen.[146]


1102.*


1827, 5. Juli.


Mit Johann Peter Eckermann u.a.

Heute gegen Abend begegnete Goethe mir am Park von einer Spazierfahrt zurückkommend. Im Vorbeifahren winkte er mir mit der Hand, daß ich ihn besuchen möchte. Ich wendete daher sogleich um nach seinem Hause, wo ich den Oberbaudirector Coudray fand. Goethe stieg aus, und wir gingen mit ihm die Treppen hinauf. Wir setzten uns in dem sogenannten Junozimmer um einen runden Tisch. Wir hatten nicht lange geredet, als auch der Kanzler hereintrat und sich zu uns gesellte. Das Gespräch wendete sich um politische Gegenstände: Wellington's Gesandtschaft nach Petersburg und deren wahrscheinliche Folgen, Kapodistrias, die verzögerte Befreiung Griechenlands, die Beschränkung der Türken auf Konstantinopel, und dergleichen. Auch frühere Zeiten unter Napoleon kamen zur Sprache, besonders aber über den Herzog von Enghien und sein unvorsichtiges revolutionäres Betragen ward viel geredet.

Sodann kam man auf friedlichere Dinge, und Wieland's Grab zu Osmannstedt war ein vielbesprochener Gegenstand unserer Unterhaltung. Oberbaudirector Coudray erzählte, daß er mit einer eisernen Einfassung des Grabes beschäftigt sei. Er gab uns von seiner Intention eine deutliche Idee, indem er die Form des[147] eisernen Gitterwerks auf ein Stück Papier vor unsern Augen hinzeichnete.

Als der Kanzler und Coudray gingen, bat Goethe mich, noch ein wenig bei ihm zu bleiben. »Da ich in Jahrtausenden lebe,« sagte er, »so kommt es mir immer wunderlich vor, wenn ich von Statuen und Monumenten höre. Ich kann nicht an eine Bildsäule denken, die einem verdienten Manne gesetzt wird, ohne sie im Geiste schon von künftigen Kriegern umgeworfen und zerschlagen zu sehen. Coudray's Eisenstäbe um das Wieland'sche Grab sehe ich schon als Hufeisen unter den Pferdefüßen einer künftigen Cavallerie blinken, und ich kann noch dazu sagen, daß ich bereits einen ähnlichen Fall in Frankfurt erlebt habe. Das Wieland'sche Grab liegt überdies viel zu nahe an der Ilm; der Fluß braucht in seiner raschen Biegung kaum einhundert Jahre am Ufer fortzuzehren, und er wird die Toten erreicht haben.«

Wir scherzten mit gutem Humor über die entsetzliche Unbeständigkeit der irdischen Dinge und nahmen sodann Coudray's Zeichnung wieder zur Hand und freuten uns an den zarten und kräftigen Zügen der englischen Bleifeder, die dem Zeichner so zuwillen gewesen war, daß der Gedanke unmittelbar ohne den geringsten Verlust auf dem Papiere stand.

Dies führte das Gespräch auf Handzeichnungen, und Goethe zeigte mir eine ganz vortreffliche eines italienischen Meisters, den Knaben Jesus darstellend[148] im Tempel unter den Schriftgelehrten. Daneben zeigte er mir einen Kupferstich, der nach dem ausgeführten Bilde gemacht war, und man konnte viele Betrachtungen anstellen, die alle zugunsten der Handzeichnung hinausliefen.

»Ich bin in dieser Zeit so glücklich gewesen,« sagte Goethe, »viele treffliche Handzeichnungen berühmter Meister um ein Billiges zu kaufen. Solche Zeichnungen sind unschätzbar, nicht allein weil sie die rein geistige Intention des Künstlers geben, sondern auch weil sie uns unmittelbar in die Stimmung versetzen, in welcher der Künstler sich in dem Augenblick des Schaffens befand. Aus dieser Zeichnung des Jesusknaben im Tempel blickt aus allen Zügen große Klarheit und heitere stille Entschiedenheit im Gemüthe des Künstlers, welche wohlthätige Stimmung in uns übergeht, sowie wir das Bild betrachten. Zudem hat die bildende Kunst den großen Vortheil, daß sie rein objectiver Natur ist und uns zu sich herannöthigt, ohne unsere Empfindungen heftig anzuregen. Ein solches Werk steht da und spricht entweder gar nicht, oder auf eine ganz entschiedene Weise. Ein Gedicht dagegen macht einen weit vagern Eindruck: es erregt die Empfindungen, und bei jedem andere, nach der Natur und Fähigkeit des Hörers.«

»Ich habe,« sagte ich, »dieser Tage den trefflichen englischen Roman ›Roderik Random‹ von Smollet gelesen; dieser kam dem Eindruck einer guten Handzeichnung[149] sehr nahe. Eine unmittelbare Darstellung, keine Spur von einer Hinneigung zum Sentimentalen, sondern das wirkliche Leben steht vor uns wie es ist, oft widerwärtig und abscheulich genug, aber im ganzen immer heitern Eindrucks wegen der ganz entschiedenen Realität.«

»Ich habe den ›Roderik Random‹ oft rühmen hören,« sagte Goethe, »und glaube was Sie mir von ihm erwähnen, doch ich habe ihn nie gelesen. Kennen Sie den ›Rasselas‹ von Johnson? Lesen Sie ihn doch auch einmal und sagen Sie mir, wie Sie ihn finden.« Ich versprach dieses zu thun.

»Auch in Lord Byron,« sagte ich, »finde ich häufig Darstellungen, die ganz unmittelbar dastehen und uns rein den Gegenstand geben, ohne unser inneres Sentiment auf eine andere Weise anzuregen, als es eine unmittelbare Handzeichnung eines guten Malers thut. Besonders der ›Don Juan‹ ist an solchen Stellen reich.«

»Ja,« sagte Goethe, »darin ist Lord Byron groß; seine Darstellungen haben eine so leicht hingeworfene Realität, als wären sie improvisirt. Von ›Don Juan‹ kenne ich wenig; allein aus seinen andern Gedichten sind mir solche Stellen im Gedächtniß, besonders Seestücke, wo hin und wieder ein Segel hinausblickt, ganz unschätzbar, sodaß man sogar die Wasserlust mit zu empfinden glaubt.«

»In seinem ›Don Juan‹,« sagte ich, »habe ich besonders[150] die Darstellung der Stadt London bewundert, die man aus seinen leichten Versen heraus mit Augen zu sehen wähnt. Und dabei macht er sich keineswegs viele Skrupel, ob ein Gegenstand poetisch sei oder nicht, sondern er ergreift und gebraucht alles wie es ihm vorkommt, bis auf die gekräuselten Perrücken vor den Fenstern der Haarschneider und bis auf die Männer, welche die Straßenlaternen mit Öl versehen.«

»Unsere deutschen Ästhetiker,« sagte Goethe, »reden zwar viel von poetischen und unpoetischen Gegenständen, und sie mögen auch in gewisser Hinsicht nicht ganz unrecht haben; allein im Grunde bleibt kein realer Gegenstand unpoetisch, sobald der Dichter ihn gehörig zu gebrauchen weiß.«

»Sehr wahr!« sagte ich, »und ich möchte wohl, daß diese Ansicht zur allgemeinen Maxime würde.«

Wir sprachen darauf aber die ›Beiden Foscari‹, wobei ich die Bemerkung machte, daß Byron ganz vortreffliche Frauen zeichne.

»Seine Frauen,« sagte Goethe, »sind gut. Es ist aber auch das einzige Gefäß, was uns Neuern noch geblieben ist, um unsere Idealität hineinzugießen. Mit den Männern ist nichts zu thun. Im Achill und Odysseus, dem Tapfersten und Klügsten, hat der Homer alles vorweggenommen.«

»Übrigens,« fuhr ich fort, »haben die ›Foscari‹ wegen der durchgehenden Folterqualen etwas Apprehensives,[151] und man begreift kaum, wie Byron im Innern dieses peinlichen Gegenstandes so lange leben konnte, um das Stück zu machen.«

»Dergleichen war ganz Byron's Element,« sagte Goethe; »er war ein ewiger Selbstquäler, solche Gegenstände waren daher seine Lieblingsthemata, wie Sie aus allen seinen Sachen sehen, unter denen fast nicht ein einziges heiteres Sujet ist. Aber nicht wahr, die Darstellung ist auch bei den ›Foscari‹ zu loben?«

»Sie ist vortrefflich,« sagte ich; »jedes Wort ist stark, bedeutend und zum Ziele führend, sowie ich überhaupt bis jetzt in Byron noch keine matte Zeile gefunden habe. Es ist mir immer als sähe ich ihn aus den Meereswellen kommen, frisch und durchdrungen von schöpferischen Urkräften.« – »Sie haben ganz recht,« sagte Goethe, »es ist so.« – »Je mehr ich ihn lese,« fuhr ich fort, »je mehr bewundere ich die Größe seines Talents, und Sie haben ganz recht gethan, ihm in der ›Helena‹ das unsterbliche Denkmal der Liebe zu setzen.«

»Ich konnte als Repräsentanten der neuesten poetischen Zeit,« sagte Goethe, »niemand gebrauchen als ihn, der ohne Frage als das größte Talent des Jahrhunderts anzusehen ist. Und dann: Byron ist nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist wie der gegenwärtige Tag selbst. Einen solchen mußte ich haben. Auch paßte er übrigens ganz wegen seines unbefriedigten Naturells und seiner kriegerischen Tendenz, woran er[152] in Missolunghi zu Grunde ging. Eine Abhandlung über Byron zu schreiben, ist nicht bequem und räthlich, aber gelegentlich ihn zu ehren und auf ihn im einzelnen hinzuweisen, werde ich auch in der Folge nicht unterlassen.«

Da die ›Helena‹ einmal zu Sprache gebracht war, so redete Goethe darüber weiter. »Ich hatte den Schluß,« sagte er, »früher ganz anders im Sinne, ich hatte ihn mir auf verschiedene Weise ausgebildet und einmal auch recht gut; aber ich will es Euch nicht verrathen. Dann brachte mir die Zeit dieses mit Lord Byron und Missolunghi, und ich ließ gern alles übrige fahren. Aber haben Sie bemerkt, der Chor fällt bei dem Trauergesang ganz aus der Rolle? Er ist früher und durchgehends antik gehalten oder verleugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit einem Mal ernst und hoch reflectirend und spricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat und auch nie hat denken können.«

»Allerdings,« sagte ich, »habe ich dieses bemerkt; allein seitdem ich Rubens' Landschaft mit den doppelten Schatten gesehen, und seitdem der Begriff der Fictionen mir aufgegangen ist, kann mich dergleichen nicht irremachen. Solche kleine Widersprüche können bei einer dadurch erreichten höhern Schönheit nicht in Betracht kommen. Das Lied mußte nun einmal gesungen werden, und da kein anderer Chor gegenwärtig war, so mußten es die Mädchen singen.«

[153] »Mich soll nur wundern,« sagte Goethe lachend, »was die deutschen Kritiker dazu sagen werden; ob sie werden Freiheit und Kühnheit genug haben, darüber hinwegzukommen. Den Franzosen wird der Verstand im Wege sein, und sie werden nicht bedenken, daß die Phantasie ihre eigenen Gesetze hat, denen der Verstand nicht beikommen kann und soll. Wenn durch die Phantasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phantasie nicht viel. Dies ist es, wodurch sich die Poesie von der Prosa unterscheidet, bei welcher der Verstand immer zu Hause ist und sein mag und soll.«

Ich freute mich dieses bedeutenden Worts und merkte es mir. Darauf schickte ich mich an zum Gehen, denn es war gegen zehn Uhr geworden. Wir saßen ohne Licht, die helle Sommernacht leuchtete aus Norden über den Ettersberg herüber.[154]


1103.*


1827, 9. Juli.


Mit Johann Peter Eckermann

Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gipspasten nach dem Stosch'schen Kabinet. »Man ist in Berlin so freundlich gewesen,« sagte er, »mir diese ganze Sammlung zur Ansicht herzusenden; ich kenne die schönen Sachen schon dem größten Theile nach,[154] hier aber sehe ich sie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann sie geordnet hat; auch benutze ich seine Beschreibung und sehe seine Meinung nach in Fällen, wo ich selber zweifle.«

Wir hatten nicht lange geredet, als der Kanzler hereintrat und sich zu uns setzte. Er erzählte uns Nachrichten aus öffentlichen Blättern, unter andern von einem Wärter einer Menagerie, der aus Gelüste nach Löwenfleisch einen Löwen getödtet und sich ein gutes Stück davon zubereitet habe. »Mich wundert,« sagte Goethe, »daß er nicht einen Affen genommen hat, welches ein gar zarter schmackhafter Bissen sein soll.« Wir sprachen über die Häßlichkeit dieser Bestien, und daß sie desto unangenehmer, je ähnlicher die Rasse dem Menschen sei. »Ich begreife nicht,« sagte der Kanzler, »wie fürstliche Personen solche Thiere in ihrer Nähe dulden, ja vielleicht gar Gefallen daran finden können.«

– »Fürstliche Personen,« sagte Goethe, »werden so viel mit widerwärtigen Menschen geplagt, daß sie die widerwärtigen Thiere als ein Heilmittel gegen dergleichen unangenehme Eindrücke betrachten. Uns andern sind Affen und Geschrei der Papageien mit Recht widerwärtig, weil wir diese Thiere hier in einer Umgebung sehen, für die sie nicht gemacht sind; wären wir aber in dem Falle, auf Elefanten unter Palmen zu reiten, so würden wir in einem solchen Element Affen und Papageien ganz gehörig, ja vielleicht gar erfreulich finden. Aber, wie gesagt, die Fürsten haben recht,[155] etwas Widerwärtiges mit etwas noch Widerwärtigerm zu vertreiben.« – »Hierbei,« sagte ich, »fällt mir ein Vers ein, den Sie vielleicht selber nicht mehr wissen:


›Wollen die Menschen Bestien sei,

So bringt nur Thiere zur Stube herein:

Das Wiederwärtige wird sich mindern;

Wir sind eben alle von Adams Kindern‹.«


Goethe lachte. »Ja,« sagte er, »es ist so. Eine Roheit kann nur durch eine andere ausgetrieben werden, die noch gewaltiger ist. Ich erinnere mich eines Falles aus meiner frühern Zeit, wo es unter den Adeligen hin und wieder noch recht bestialische Herren gab, daß bei Tafel in einer vorzüglichen Gesellschaft und in Anwesenheit von Frauen ein reicher Edelmann sehr massive Reden führte zur Unbequemlichkeit und zum Ärgerniß aller, die ihn hören mußten. Mit Worten war gegen ihn nichts auszurichten. Ein entschlossener ansehnlicher Herr, der ihm gegenübersaß, wählte daher ein anderes Mittel, indem er sehr laut eine grobe Unanständigkeit beging, worüber alle erschraken und jener Grobian mit, sodaß er sich gedämpft fühlte und nicht wieder den Mund aufthat. Das Gespräch nahm von diesem Augenblick an eine anmuthige heitere Wendung zur Freude aller Anwesenden, und man wußte jenem entschlossenen Herrn für seine unerhörte Kühnheit vielen Dank in Erwägung der trefflichen Wirkung, die sie gethan hatte.«

Nachdem wir uns an dieser heitern Anekdote ergötzt[156] hatten, brachte der Kanzler das Gespräch auf die neuesten Zustände zwischen der Oppositions- und der ministeriellen Partei zu Paris, indem er eine kräftige Rede fast wörtlich recitirte, die ein äußerst kühner Demokrat zu seiner Vertheidigung vor Gericht gegen die Minister gehalten. Wir hatten Gelegenheit, das glückliche Gedächtniß des Kanzlers abermals zu bewundern. Über jene Angelegenheit und besonders das einschränkende Preßgesetz ward zwischen Goethe und dem Kanzler viel hin und wieder gesprochen; es war ein reichhaltiges Thema, wobei sich Goethe wie immer als milder Aristokrat erwies, jener Freund aber wie bisher scheinbar auf der Seite des Volks festhielt.

»Mir ist für die Franzosen in keiner Hinsicht bange,« sagte Goethe; »sie stehen auf einer solchen Höhe welthistorischer Ansicht, daß der Geist auf keine Weise mehr zu unterdrücken ist. Das einschränkende Gesetz wird nur wohlthätig wirken, zumal da die Einschränkungen nichts Wesentliches betreffen, sondern nur gegen Persönlichkeiten gehen. Eine Opposition, die keine Grenzen hat, wird platt. Die Einschränkung aber nöthigt sie geistreich zu sein, und dies ist ein sehr großer Vortheil Direct und grob seine Meinung herauszusagen, mag nur entschuldigt werden können und gut sein, wenn man durchaus recht hat. Eine Partei aber hat nicht durchaus recht, eben weil sie Partei ist, und ihr steht daher die indirecte Weise wohl, worin die Franzosen von je große Muster waren.[157] Zu meinem Diener sage ich geradezu: ›Hans, zieh mir die Stiefel aus!‹ Das versteht er. Bin ich aber mit einem Freunde und ich wünsche von ihm diesen Dienst, so kann ich mich nicht so direct ausdrücken, sondern ich muß auf eine anmuthige, freundliche Wendung sinnen, wodurch ich ihn zu diesem Liebesdienst bewege. Die Nöthigung regt den Geist auf, und aus diesem Grunde, wie gesagt, ist mir die Einschränkung der Preßfreiheit sogar lieb. Die Franzosen haben bisher immer den Ruhm gehabt, die geistreichste Nation zu sein, und sie verdienen es zu bleiben. Wir Deutschen fallen mit unserer Meinung gern gerade heraus und haben es im Indirecten noch nicht sehr weit gebracht.

Die Pariser Parteien,« fuhr Goethe fort, »könnten noch größer sein als sie sind, wenn sie noch liberaler und freier wären und sich gegenseitig noch mehr zugeständen als sie thun. Sie stehen auf einer höhern Stufe welthistorischer Ansicht als die Engländer, deren Parlament gegeneinanderwirkende gewaltige Kräfte sind, die sich paralysiren, und wo die große Einsicht eines einzelnen Mühe hat durchzudringen, wie wir an Canning und den vielen Quengeleien sehen, die man diesem großen Staatsmanne macht.«

Wir standen auf, um zu gehen. Goethe aber war so voller Leben, daß das Gespräch noch eine weile stehend fortgesetzt wurde. Dann entließ er uns liebevoll und ich begleitete den Kanzler nach seiner Wohnung. Es war ein schöner Abend, und wir sprachen[158] im Gehen viel über Goethe. Besonders aber wiederholten wir uns gern jenes Wort, daß eine Opposition ohne Einschränkung platt werde.[159]


1104.*


1827, 15. Juli.


Mit Johann Peter Eckermann

Ich ging diesen Abend nach 8 Uhr zu Goethe, den ich soeben aus seinem Garten zurückgekehrt fand. »Sehen sie nur, was da liegt!« sagte er; »ein Roman in drei Bänden, und zwar von wem? von Manzoni!« Ich betrachtete die Bücher, die sehr schön eingebunden waren und eine Inschrift an Goethe enthielten. »Manzoni ist fleißig.« sagte ich. – »Ja, das regt sich,« sagte Goethe. – »Ich kenne nichts von Manzoni,« sagte ich, »als seine Ode auf Napoleon, die ich dieser Tage in Ihrer Übersetzung abermals gelesen und im hohen Grade bewundert habe. Jede Strophe ist ein Bild!« – »Sie haben recht,« sagte Goethe, »die Ode ist vortrefflich. Aber finden Sie, daß in Deutschland einer davon redet? Es ist so gut als ob sie gar nicht da wäre, und doch ist sie das beste Gedicht, was über diesen Gegenstand gemacht worden.«

Goethe fuhr fort die englischen Zeitungen zu lesen, in welcher Beschäftigung ich ihn beim Hereintreten gefunden. Ich nahm einen Band von Carlyle's Übersetzung[159] deutscher Romane in die Hände, und zwar den Theil, welcher Musäus und Fouqué enthielt. Der mit unserer Literatur sehr vertraute Engländer hatte den übersetzten Werken selbst immer eine Einleitung, das Leben und eine Kritik des Dichters enthaltend, vorangehen lassen. Ich las die Einleitung zu Fouqué und konnte zu meiner Freude die Bemerkung machen, daß das Leben mit Geist und vieler Gründlichkeit geschrieben, und der kritische Standpunkt, aus welchem dieser beliebte Schriftsteller zu betrachten, mit großem Verstand und vieler ruhiger milder Einsicht in poetische Verdienste bezeichnet war. Bald vergleicht der geistreiche Engländer unsern Fouqué mit der Stimme eines Sängers, die zwar keinen großen Umfang habe und nur wenige Töne enthalte, aber die wenigen gut und vom schönsten Wohlklange; dann, um seine Meinung ferner auszudrücken, nimmt er ein Gleichniß aus kirchlichen Verhältnissen her, indem er sagt, daß Fouqué an der poetischen Kirche zwar nicht die Stelle eines Bischofs oder eines andern Geistlichen vom ersten Range bekleide, vielmehr mit den Functionen eines Kaplans sich begnüge, in diesem mittlern Amte aber sich sehr wohl ausnehme.

Während ich dieses gelesen, hatte Goethe sich in seine hintern Zimmer zurückgezogen. Er sendete mir seinen Bedienten mit der Einladung, ein wenig nachzukommen, welches ich that. »Setzen Sie sich noch ein wenig zu mir,« sagte er, »daß wir noch einige Worte[160] miteinander reden. Da ist auch eine Übersetzung des Sophokles [von Thudichum] angekommen, sie liest sich gut und scheint sehr brav zu sein; ich will sie doch einmal mit Solger vergleichen. Nun, was sagen Sie zu Carlyle?« Ich erzählte ihm, was ich über Fouqué gelesen. »Ist das nicht sehr artig?« sagte Goethe; »ja, überm Meere giebt es auch gescheite Leute, die uns kennen und zu würdigen wissen.

Indessen,« fuhr Goethe fort, »fehlt es in andern Fächern uns Deutschen auch nicht an guten Köpfen. Ich habe in den ›Berliner Jahrbüchern‹ die Recension eines Historikers über Schlosser gelesen, die sehr groß ist. Sie ist Heinrich Leo unterschrieben, von welchem ich noch nichts gehört habe und nach welchem wir uns doch erkundigen müssen. Er steht höher als die Franzosen, welches in geschichtlicher Hinsicht doch etwas heißen will. Jene haften zu sehr am Realen und können das Ideelle nicht zu Kopf bringen, dieses aber besitzt der Deutsche in ganzer Freiheit. Über das indische Kastenwesen hat er die trefflichsten Ansichten. Man spricht immer viel von Aristokratie und Demokratie, die Sache ist ganz einfach diese: In der Jugend, wo wir nichts besitzen ober doch den ruhigen Besitz nicht zu schätzen wissen, sind wir Demokraten; sind wir aber in einem langen Leben zu Eigenthum gekommen, so wünschen wir dieses nicht allein gesichert, sondern wir wünschen auch, daß unsere Kinder und Enkel das Erworbene ruhig genießen mögen. Deshalb sind wir[161] im Alter immer Aristokraten ohne Ausnahme, wenn wir auch in der Jugend uns zu andern Gesinnungen hinneigten. Leo spricht über diesen Punkt mit großem Geiste.

Im ästhetischen Fache sieht es freilich bei uns am schwächsten aus, und wir können lange warten, bis wir auf einen Mann wie Carlyle stoßen. Es ist aber sehr artig, daß wir jetzt, bei dem engen Verkehr zwischen Franzosen, Engländern und Deutschen, in den Fall kommen, uns einander zu corrigiren. Das ist der große Nutzen, der bei einer Weltliteratur herauskommt und der sich immer mehr zeigen wird. Carlyle hat das Leben von Schiller geschrieben und ihn überall so beurtheilt, wie ihn nicht leicht ein Deutscher beurtheilen wird. Dagegen sind wir über Shakespeare und Byron im Klaren und wissen deren Verdienste vielleicht besser zu schätzen als die Engländer selber.«[162]


1105.*


1827, 16. Juli.


Mit Friedrich von Müller


a.

Erst diesen Abend fand ich die rechte Stunde, Goethen nach einem langen Zweigespräch über »Helena« Ihre [der Freifrau v. Beaulieu] inhaltsreichen, geist-vollen Worte1 zu zeigen. Er war ungemein davon[162] erbaut, überrascht, ergriffen. »Curios! Diese Analyse fängt genial genug von hinten an, überspringt keck und frei den ganzen ersten Theil, trifft geradezu den wichtigsten Punkt und schafft sich im Analysiren und Reproduciren alsobald ein neues, höchst dichterisches und erhabenes Wesen. Curios, curios! aber sehr geistreich, sehr liebenswürdig. Besonders ist das ›Greifen des Feuers als Spielzeug‹ und die Andeutung, ›das Gewand bleibt in den Händen der Kraft,‹ höchst originell und zart ausgesprochen. – Nun, ein solcher Leser entschädigt für tausend alberne Dunst- und Plattköpfe. Aber sie ist auch aus unserer guten Zeit, hat unsere ganze Bildungsperiode mit durchgemacht, und da müßte es schlimm sein, wenn Kraft und Schönheit in einem solchen Individuum vereint nicht ein besseres und höheres Urtheil als alle Immermanne, Tiecke und Raupachs unserer neuen Zeit haben wollte. Ja, wenn diese Frau sich nicht so sehr in der Welt verschlossen hätte – da hättet Ihr erst sehen sollen, zu welchem Gipfel weibliche Kraft aufzusteigen vermag.«


b.

Goethe bemerkte: der letzte Chor in der Helena sei bloß darum weit ausgeführter als die übrigen, weil ja jede Symphonie mit einem Uni aller Instrumente brillant zu endigen strebe.

Auf Faust zu reden kommend, sagte er: bei aller[163] Muße und Abtrennung von der Welt getrau' er sich noch jetzt denselben in drei Monaten zu beenden.

Dann sprachen wir von Immermann's Recension der Kleist'schen Schriften, die er sehr tadelte. »Die Herren schaffen und künsteln sich neue Theorien, um ihre Mittelmäßigkeit für bedeutend ausgeben zu können. Wir wollen sie gewähren lassen, unsern Weg still fortgehen und nach einigen Jahrhunderten noch von uns reden lassen.

Von der Hegel'schen Philosophie mag ich gar nichts wissen, wiewohl Hegel selbst mir ziemlich zusagt. So viel Philosophie als ich bis zu meinem seligen Ende brauche, habe ich noch allenfalls, eigentlich brauche ich gar keine. Cousin hat mir nichts Widerstrebendes, aber er begreift nicht, daß es wohl eklektische Philosophen, aber keine eklektische Philosophie geben kann. Die Sache ist so gewaltig schwer, sonst hätten die guten Menschen sich nicht seit Jahrtausenden so damit abgequält. Und sie werden es nie ganz treffen. Gott hat das nicht gewollt, sonst müßte er sie anders machen. Jeder muß selbst zusehen, wie er sich durchhilft.

Es wird viel über die Methode des Zeitgebrauchs gesprochen. Sonst hatte ich einen gewissen Cyclus von fünf oder sieben Tagen, worin ich die Beschäftigungen vertheilte; da konnte ich unglaublich viel leisten.«

Von Klopstock sagte er: »er war klein, beleibt, zierlich,[164] sehr diplomatischen Anstandes, von noblen Sitten, etwas ans Pedantische streifend, aber geistreichern Blickes, als alle seine Bilder.«


1 Nicht aufzufinden.[165]


1106.*


1827, 18. Juli.


Mit Johann Peter Eckermann

»Ich habe Ihnen zu verkündigen,« war heute Goethes erstes Wort bei Tische, »daß Manzoni's Roman [I promessi sposi] alles überflügelt, was wir in dieser Art kennen. Ich brauche Ihnen nichts weiter zu sagen, als daß das Innere, alles was aus der Seele des Dichters kommt, durchaus vollkommen ist, und daß das Äußere, alle Zeichnung von Localitäten und dergleichen, gegen die großen innern Eigenschaften um kein Haar zurücksteht. Das will etwas heißen.« Ich war verwundert und erfreut, dieses zu hören. »Der Eindruck beim Lesen,« fuhr Goethe fort, »ist der Art, daß man immer von der Rührung in die Bewunderung fällt und von der Bewunderung wieder in die Rührung, sodaß man aus einer von diesen beiden großen Wirkungen gar nicht herauskommt. Ich dächte, höher könnte man es nicht treiben. In diesem Roman sieht man erst recht, was Manzoni ist. Hier kommt sein vollendetes Inneres zum Vorschein, welches er bei seinen dramatischen Sachen zu entwickeln keine Gelegenheit hatte. Ich will nun gleich hinterher den[165] besten Roman von Walter Scott lesen, etwa den ›Waverley‹, den ich noch nicht kenne, und ich werde sehen, wie Manzoni sich gegen diesen großen englischen Schriftsteller ausnehmen wird. Manzoni's innere Bildung erscheint hier auf einer solchen Höhe, daß ihm schwerlich etwas gleichkommen kann; sie beglückt uns als eine durchaus reife Frucht. Und eine Klarheit in der Behandlung und Darstellung des Einzelnen wie der italienische Himmel selber!« – »Sind auch Spuren von Sentimentalität in ihm?« fragte ich. – »Durchaus nicht,« antwortete Goethe. »Er hat Sentiment, aber er ist ohne alle Sentimentalität; die Zustände sind männlich und rein empfunden. Ich will heute nichts weiter sagen, ich bin noch im ersten Bande, bald aber sollen Sie mehr hören.«[166]


1107.*


1827, 21. Juli.


Mit Johann Peter Eckermann

Als ich diesen Abend zu Goethe ins Zimmer trat, fand ich ihn im Lesen von Manzoni's Roman. »Ich bin schon im dritten Bande,« sagte er, indem er das Buch an die Seite legte, »und komme dabei zu vielen neuen Gedanken. Sie wissen, Aristoteles sagt vom Trauerstiele, es müsse Furcht erregen, wenn es gut sein solle. Es gilt dieses jedoch nicht bloß von der Tragödie, sondern auch von mancher andern Dichtung.[166] Sie finden es in meinem ›Gott und die Bajadere‹, Sie finden es in jedem guten Lustspiele und zwar bei der Verwickelung, ja Sie finden es sogar in den ›Sieben Mädchen in Uniform‹ [von Angely], indem wir doch immer nicht wissen können, wie der Spaß für die guten Dinger abläuft. Diese Furcht nun kann doppelter Art sein: sie kann bestehen in Angst, oder sie kann auch bestehen in Bangigkeit. Diese letztere Empfindung wird in uns rege, wenn wir ein moralisches Übel auf die handelnden Personen heranrücken und sich über sie verbreiten sehen, wie z. B. in den ›Wahlverwandtschaften‹. Die Angst aber entsteht im Leser oder Zuschauer, wenn die handelnden Personen von einer physischen Gefahr bedroht werden, z. B. in den ›Galeerensclaven‹ [von Th. Hell] und im ›Freischütz‹; ja in der Scene der Wolfsschlucht bleibt es nicht einmal bei der Angst, sondern es erfolgt eine totale Vernichtung in allen, die es sehen.

Von dieser Angst nun macht Manzoni Gebrauch und zwar mit wunderbarem Glück, indem er sie in Rührung auflöst und uns durch diese Empfindung zur Bewunderung führt. Das Gefühl der Angst ist stoffartig und wird in jedem Leser entstehen; die Bewunderung aber entspringt aus der Einsicht, wie vortrefflich der Autor sich in jedem Falle benahm, und nur der Kenner wird mit dieser Empfindung beglückt werben. Was sagen sie zu dieser Ästhetik? Wäre ich jünger, so würde ich nach dieser Theorie etwas[167] schreiben, wenn auch nicht ein Werk von solchem Umfange wie dieses von Manzoni.

Ich bin nun wirklich sehr begierig, was die Herren vom ›Globe‹ zu diesem Roman sagen werden; sie sind gescheidt genug, um das Vortreffliche daran zu erkennen; auch ist die ganze Tendenz des Werks ein rechtes Wasser auf die Mühle dieser Liberalen, wiewohl sich Manzoni sehr mäßig gehalten hat. Doch nehmen die Franzosen selten ein Werk mit so reiner Neigung auf wie wir; sie bequemen sich nicht gern zu dem Standpunkte des Autors, sondern sie finden selbst bei dem Besten immer leicht etwas, das nicht nach ihrem Sinne ist und das der Autor hätte sollen anders machen.«

Goethe erzählte mir sodann einige Stellen des Romans, um mir eine Probe zu geben, mit welchem Geiste er geschrieben. »Es kommen,« fuhr er sodann fort, »Manzoni vorzüglich vier Dinge zu statten, die zu der großen Vortrefflichkeit seines Werks beitragen. Zunächst, daß er ein ausgezeichneter Historiker ist, wodurch denn seine Dichtung die große Würde und Tüchtigkeit bekommen hat, die sie über alles dasjenige weit hinaushebt, was man gewöhnlich sich unter Roman vorstellt. Zweitens ist ihm die katholische Religion vortheilhaft, aus der viele Verhältnisse poetischer Art hervorgehen, die er als Protestant nicht gehabt haben würde; sowie es drittens seinem Werke zugute kommt, daß der Autor in revolutionären Reibungen viel gelitten,[168] die, wenn er auch persönlich nicht darin verflochten gewesen, doch seine Freunde getroffen und theils zu Grunde gerichtet haben. Und endlich viertens ist es diesem Romane günstig, daß die Handlung in der reizenden Gegend am Comersee vorgeht, deren Eindrücke sich dem Dichter von Jugend auf eingeprägt haben und die er also in- und auswendig kennt. Daher entspringt nun auch ein großes Hauptverdienst des Werks, nämlich die Deutlichkeit und das bewundernswürdige Detail in Zeichnung der Localität.«[169]


1108.*


1827, 25. Juli.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe hat in diesen Tagen einen Brief von Walter Scott erhalten, der ihm große Freude machte. Er zeigte ihn mir heute, und da ihm die englische Handschrift etwas sehr unleserlich vorkam, so bat er mich, ihm den Inhalt zu übersetzen. Es scheint, daß Goethe dem berühmten englischen Dichter zuerst geschrieben hatte und daß dieser Brief darauf eine Erwiederung ist.

Goethe hatte, wie gesagt, über diesen Brief große Freude. Er war übrigens der Meinung, als enthalte er zu viel Ehrenvolles für ihn, als daß er nicht sehr vieles davon auf Rechnung der Höflichkeit eines Mannes von Rang und hoher Weltbildung zu setzen habe.

[169] Er erwähnte sodann die gute und herzliche Art, womit Walter Scott seine Familienverhältnisse zur Sprache bringe, welche ihn als Zeichen eines brüderlichen Vertrauens im hohen Grade beglücke.

»Ich bin nun wirklich,« fuhr er fort, »auf sein Leben Napoleons' begierig, welches er mir ankündigt. Ich höre so viel Widersprechendes und Leidenschaftliches über das Buch, daß ich im voraus gewiß bin, es wird auf jeden Fall sehr bedeutend sein.«

Ich fragte nach Lockhart, und ob er sich seiner noch erinnere.

»Noch sehr wohl,« erwiederte Goethe. »seine Persönlichkeit macht einen entschiedenen Eindruck, sodaß man ihn so bald nicht wieder vergißt. Er soll, wie ich von reisenden Engländern und meiner Schwiegertochter höre, ein junger Mann sein, von dem man in der Literatur gute Dinge erwartet.

Übrigens wundere ich mich fast, daß Walter Scott kein Wort über Carlyle sagt, der doch eine so entschiedene Richtung auf das Deutsche hat, daß er ihm sicher bekannt sein muß.

An Carlyle ist es bewundernswürdig, daß er bei Beurtheilung unserer deutschen Schriftsteller besonders den geistigen und sittlichen Kern als das eigentlich Wirksame im Auge hat. Carlyle ist eine moralische Macht von großer Bedeutung. Es ist in ihm viel Zukunft vorhanden, und es ist gar nicht abzusehen, was er alles leisten und wirken wird.«[170]


1109.*


1827, 31. Juli.


Mit Friedrich von Müller u.a.

Den 31. Juli war ich mit Pölchau von Berlin bei Goethe, der sein großes Interesse an der Logierschen Erfindung1 einer neuen einfachern Musiklehre zu erkennen gab. Die Maler, sagte er, bedürften auch einer Logik.


1 Logier, Joh. Bernh., System der Musikwissenschaft. Berlin 1822.[171]


1110.*


1827, 8. August.


Mit Friedrich von Müller

Abends traf ich Goethen zu Bett, an Erkältung kränkelnd, doch munter. Ich erzählte ihm vom Staatsrath Turgeniew, er viel vom Globe. »Was ist die Feindseligkeit anders als ein Herausheben der schwachen Seiten?«[171]


1111.*


1827, 9. August.


Mit Friedrich von Müller

Heute fand ich ihn wohler. Als wir über Duelle sprachen, äußerte er: »Was kommt auf ein Menschenleben an? Eine einzige Schlacht rafft Tausende weg.[171] Es ist wichtiger, daß das Princip des Ehrenpunkts, eine gewisse Garantie gegen rohe Thätlichkeiten, lebendig erhalten werde.

Die Gesetze verjähren ja alle in mehr oder weniger Jahren, das ist bekannt. Der praktische Jurist muß sich über die einzelnen Fälle geschickt und mit Wohlwollen hinauszuhelfen suchen.«[172]


1112.*


1827, 12. August.


Mit Friedrich von Müller

Zwischen dem Hof war ich lange bei ihm. Er sprach heute viel über Farbenlehre und Naturstudium. Lehren, überliefern lasse sich jene gar nicht, man müsse sie selbst machen, durch unmittelbares Anschauen und Reflectiren. Es gelte ein Thun, kein Theoretisiren.

Sodann sprach er viel über Canning's Tod. »Man heftet sich klügelnd bei solchen großen, folgereichen Vorfällen an die Einzelnheiten vermeintlicher Ursachen. Darin liegt es nicht; es mußte so kommen, wenn auch das Einzelne anders geschehen wäre.« Dieser Glaube an eine specielle Vorsehung trat auch schon einst in seinem Parkgarten klar hervor, als er mir des Hofraths Vogel ärztliche Hülfe zu suchen anrieth. »Unser Leben kann sicherlich durch die Ärzte um keinen Tag verlängert werden, wir leben so lange es Gott bestimmt[172] hat; aber es ist ein großer Unterschied, ob wir jämmerlich, wie arme Hunde leben, oder wohl und frisch, und darauf vermag ein kluger Arzt viel.«[173]


1752.*


1827, 12. August.


Mit Friedrich von Müller

[Ergänzung zu Nr. 1112. Schluß:]


Von Bernhard's [Prinz von S.-Weimar] Reise sagte er: »Sie quält sich zu lange am Anfang an den englischen Küsten herum; ich hätte gleich in media re mit Boston angefangen.«[149]


1113.*


1827, 23. August.


Mit Friedrich von Müller u.a.

Ich traf ihn mit seinem Sohn und Töpfern bei Tische. Tagebücher der Jenaischen Bibliotheksmänner wurden vorgezeigt und deren ausnehmender Nutzen, wie überhaupt der Tagebücher und Agenda, gepriesen. »Wir schätzen ohnehin die Gegenwart zu wenig,« sagte er, »thun die meisten Dinge nur frohnweise ab, um ihrer los zu werden. Eine tägliche Übersicht des Geleisteten und Erlebten macht erst, daß man seines Thuns gewahr und froh werde, sie führt zur Gewissenhaftigkeit. Was ist die Tugend anderes als das wahrhaft Passende in jedem Zustande? Fehler und Irrthümer treten bei solcher täglichen Buchführung von selbst hervor, die Beleuchtung des Vergangenen wuchert für die Zukunft. Wir lernen den Moment würdigen, wenn wir ihn alsobald zu einem historischen machen.«

Das Gespräch kam auf die Sängerin Sonntag und nahm die heiterste und humoristischste Wendung. Er sprach von seinem Gedicht auf sie, das ihr noch verborgen, nur durch ein zweites könne es producibel werden. Sie besitze ein wahrhaft characteristisches[173] Profil, eigensinnige Selbstständigkeit und grandiose Festhaltung an Ideen ausdrückend, fast Proserpinenartig; aber nur einmal, bei einer raschen Wendung des Gesichts, als sie etwas widersprechen zu müssen glaubte, sei dieses Profil hervorgetreten. »Und gerade deßhalb achte und liebe ich sie,« versicherte er, »nicht der sentimentalen oder graziös-naiven Mienen wegen, die sie sich antrillirt.«

Witz auf Witz entquoll den beredten Lippen, heiterste und pikanteste Ausfälle nach allen Seiten. »Ich wirke nun 50 Jahre in meinen öffentlichen Geschäften nach meiner Weise, als Mensch, nicht kanzleimäßig, nicht so direct und folglich etwas minder platt. Ich suche jeden Untergebenen frei im gemessenen Kreise sich bewegen zu lassen, damit er auch fühle, daß er ein Mensch sei. Es kommt Alles auf den Geist an, den man einem öffentlichen Wesen einhaucht und auf Folge.«

Dann sprach er von Zelter's herrlichem Bilde von Vegas und wir fuhren aus.

Gelegentlich des Eckendahl'schen Namens, bemerkte er: »die Sachsen, vornehmlich die Ostfriesen, hatten von jeher mehr Cultur als die südlichern Deutschen. Was ist Cultur anderes als ein höherer Begriff von politischen und militärischen Verhältnissen? Auf die Kunst sich in der Welt zu betragen und nach Erfordern dreinzuschlagen, kommt es bei den Nationen an.«

Als er auf die Frau Großfürstin zu sprechen kam, äußerte er, wie er sie ganz vorzüglich wegen ihrer[174] entschiedenen praktischen Richtung, großen Aufmerksamkeit auf alles und vorurtheilsfreien Auffassung der menschlichen Zustände verehre. Immer sei sie gegen ihn dieselbe, gerade da wieder anknüpfend, wo sie zuletzt mit ihm zu irgend einem Punkte gelangt sei.[175]


1753.*


1827, 23. August.


Mit Friedrich von Müller

[Ergänzung zu Nr. 1113. Im Anschluß an »kommt es bei den Nationen an:]


»Nichts ist mir fataler,« – äußerte er auch – »als wenn die Leute sagen: Sie sehen wohl aus, oder besser wie das vorige Mal. Welch' alberne Anmaßung, sofort abnehmen zu wollen, wie es einem zumuthe ist.«[150]


1114.*


1827, 25. August.


Mit Gustav Parthey

Nach einem beträchtlichen Umwege gelangte ich endlich an das Haus und stieg die flachen Treppen, die ich aus Zelter's Beschreibung schon kannte, nicht ohne Herzklopfen hinan. Oben fand ich einen Diener, der mich in einen geräumigen Saal führte und Zelter's Brief nebst meiner Karte nach Goethes Zimmer trug. Nicht lange war ich allein, da öffnete sich die Thür und er trat mit freundlich ernster Miene herein. Wir setzten uns und er begann: »Mein Freund Zelter schreibt mir, daß Sie den Orient besucht haben; von wo aus haben Sie die Reise begonnen?« – Zunächst von Malta aus, nachdem ich vorher Italien und Sicilien gesehn. – »Bleiben wir vorläufig bei Malta stehn. Dieser dürre Kalkfelsen zwischen Sicilien und Afrika muß einen eigenthümlichen Character haben.«

Hierüber konnte ich nun ausführlich berichten, da ich in Malta zwei Monate auf eine Schiffsgelegenheit nach Alexandrien warten mußte. Die merkwürdig feste[175] Lage von Lavaletta mit ihren vielen trefflichen Häfen, die seltene Fruchtbarkeit im Innern, die eigent hümliche Seesalzbereitung, die Mischung der Sprache aus italienischen und arabischen Elementen, der klägliche Fall des Malteserordens im Jahre 1798 – das alles wurde mit größtem Bedachte, aber in der eingehendsten Weise besprochen. Überall trafen seine Fragen den Punkt, worauf es ankam, und eine große, ruhige Weltanschauung leuchtete aus den einzelnen Bemerkungen. Wohl hatte ich mir aus Zelter's Gesprächen einen gewaltigen Goethe construirt, aber die Wirklichkeit übertraf alles Gedachte und Eingebildete. Der sonore Baß seiner Stimme hatte noch mit 78 Jahren eine ungemeine Weichheit und war der feinsten Modulationen fähig. Bei aller innerlichen Freude über mein Glück ließ ich mich nicht von unnöthiger Redseligkeit hinreißen... Auch wußte ich wohl, daß es für das größte Laster gilt, einen Besuch, und besonders einen ersten Besuch, über die Gebühr zu verlängern. Daher wartete ich bei jedem schicklichen Abschnitte auf ein Zeichen zum Aufbruche und auf den vornehmen Entlassungsbückling. Aber es kam ganz anders und über alle meine Erwartung.

Das Gespräch über Malta ging seinen ununterbrochenen Gang; manchmal kam es mir wie ein Examen vor. In Lavaletta hatte ich täglich mehrere Stunden auf der öffentlichen Bibliothek zugebracht und mich etwas in der Literatur umgesehn. Der gelehrte Bibliothekar[176] Dr. Bellanti war mein erster Lehrer im Arabischen und machte mich auf die wichtigsten Werke aufmerksam; daher konnte ich über das meiste guten Bescheid geben und bestrebte mich, der klaren Präcision der Fragen auch in den Antworten nahe zu kommen. – Endlich erhob sich Goethe und ich schickte mich zum Abschiede an. »Wir haben« – sagte er mit der größten Freundlichkeit – »noch so viel über Ihre orientalische Reise zu sprechen, daß ich Sie bitte, solange Sie bei uns verweilen, alle Tage bei mir zu Mittag zu essen. Wenn Sie heute um 2 Uhr sich einfinden wollen, so wird mir dies sehr angenehm sein.«

.... Ich .... war zur bestimmten Zeit wieder bei Goethe; ich fand seinen Sohn, den Kammerjunker, und dessen Frau, den Kunst-Meyer und Dr. Eckermann, die.. Räthe Töpfer und Conta. Frau v. Goethe machte die angenehmste Wirthin und wies mir meinen Platz zwischen ihrem Manne und ihrem Schwiegervater an. Anfangs drehte sich das Gespräch um Tagesneuigkeiten und Alltagsgeschichten, die der Kammerjunker mit großer Emphase vortrug. Der alte Herr hielt sich still, und wenn er zuweilen einen Brocken mit hineinwarf, so zeigte sich immer der richtigste gesunde Menschenverstand und die praktische Lebensweisheit einer ruhigen Überlegung. Er fragte mich nach den Berliner Zuständen, nach seinem Freunde Zelter, nach dem Theater und andern gleichgültigen Dingen.[177]

Gegen das Ende der Mahlzeit sagte er mir: »Mit welchem Schiffe haben Sie Ihre Reise von Malta fortgesetzt?« Ich erwiederte, daß im Anfange des Herbstes die dalmatinischen Fahrzeuge, welche nach Ägypten gehn, um Korn zu holen, gern in Malta anlegen, um englische Manufacturwaaren einzunehmen, die nicht bloß nach Ägypten, sondern auch nach den ostindischen Besitzungen der Engländer verführt werden. Auf einer solchen Brigg aus Ragusa hätte ich die Fahrt in zehn Tagen zurückgelegt. – Nun war das Reisegespräch wieder in Gang gebracht und wurde von ihm im Flusse erhalten. Man sah, daß er sich vorgesetzt hatte, von den Ereignissen meiner levantinischen Wanderung ganz nach der Reihe und Schritt vor Schritt Kenntniß zu nehmen. Einzelne desultorische Fragen seines Sohnes, der bald von den Moscheen in Konstantinopel, bald von den Pyramiden bei Memphis etwas wissen wollte, machten den alten Herrn gar nicht irre, und da ich seine Absicht bald merkte, so kehrte ich immer gleich in die rechte Ordnung, zurück .....

Die großartigen Unternehmungen des Pascha Mehmed Ali, des kühnen Regenerators von Ägypten, fanden Goethes vollste Anerkennung, wogegen der Kammerjunker sich an der mörderischen Vertilgung der Mamlucken: auf der Citadelle von Kairo ergötzte. – Dann ging es in bequemer Nilfahrt bis zur Katarakte von Wadi-Halfa und auf Kameelen bis nach Dongola, wo das[178] südliche Kreuz hochaufgerichtet am nächtlichen Firmamente leuchtet, und wo die von.. Ehrenberg erbaute Citadelle der südlichste Punkt (+ 18º N. Br.) meiner Wanderung war.

Das Mahl verlängerte sich auf diese Weise bis 6 Uhr, wo wir nilabwärts bis zur reizenden windstillen Nilinsel Philä mit ihren zierlichen Tempeln und der unvergleichlichen Pracht ihres Abendhimmels zurückgekehrt waren. Beim Abschied bat ich um die Vergunst, morgen und übermorgen nicht kommen zu dürfen, weil ich nach Jena hinüberfahren wollte, um die dortige Bibliothek kennen zu lernen, aber am 28sten würde ich nicht verfehlen, meinen Glückwunsch zu dem festlichen Tage darzubringen. .....

Der alte Herr trug mir einen herzlichen Gruß an seinen Freund Knebel auf, an dem ich »einen ganz jungen Mann von 83 Jahren« finden werde, der zwar schon von 1763-73 in Potsdam als Officier gestanden, aber kürzlich erst sich verheirathet habe und Vater von zwei muntern Knaben sei.[179]


1754.*


1827, 25. August.


Bei Goethe zu Tisch

Nach Tisch bei Goethe, wo ich [v. Müller], Parthey, Conta, Vogel und Eckermann noch bei Tisch traf .... Goethe machte artige Späße über das Abfüttern seiner Enkel, denen er stets den Magen zu verderben beschuldigt werde.[150]


1115.*


1827, 28. August.


Mit Eduard Gans

[Gans war am Vormittage in Goethes Haus gekommen, als gerade König Ludwig I. von Bayern eingetroffen war, um selbst Goethen das Großkreuz des Michaelsordens zu überbringen, und hatte sich bei der dadurch entstandenen Aufregung und bei der[179] großen Zahl zum Geburtstage aufwartender Personen unbemerkt wieder entfernt, war aber auf Veranlassung v. Müller's nachher nochmals zu Goethe gegangen.]


Ich wurde ohne die geringste Schwierigkeit angenommen, und da alle Gratulanten sich bereits entfernt hatten, so wurde mir das Glück zutheil, mich mit Goethe ungefähr eine halbe Stunde lang in einem kleinen Cabinette unterhalten zu dürfen. Das Gespräch betraf die Berliner Universität, die Neigung für philosophische Studien auf derselben, die Wirksamkeit, welche Hegel fortwährend daselbst ausübe, und endlich die ›Jahrbücher [für wissenschaftliche Kritik]‹, welche Goethe zu interessiren schienen. Er meinte, wenn die Philosophie es sich zur Pflicht mache, auch auf die Sachen und Gegenstände, welche sie behandeln, Rücksicht zu nehmen, so dürfte sie um so wirksamer werden, je mehr sie freilich auch mit den Empirikern zu thun bekomme; nur werde immer die Frage entstehen, ob es zugleich möglich sei, ein großer Forscher und Beobachter und auch ein bedeutender Verallgemeinerer und Zusammenfasser zu sein. Es zeige sich namentlich jetzt an Cuvier und Geoffroy de St. Hilaire, daß diese Eigenschaften in der Regel ganz verschiedenen Menschen zutheil würden. Er traue Hegel zwar sehr viele Kenntnisse in der Natur wie in der Geschichte zu, ob aber seine philosophischen Gedanken sich nicht immer nach den neuen Entdeckungen, die man doch stets machen würde, modificiren müßten, und dadurch[180] selber ihr Kategorisches verlören, könne er zu fragen doch nicht unterlassen. Ich erwiederte, daß eine Philosophie ja gar nicht darauf Anspruch mache, für alle Zeiten eine Gedankenpresse zu sein, daß sie nur ihre Zeit vorstellen und daß mit den neuen Schritten, welche die Geschichte und die mit ihr gehenden Entdeckungen machen würden, sie auch bereit sei, ihr Typisches in flüssige Entwickelung zu verwandeln. Diese Bescheidenheit des philosophischen Bewußtseins schien Goethe zu gefallen, und er kam nunmehr auf die ›Jahrbücher‹. Ihm mißfiel eine gewisse Schwerfälligkeit und Weitläuftigkeit, welche in den einzelnen Abhandlungen läge; er tadelte meine Recension über Savigny's ›Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter‹ aus dem Gesichtspunkte, daß ich den Autor nöthigen wollte, etwas anderes zu thun, als er im Sinne habe, aber mit dem Brechen der Anonymität war er ganz einverstanden und hoffte, indem er mich entließ, die ›Jahrbücher‹ würden realisiren, was die ›Jenaer Literaturzeitung‹ einmal versprochen habe. »Was mich betrifft,« sagte er, »so will ich sehr gern den Antheil nehmen, den meine Beschäftigungen mir gestatten.« Vor meinem Weggehn lud er mich für alle folgenden Tage, die ich noch in Weimar sein würde, zum Mittagessen ein.[181]


1116.*


1827, 28. August.


Mit Gustav Parthey

Ich hatte versprochen, den Kanzler v. Müller gegen 2 Uhr von Goethes Hause zu dem großen Festmahle abzuholen. Da ich ... etwas zu früh kam, so fand ich Goethen allein. Er knüpfte gleich ein Gespräch an, nicht über meine Reisen, sondern erkundigte sich nach der Stellung, die Hegel in Berlin einnähme. Ich ... erwiederte in möglichster Kürze, daß Hegel persönlich der höchsten Achtung genieße, daß die Schwerfälligkeit seines Vortrags anfangs viele abgeschreckt, daß man sich aber bald überzeugt habe, die Verworrenheit sei nur an der Oberfläche, und unter der herben Schale liege der süße Kern eines ganz fertigen, in seiner Consequenz staunenswerthen philosophischen Gebäudes. Er erging sich nun im Allgemeinen über die Philosophie und sagte: »Kant ist der erste gewesen, der ein ordentliches Fundament gelegt. Auf diesem Grunde hat man denn in verschiedenen Richtungen weiter gebaut: Schelling hat das Object, die unendliche Breite der Natur, vorangestellt. Fichte faßte vorzugsweise das Subject auf: daher stammt sein Ich und Nicht-Ich, womit man in speculativer Hinsicht nicht viel anfangen kann. Seine Subjectivität kömmt aber auf einer andern Seite herrlich zum Vorschein, nämlich in seinem Patriotismus. Wie groß sind die Reden an die deutsche Nation! Da[182] war es an der Stelle, das Subject hervorzuheben. Wo Object und Subject sich berühren, da ist Leben; wenn Hegel mit seiner Identitätsphilosophie sich mitten zwischen Object und Subject hineinstellt und diesen Platz behauptet, so wollen wir ihn loben.«

Inzwischen hatten Müller, der Kammerjunker v. Goethe und Hofrath Riemer sich eingefunden. .... Meine freudige Überraschung war nicht gering, als Goethe mir beim Abschiede sagte: »Wir sind mit Ihrer Reise noch lange nicht fertig; Sie kommen doch morgen Mittag?«[183]


1755.*


1827, 28. August.


Mit Ludwig I. König von Bayern

Ein schnelles Beförderungsmittel ist die Eisenbahn, – schreibt er [der König] am 8. Juni 1864 an Martin Wagner – um von einem Ort an einen andern versetzt[150] zu werden, aber das Innere der Städte umgeht sie, als wenn sie nicht beständen, und vom Genuß der schönen Natur nicht mehr die Rede kann sein,... einer eingepackten, willenlosen Waare gleich schießt durch die schönsten Naturschönheiten der Mensch; Länder lernt er keine mehr kennen. »Der Duft der Pflaume ist weg!« äußerte mir bereits 1827 Goethe, und doch gab es damalen in Deutschland keine Eisenbahnen.[151]


1117.*


1827, 29. August.


Mittag bei Goethe


a.

Ich [Gans] fand alle Gäste schon versammelt; es waren meist diejenigen, die an dem vorigen Tage als Dichter und Anordner des Festes aufgetreten waren. Goethe war im großen Costume, mit allen seinen Orden angethan, und von Frauen nur seine Schwiegertochter und ihre Schwester Fräulein v. Pogwisch gegenwärtig. Als man zu Tisch gehen wollte, nahm Goethe Herrn Dr. Parthey aus Berlin und mich bei der Hand, führte uns zur Tafel, setzte sich zwischen uns und meinte, daß er sich mit Absicht den Platz zwischen den Berlinern vorbehalten habe, die so gütig gewesen wären,[183] gestern an seinem Feste zu erscheinen. In der Nähe eines solchen monumentalen Riesenwerks, wie mein Nachbar war, bedürfte es erst einiger Zeit, um mich von Erstaunen, Befangenheit und anderen erstarrenden Momenten und Einflüssen zu erholen; nach und nach thaute ich auf, endlich fühlte ich mich warm und heimisch, und glaubte nun nicht allein Bescheid auf die an mich gethanen Fragen geben zu müssen, sondern wohl auch bisweilen, freilich verschämt und nicht recht sicher, mit etwas mir Angehörigem hervorzutreten. Das Gespräch wandte sich an diesem Tage auf Personen, namentlich auf solche, die Goethe nahe befreundet waren. Er sprach mit höchster Anerkennung und Liebe von Zelter, dessen Portrait er vor wenigen Tagen erhalten hatte; er fragte nach dessen Schüler Felix Mendelssohn-Bartholdy und prophezeite diesem große Erfolge; endlich redete er auch von Schiller und namentlich von dessen Stücke ›Maria Stuart‹. Auf meine Bemerkung, daß ich die Rolle des Leicester eigentlich niemals hätte gut spielen sehen, und daß sie selbst Wolff, den ich als Schauspieler sonst sehr verehrte, nur mittelmäßig gegeben, erwiederte Goethe, daß diese Rolle ein vorzüglich gut durchdachter Character sei, daß überhaupt ›Maria Stuart‹ zu den besten Schiller'schen Arbeiten gehöre, und daß ihm wohl mancher Schauspieler vorgekommen wäre, der die Rolle des Leicester recht treffend gespielt habe.

Als einige Anwesende die Rede auf das gestrige[184] Erscheinen des Königs von Bayern und auf das Erhebende eines solchen Besuches brachten, meinte Goethe sich zu mir wendend: »Nun, wenn ich mich auch rücksichtlich Preußens nicht einer solchen Ehre zu erfreuen habe, so bin ich doch Ihrem Vaterlande den größten Dank für den Schutz schuldig, den es mir in Beziehung auf mein Eigenthum, daß heißt auf die Herausgabe meiner Werke, gewährt hat.« Er forderte nunmehr seinen Sohn auf, die Urkunde zu holen, in welcher das förmliche Privilegium ausgefertigt sich befand, und die von Sr. Majestät dem Könige und dem Generalpostmeister v. Nagler unterschrieben war. Er hielt dieses Privilegium in einer prächtigen Rolle verwahrt und sagte uns, indem er sie öffnete: »Sehen Sie, das ist der beste Orden!« – Hierauf wurde noch mancherlei über Nachdruck verhandelt, wie wünschenswerth ein allgemeines Gesetz gegen diese offene Wunde aller Autoren sei, und woher es käme, daß nur bestimmte Länder, wie z. B. Preußen, der Ehre theilhaftig seien, ihn in der Gesetzgebung als Unrecht bezeichnet zu haben. – Nachdem die Tafel aufgehoben war, sagte mir Goethe im Weggehen: »Wenn Sie morgen1 noch in Weimar sind, so kommen Sie und essen Sie mit uns en famille!«


b.

[185] Bei Goethe hatte sich zu Mittag eine zahlreichere Gesellschaft eingefunden, die auf die anmuthigste Weise durch Frau v. Goethe und ihre jüngere Schwester, Fräulein Ulrike v. Pogwisch belebt wurde. .... Außerdem waren anwesend: Consistorialdirector Peucer, Baurath Coudray, Professor Gans aus Berlin, Hofrath Riemer, Regierungsrath Töpfer, Dr. Eckermann. Goethe gab uns beiden Berlinern, dem Professor Gans und mir [Parthey], die Ehrenplätze an seiner Seite und zeigte sich überaus heiter.

Es war viel von dem französischen Journal Le Globe die Rede, in welchem einige jüngere französische Talente den schwachen Versuch machten, der deutschen Literatur, die sie meist nur aus Übersetzungen kannten, gerecht zu werden und besonders Goethes Verdienste zu würdigen. Gans that sich ein wenig darauf zugute, daß er der erste gewesen, der auf den Globe in Deutschland aufmerksam gemacht. Goethe sprach einige goldne Worte über Literatur im Allgemeinen: wie jeder Schriftsteller unbewußt und unbeirrt seinen Stein zu dem Gebäude herbeischleppe; wenn man es dann im Ganzen beschaue, so käme jeder nur insofern zur Geltung, als er seinen Platz richtig ausfülle.

Das Gespräch war stets ein allgemein belebtes, sodaß von meinen Reisen nicht noch besonders die Rede sein konnte. Dies war mir auch recht lieb;[186] denn so glücklich es mich machte, Goethen allein oder auch einem kleinen Kreise die Bilder des fernen Ostens vorzuführen, so widerstand es meinem Gefühle, an einer großen Tafel die wohlfeile Rolle des amüsanten Erzählers zu spielen. – Gar zu artig war es, daß, als Eckermann wegen seines häufigen Theaterbesuches und wegen seiner Neigung zu einer jungen Schauspielerin aufgezogen wurde, Goethe selbst an diesen Neckereien in der gutmüthigsten Weise theilnahm.

– – – – – – – – – – – – – – – – – –

Goethe fragte, ob ich zu Wasser von Ägypten nach Syrien gegangen, oder zu Lande den Spuren des neuen Alexander gefolgt sei. Ich erwiederte, daß eine ruhige Meerfahrt von drei Tagen mich von Damiette nach Akre gebracht. Die Lage von Jerusalem auf zerschnittenem Hügellande, mit der ernsten Bergkette am Todten Meere als Hintergrund, erregte Goethes ganze Aufmerksamkeit. Ich bedauerte nun in meinem Herzen, den Plan von Jerusalem in Halle bei Gesenius gelassen zu haben, indessen war mir die Sache so gegenwärtig, daß ich auf Goethes klare und präcise Fragen gute Auskunft geben konnte und zuletzt hoffen durfte, ihm ein anschauliches Bild jener welthistorischen Örtlichkeit gegeben zu haben. An die von mir besuchten syrischen Küstenstädte Jaffa, Akre, Tyrus, Sidon, Beirut knüpften sich überall die schönsten historischen Erinnerungen, und im Innern des Landes waren Tiberias, Bethlehem, Nazareth, endlich das[187] grüne Damaskus in der gelben Wüste nicht weniger merkwürdig.

Dies Gespräch zog sich wieder bis gegen 6 Uhr hin; die Gesellschaft bewegte sich ungezwungen im Saale auf und ab; ich wartete auf einen schicklichen Moment, um mit dankerfülltem Herzen Abschied zu nehmen; aber wer beschreibt mein freudiges Erstaunen, als Goethe auf mich zu kam und mich auch zu morgen Mittag einlud, »weil wir ja noch so manches zu besprechen haben.«


1 Sieh jedoch die Fußanmerkung zu Nr. 1119.[188]


1118.*


1827, 30. August.


Mittag bei Goethe


a.

Der Mittag bei Goethe wurde ganz en famille zugebracht; denn außer seinem Sohne, seiner Schwiegertochter und Fräulein v. Pogwisch war nur noch der Kanzler v. Müller zugegen, dessen freie offene Natur, große Geistesschärfe und eminente Geschäftsthätigkeit bei Goethe die vollste Anerkennung fanden. Der ehrwürdige Patriarch war in der heitersten Laune und strahlte wie eine Sonne Behagen aus.

– – – – – – – – – – – – – – – –

Meine orientalische Reise wurde nun in Beirut wieder aufgenommen; wir segelten nach Larneka in Cypern hinüber, dann bei Rhodus, Samos, Chios vorbei, an Kleinasien entlang bis Smyrna. Goethe verweilte[188] lange bei den weitläufigen Ruinen von Ephesus in der einst so fruchtbaren, jetzt versumpften und menschenleeren Ebene des Kaystros. Daß Konstantinopel an Schönheit der Lage mit Neapel wetteifere, ist bekannt; es schien ihm zu gefallen, daß ich für Neapel wegen des Vesuv und des offenen Meeres den Vorzug in Anspruch nahm. Sehr wunderbar kam es ihm vor, daß ich auf der Rückfahrt von Konstantinopel nach Smyrna an der Küste von Troja neun Tage lang in Frost und Schneegestöber vor Anker gelegen. Aber es mochte im Alterthume manchmal nicht anders gewesen sein: glaubte doch Odysseus selbst in einer stürmischen Nacht unter den Mauern von Ilion zu erfrieren. (Odyss. XIV, 462-506.)

Inzwischen ging das Tischgespräch hin und her, aber Goethe kam immer wieder auf meine Reise zurück und ließ nicht eher ab, als bis ich nach einer sehr stürmischen Winterfahrt von sechsundzwanzig Tagen aus dem Hafen von Smyrna durch den Archipel um das Kap Matapan herum endlich in den Hafen von Triest glücklich eingelaufen war.

Später erkundigte er sich nach Nicolai: wann er gestorben und wie ich mit ihm verwandt sei? Ich erwiederte: Nicolai sei 1811 im 77. Jahre gestorben; daß er in solchem Alter seine sieben Geschwister überlebt, sei nicht zu verwundern, daß ihm aber auch seine Frau und acht Kinder vorangegangen, aus denen nur meine Schwester und ich, als die Kinder seiner ältesten[189] Tochter übrig geblieben, das sei wohl ein hartes Loos zu nennen.

Walter Scott's Romane standen in jenen Jahren in ihrer höchsten Blüthe und wurden vom Lesepublicum verschlungen. Der Kammerjunker äußerte sich sehr energisch gegen diesen Autor, daß er doch gar zu viel schreibe und dafür von dem Verleger ein ganz übermäßiges Honorar erhalte. »Lieber Sohn!« sagte Goethe, »wenn Du ihm seine Vielschreiberei vorhalten wolltest, die denn doch mehr Kern hat, als unsere modernen deutschen Romane, so würde er Dir ganz ruhig seine mit Banknoten gefüllte Brieftasche vorhalten.«

Müller machte der Frau v. Goethe scherzhaft den Krieg, daß sie ihre beiden Söhne nach der damaligen medicinischen Theorie allzumäßig erzöge, und Goethe schien ihm in seiner Ansicht beizupflichten. »Da ist neulich der Wolfgang zu mir gekommen, nachdem er eben gefrühstückt hatte; ich fragte ihn, ob er noch ein Stück Brod wolle, und das hat der Knabe denn auch mit einer wahren Andacht verzehrt.«

Nach Tische wurde im ungezwungensten Gespräche beim Kaffee auf- und abspazirt. .... Bei dieser Gelegenheit wurde des unerschrockenen Benehmens der Herzogin Amalie1 gedacht. Müller erzählte darüber, daß sie nach der unglücklichen Schlacht von Jena furchtlos in Weimar geblieben sei und Napoleon's[190] Besuch abgewartet habe. Dieser kam denn auch und fuhr sie mit den Worten an: »Wie konnte Ihr Sohn2 so toll sein, mir den Krieg machen zu wollen?« – Sire, entgegnete sie ruhig, ich bin überzeugt, daß Sie ihn verachten würden, wenn er anders gehandelt hätte. Das wirkte, und von nun an behandelte Napoleon sie mit der höchsten Auszeichnung. – Goethe hörte dieser Erzählung mit großer Aufmerksamkeit zu, sodaß man aus seinen Mienen schließen durfte, sie sei ihm noch nicht bekannt gewesen; aber er sagte nichts.

Das Gespräch hatte sich wie gewöhnlich bis 6 Uhr fortgesponnen. Endlich mußte doch Abschied genommen werden, bei dem es mir unmöglich war, die Überfülle freudiger Gefühle in die geeigneten Worte zu fassen. Als Goethe vernahm, daß ich über Dresden nach Berlin zurückginge, gab er mir die herzlichsten Grüße an Frau v. d. Recke und an seinen alten Freund Zelter mit.


b.

Ich [v. Müller] hatte mich selbst heute bei Goethe zu Mittag eingeladen und fand noch Parthey von Berlin, den Enkel Nicolai's. Dieser erzählte uns seine Audienz beim Pascha von Ägypten, dem er ein besseres Zeugniß gab als andere Berichterstatter. Goethe war damit sehr einverstanden, da er den Pascha immer aus freierem Gesichtspunkte betrachtet hatte.

[191] Ich referirte darauf wie Se. M. der König von Bayern mich gestern Abend vor dem Theater zu einem Besuch im Schiller'schen Hause mitgenommen habe, wie er über die engen Räume, die Schiller bewohnt, gewehklagt und geäußert habe: hätte ich nur damals schon freie Hand gehabt, ich hätte ihm Villa di Malta in Rom eingeräumt und dort, dem Capitol gegenüber, hätte er die Geschichte des Untergangs von Rom schreiben sollen.

Allein Goethe meinte, Italien würde Schillern nicht zugesagt, ihn eher erdrückt, als gehoben haben. Seine Individualität sei durchaus nicht nach außen, nicht realistisch gewesen. Habe er doch nicht einmal die Schweiz besucht.

Goethe kam sodann auf die vielerlei Fragen und Singularitäten, die der König ihm vorgelegt, zu sprechen. Auf manche derselben habe er ausweichend, zweideutig antworten zu müssen geglaubt und geradezu erklärt, er mache es wie in der Normandie, wo, wenn man den Geistlichen frage, ob er in die Kirche gehe? immer erwiedert werde: »C'en est le chemin.«

Auch darüber, warum man Goethen den letzten Heiden genannt, habe der König gesprochen, worauf Goethe geäußert: man müsse sich doch den Rücken frei halten und so lehne er sich an die Griechen. Übrigens sei es ihm unschätzbar den König persönlich gesehen zu haben; denn nun erst könne er sich dies merkwürdige, viel bewegliche Individuum auf dem Throne allmälich[192] erklären und construiren. In derselben Zeit zu leben und diese Individualität, die mit aller Energie seines Willens so mächtig auf die Zeitgestaltung einwirke, nicht durchschaut zu haben, würde unersetzlicher Verlust gewesen sein.

Über des Königs Abschiedsworte an die junge Mad. Ridel »Gesunde Kinder, leichte Wochen« wurde viel gestritten. Goethe meinte, das sei ein Majestätsrecht von natürlichen Dingen natürlich zu sprechen.

Nach Tische wurde Goethe immer aufgeregter und herzlicher; es sei nichts Kleines, sagte er, einen so großen Eindruck, wie die Erscheinung des Königs, zu verarbeiten, ihn innerlich auszugleichen. Es koste Mühe dabei aufrecht zu bleiben und nicht zu schwindeln. Und es komme ja doch darauf an, sich diese Erscheinung innerlich anzubilden, das Bedeutende davon klar und rein sich zu entwickeln. Auch sinne er noch auf etwas, wie er dem König sich dankbar erweisen möge. Das sei aber sehr schwer, ja direct ganz unthunlich. Ich möge dazu helfen, erfinden, combiniren. Darauf schlug ich eine neue römische Elegie vor. Er lobte den Gedanken, meinte aber, er werde ihn nicht auszuführen vermögen; habe er doch auch beim Abschied der Prinzeß Marie3 nichts hervorbringen können, wie immer, wenn sein Gefühl zu mächtig aufgeregt sei. »Aus Norden« setzte er hinzu, »habe ich kürzlich die schönsten und[193] zartesten Äußerungen über meine ›Trilogie‹ und über ›Helena‹ vernommen. Jene hat man ›mit der Perlenschrift der Thränen geschrieben‹ genannt.«

Wir sprachen dann über des Großherzogs Äußerungen über ›Helena.‹ »Wie schade,« äußerte Goethe, »daß dieser großsinnige Fürst auf der Stufe französischer materieller Bildung in Rücksicht auf Poesie stehen geblieben ist.«


1 Irrig : Louise


2 Also: Gemahl


3 Prinzessin v. S. – Weimar, verm. 1827 26. Mai mit Prinz Karl von Preußen.[194]


1119.*


1827, 31. August (?).1


Mittag bei Goethe

Den andern Tag erschien [Gans] ich ebenfalls zur gehörigen Zeit und fand dieses Mal Goethe in einem Überrocke, wie er von Rauch dargestellt worden ist, auf einem Kanapee seines größeren Zimmers sitzend, und ihm gegenüber den Hofrath Meyer aus Stäfa, der der weimarischen Kunstakademie vorstand und als Künstler wie als Archäolog hinreichend bekannt ist. Beide saßen lange, ohne ein Wort mit einander zu wechseln und auch ich wagte es nicht, sie zum Gespräche zu bewegen. Einige Töne wurden zwar von der einen wie von der andern Seite vorgebracht, aber[194] ohne daß diese die Bedeutung gehabt hätten, eine Unterredung zu eröffnen. Endlich fragte Meyer nach den Fortschritten, den der Bau des Museums in Berlin mache und rechnete nunmehr Goethen weitläufig vor, was wir in Sculpturen und in Gemälden besäßen. Es kann was recht Ordentliches werden, sagte er, und die Anordnung und Aufstellung, die man vorhat, gefällt mir auch. Jetzt erschien Goethes Sohn, die Schwiegertochter, Fräulein v. Pogwisch und Herr Eckermann. Der Umstand, daß mehrere Male bei Tische Engländer angemeldet wurden, die im »Erbprinzen« abgestiegen waren, und Frau v. Goethe die Aufwartung machen wollten, brachte das Hauptgespräch auf England. Ich mußte von meinem Aufenthalt daselbst erzählen; Sitten und Eigenthümlichkeiten der Engländer wurden geschildert, und da Canning gerade vor einem halben Monat gestorben war, so gab sein Leben und sein Ende Veranlassung, ihn mit Pitt und dessen Vater, Lord Chatham, zu vergleichen. Goethe sprach von dem älteren Pitt mit Bewunderung und meinte, es sei doch in diesen alten englischen Staatsmännern mehr Lebenskraft und Ausdauer, wie in den jetzigen gewesen. Ob dieses nun in den Personen, oder eigentlicher in den Verhältnissen liege, wurde jetzt besprochen, und ich war der Meinung, daß die Leitung der heutigen Angelegenheiten ungleich schwieriger und verwickelter, als zur Zeit des amerikanischen Freiheitskrieges war, daß es also nicht wunderbar erscheinen[195] dürfe, wenn Canning's Lebenskraft durch gebieterische Umstände und durch nicht zu vermeidende Intriguen gebrochen worden sei. Obgleich Goethe selbst mir nicht uneingeschränkt eingenommen für die Engländer zu sein schien, so lobte er doch die Zartheit ihrer Formen, namentlich in ihrem Umgange... So habe z. B. ein Engländer seinen »Torquato Tasso« ins Englische übersetzt, und weil er ihm nicht zumuthen wollte, ein Manuscript durchzusehen, so habe er dasselbe in Einem Exemplare drucken lassen und ihm, damit er seine Bemerkung machen könne, überreicht. – Auch Lord Byron's wurde Erwähnung gethan und über ihn dasjenige gesagt, was schon aus andern Berichten hinreichend bekannt ist.

Die Tafel wurde rasch aufgehoben, und ich fuhr, nachdem ich mich bei Goethe beurlaubt hatte, nach Jena zurück.


1 Nach Gansens Darstellung wäre der 30. August zu setzen, was aber mit den Berichten Parthey's und v. Müller's in Widerspruch stehen würde. Vielleicht giebt Goethes Tagebuch – das für ›Goethes Gespräche‹ jetzt unzugänglich ist – einmal Aufschluß.[196]


1543.*


1827, Ende August


Mit Johanna Elkan

Für den persönlichen Verkehr [Goethes mit dem Juden Elkan] spricht die Notiz im Goethe-Zelter'schen Biefwechsel IV, 360:... »Die kleine artige Elkan aus Weimar will gerne etwas für Dich mitnehmen. Im Register des Briefwechsels werden beide stellen irrthümlich auf Madame Elkan bezogen, während sie sich in Wirklichkeit auf Fräulein Elkan beziehen. Die Betreffende, die jetzt [1887] noch als würdige Greisin – Frau Dr. Johanna Veit, Wittwe von Dr. Moritz Veit –« in Berlin lebt, hatte selbst die Güte, mich [Ludwig Geiger] auf diesen Irrthum aufmerksam zu machen. Sie besuchte, wie sie mir... erzählte, mit jenem Zelter'schen Briefe Goethe und wurde von ihm freundlich aufgenommen. Sie mußte viel von Berlin berichten und wurde durch Goethes Fragen und Aufforderungen[378] zu immer weiteren zutraulichen Berichten ermuntert. Von Goethes Bemerkungen sind der Erzählerin besonders zwei in Erinnerung geblieben: die eine, angeregt durch ihre Erzählung von dem Bau des alten Museums und der infolgedessen stattgehabten Veränderung des Lustgartens, der Niederwerfung vieler alter Bäume, daß nämlich die Architekten, wenn sie ihre Pläne ausführen wollten, nicht auf die Umgebung Rücksicht nehmen könnten; die andere, ein Urtheil über zwei junge Berliner, deren Besuch Goethe damals gehabt, Parthey und Gans:... Beide seien sehr tüchtig, Gans ein bedeutender Jurist.[379]


1120.*


1827, 5. September.


Mit Wassily Schukowsky,

Gerhard von Reutern

und Friedrich von Müller

Diesen Morgen war Goethe durch Schukowsky's und v. Reuter's Besuch so freundlich bewegt, daß ich ihn fast nie liebenswürdiger, milder und mittheilender gesehen. Was er diesen Freunden nur irgend Angenehmes, Inniges, Förderndes an Urtheil, Wink, Beifall, Liebe zuwenden konnte, holte er hervor oder sprach[196] es aus. Reuter's Zeichnungen hatten wir schon vorher durchgesehen. Er bewunderte besonders die Schärfe seiner Auffassung und Umrisse. Er schien sich wie in einer neuen, lang ersehnten, frischen Lebensatmosphäre zu befinden, während er mit Reuter von Kunst- und Natur-Darstellung sprach. Froh, daß ich die werthen Freunde zu längerem Hierbleiben beredet hatte, äußerte er: »Meine Zeit ist so eingerichtet, daß für Freunde immer genug da ist.«[197]


1121.*


1827, 6. September.


Mit Wassily Schukowsky,

Gerhard von Reutern

und Friedrich von Müller

Als Schukowsky, Reuter und ich Goethen gegen Abend besuchten, fanden wir ihn abgespannt, matt und leidend, so daß wir nicht lange verweilten. Doch äußerte er launig, als von der Sucht mancher sein wollenden Kenner, alle Bilder für Copien zu erklären, gesprochen wurde: »So haben sie uns ja auch manche alte Pergamente wie mit dem Besen ausgekehrt und weggefegt. Ich will immer lieber eine Copie für ein Original gelten lassen, als umgekehrt. Bilde ich mich doch in jenem Glauben an dem Bilde herauf. Nun laßt sie immerhin gewähren; Sonne, Mond und Sterne müssen sie uns doch lassen und können sie nicht zu Copien machen. Und daran haben wir im Nothfalle[197] genug. Wer es ernst und fleißig treibt, wird daran genug finden. Man lasse sich nur nicht irren, suche vielmehr das eigne Urtheil immer mehr zu bestätigen, in sich zu befestigen.«[198]


1122.*


1827, 7. September.


Mit Friedrich von Müller

Viel zu kalt meiner Meinung nach, nahm Goethe Schukowsky's herrliches Abschiedsgedicht auf, wiewohl er etwas Orientalisches, Tiefes, Priesterliches darin anerkannte. Er war heute ein ganz anderer wie vorgestern. Meyer's Nähe mochte einwirken, vor dem er sich gleichsam scheut, Gefühl zu zeigen. Dieser kam mir heute recht mephistophelisch vor, so kalt, so weltverachtend, so lieblos. Das Gedicht1 über Weimar, welches der König von Bayern mir aus Fulda überschickt hatte, schalt Goethe als zu subjectiv; es sei gar nicht poetisch, die Vergangenheit so tragisch zu behandeln, statt reinen Genusses und Anerkennung der Gegenwart, und jene erst todtzuschlagen, um sie besingen zu können. Vielmehr müsse man die Vergangenheit, so wie in den römischen Elegien, behandeln. Graf Löben habe auch einmal ihm, Goethen, zum Geburtstag[198] vorgesungen, wie er ihn erst nach seinem Tode recht loben wolle. Weil die Menschen die Gegenwart nicht zu würdigen, zu beleben wüßten, schmachteten sie so nach einer bessern Zukunft, coquettirten sie so mit der Vergangenheit. Auch Schukowky hätte weit mehr aufs Object hingewiesen werden müssen.

Darauf las ich ihm meine Antwort an den König vor, mit der der Großherzog und die Großherzogin sehr zufrieden gewesen waren. Sie schien ihm jedoch nicht ganz zu behagen; doch wollte er in kein Detail eingehen, entschuldigend, daß er heut zu müd' und schlaff zur Kritik sei. »Ihr macht schöne Verse ohne die Verskunst; ihr haltet passende Reden ohne die Rhetorik studirt zu haben. Das geht wohl recht gut eine Zeit lang, aber zuletzt reicht es doch nicht aus.«

Er versprach, ein andermal sich näher auszusprechen.


1 Nachruf an Weimar:

Träume her aus einem schönern Leben u. s. w. unter dem 3. Sept. an Müller gesandt.[199]


1756.*


1827, 7. September.


Mit Friedrich von Müller

[Ergänzung zu Nr. 1122. Im Anschluß an »hingewiesen werden müssen.«:]


Viel über den Plan des Gedichtes, das ich an den König machen mußte, und über den Brief, der vorhergehen sollte. In jenem keine Reflexion, keine Sentiments: reine, glanzvolle Schilderung der Persönlichkeiten, der Orte, Zustände.[151]


1123.*


1827, 8. (?) September.


Mit Wilhelm Zahn

Es war am 7. September 1827 und ich noch ein junger unbekannter Mann, als ich auf der Reise nach Berlin durch Weimar kam. Mein ganzes Denken drehte sich um Goethe, und ich beschloß, dem Gefeierten meine Aufwartung zu machen. Aber es war nicht ganz leicht, zu ihm zu gelangen. Tag für Tag von Besuchen[199] bestürmt, hielt er sich etwas abgeschlossen. Der Maler und Dichter August Kopisch, der Entdecker der blauen Grotte zu Capri, erzählte mir, wie er dem Dichterfürsten einen langen Brief geschrieben und darin um eine Audienz gebeten, aber keine Antwort erhalten habe. Ein anderer meiner Bekannten – mir fällt der Name nicht gleich bei – hatte sich bis ins Haus gewagt und war dann schüchtern auf den Hof geschlichen, um nach einem dienstbaren Geiste zu spähen; aber er traf nur zwei Knaben, die Enkel des Dichters, die wild umherrannten und einen großen Lärm trieben. Da öffnete sich plötzlich ein Fenster und der Ersehnte lehnte heraus. Mit blitzenden Augen und einer Löwenstimme, rief er herunter: »Wollt ihr Lümmel [!?] endlich Ruhe halten!« Schrie's und warf klirrend das Fenster zu. Die Knaben wurden still, und mein Freund rannte erschreckt davon. – Diese unglücklichen Geschichtchen konnten mich nicht abschrecken und ich machte mich getrost auf den Weg, obwohl ich weder einen Namen noch die geringste Empfehlung aufzuweisen hatte. .... Auf dem Flure trat mir ein Diener entgegen, dem ich meinen Namen nannte: »Zahn, Maler und Architekt.« »Maler und Architekt,« wiederholte mechanisch der Diener, indem er mich zweifelhaft musterte. »Sagen Sie Sr. Excellenz: Aus Italien kommend.« »Aus Italien kommend,« wiederholte jener und entfernte sich, worauf er alsbald zurückkehrte und mich bat, ihm zu folgen .... Wir stiegen eine schöne breite Treppe hinan; ... mein[200] Führer öffnete, ließ mich eintreten und ich befand mich in einem stattlichen Empfangzimmer. ....

Nach wenigen Augenblicken trat Goethe ein. Es ist eine tausendmal gebrauchte Phrase, daß der Dichter an Erscheinung und Wesen dem griechischen Götterkönig geglichen, aber niemand konnte leugnen, daß der Mann, der jetzt vor mir stand, seines Gleichen suchte. Das Alter ließ die hohe, kräftige, Ehrfurcht gebietende Gestalt nur noch herrlicher erscheinen. Unter der gewaltigen Stirn blitzten zwei große braune Augen, und das bronzefarbige Antlitz trug den Stempel der Hoheit und Genialität. Er hieß mich ihm gegenüber Platz nehmen und fragte mit seiner ausdrucksvollen, volltönenden Stimme, die jedoch zuweilen den Frankfurter Dialekt anklingen ließ: »Waren also in Italien?« »Drei Jahre, Excellenz.« »Haben vielleicht auch die unterirdischen Stätten bei Neapel besucht?« »Das war der eigentliche Zweck meiner Reise. Ich hatte mich in einem antiken Hause zu Pompeji behaglich eingerichtet, und während zweier Sommer geschahen alle Ausgrabungen unter meinen Augen.« »Freut mich! Höre das gern« – sagte Goethe, der eine gedrungene Redeweise liebte und gern die Pronomina wegließ. Er rückte mit seinem Stuhle mir näher und fuhr dann lebhaft fort: »Habe den Akademien zu Wien und Berlin mehrere Male gerathen, junge Künstler zum Studium der antiken Malereien nach jenen unterirdischen Herrlichkeiten zu schicken; um so schöner, wenn[201] Sie das auf eigene Hand gethan. Ja, ja! das Antike muß jedem Künstler das Vorbild bleiben. – Doch vergessen wir das Beste nicht! Haben wohl einige Zeichnungen in Ihrem Reisekoffer?« »Ich habe die schönsten der antiken Wandgemälde meist gleich nach der Entdeckung durchgezeichnet und farbig nachzubilden gesucht. Wünschen Excellenz vielleicht einige davon zu sehen?« »O gewiß, gewiß!« fiel Goethe ein; »mit freudigem Danke. – Kommen Sie nur zum Essen wieder. Speise gegen zwei Uhr. Werden noch einige Kunstfreunde finden. Sehne mich ordentlich nach Ihren Bildern. Auf Wiedersehen, mein junger Freund!« Und er bot mir seine Hand, während er die meinige freundlich drückte.

Als ich mich zur bestimmten Stunde wieder einstellte, durchschritt ich eine Reihe von Zimmern, die alle mit demselben Kunstgeschmack ausgestattet waren, und trat in den Speisesalon, wo ich Goethe und seine anderen Gäste schon anwesend fand. Da war der Oberbaudirector Coudray, der Kanzler von Müller und der Leibarzt Vogel ..... Ferner sah ich den Professor Riemer, Eckermann und Hofrath Meyer. Alle Gäste und Goethe selber waren im Frack. .... Ich saß zwischen Goethe und Fräulein Ulrike v. Pogwisch, einem Liebling des Dichters; denn er richtete häufig das Wort an sie und nahm ihre Gegenreden mit offenbarem Wohlgefallen auf. Uns gegenüber saß Frau Ottilie, die Schwiegertochter des Dichters und die[202] Schwester von Ulrike. Ich fand die Speisen äußerst wohlschmeckend und den Wein mindestens ebenso gut. Vor jedem Gaste stand eine Flasche Roth- oder Weißwein. Ich wollte mir einen klaren Kopf für den Nachtisch erhalten, weshalb ich Wasser unter meinen Wein goß. Goethe bemerkte es und äußerte tadelnd: »Wo haben Sie denn diese üble Sitte gelernt?« Die Unterhaltung war eine allgemeine, lebendige und nie stockende. Goethe leitete sie meisterhaft ohne aber jemanden zu beschränken. Um ihn saßen seine leben den Lexika, die er bei Gelegenheit aufrief; denn er mochte sich nicht selber mit dem Ballast der bloßen Stubengelehrsamkeit beschweren. Riemer vertrat die Philologie, Meyer die Kunstgeschichte und Eckermann entrollte sich als ein endloser Citatenknäuel für jedes beliebige Fach. Dazwischen lauschte er mit eingezogenem Athem den Worten des Meisters, die er wie Orakelsprüche sofort auswendig zu lernen schien. Meyer dagegen, den man wegen seiner schweizerischen Mundart den »Kunschtmeyer« nannte, verweilte auf dem Antlitze seines alten Jugendfreundes mit rührenden Blicken, die ebensoviel Zärtlichkeit wie Bewunderung ausdrückten ..... Das Gespräch verweilte besonders bei Italien und seinen Kunstschätzen. Goethe wußte auch mir die schüchterne ungelenke Zunge zu lösen und veranlaßte mich, von meinen Studien im Vatican zu erzählen. Alle erinnerten sich mit Entzücken an Rom und priesen mit Begeisterung seine Herrlichkeit. Nur Fräulein Ulrike[203] glaubte ihrer protestantischen Entrüstung gegen den Papst und seine Regierung Luft machen zu müssen. Der alte Goethe schmunzelte überlegen und reichte der Eiferin einen Zahnstocher hinüber. »Räche Dich, meine Tochter, mit diesem hier!« sprach er launig, wobei ich nicht weiß, ob er bei Überreichung dieser seltsamen Waffe eine Anspielung auf meinen Namen im Sinne hatte. Goethe hatte eine ganze Flasche geleert und schenkte sich noch aus der zweiten ein Glas ein, während man uns schon den Kaffee reichte. Dann erhoben wir uns. Es wurden Tische zusammengeschoben und darüber weiße Tücher gebreitet, worauf ich meine Zeichnungen entrollte und erklärte. Namentlich gefielen: Leda mit dem Nest, daraus Kastor, Pollux und Helena herausgucken; Achilles und Briseïs; die Vermählung der Pasithea mit dem Gotte des Schlafs; der thronende Jupiter und der thronende Bacchus – lauter farbige Durchzeichnungen von Pompejanischen Wandgemälden, die man unter einer 30 Fuß tiefen Asche wieder an die Oberwelt gezogen hatte. Goethe betrachtete jedes Gemälde mit Liebe und Inbrunst und machte dazu die feinsinnigsten, schlagendsten Bemerkungen. Sie waren mir Beweis, wie tief dieser Genius in das Wesen der Kunst und in die Geheimnisse des Hellenischen Geistes eingedrungen. Plötzlich erklangen hinter uns straffe Schritte und als ich mich wandte, erblickte ich einen untersetzten Mann in Feldmütze und kurzem, grünsammtnem Jagdrock mit goldenen Schnüren[204] besetzt. Es war der Großherzog, wie ihn Schwerdgeburth in diesem Costüm und in einem Wagen fahrend so trefflich abgebildet hat. Er war durch den Garten gekommen und durch die Hinterthür eingetreten, von der er stets den Schlüssel hatte. Goethe begrüßte ihn mit den characteristischen Worten: »Kommen recht zum Gastmahl, königliche Hoheit!« Karl August hatte eine kurze Meerschaumpfeife in der Hand, aus der er, wo's irgend anging, beständig paffte, aber jetzt ließ er sie ausgehen; denn Goethe verabscheute den Tabak. Auch gab er seinem alten Duzbruder heute das Höflichkeits-Sie. .....

Es war meine Absicht, am nächsten Tage abzureisen, aber Goethe drang in mich, mindestens noch vierzehn Tage zu verweilen und ihn täglich zu besuchen. Der Großherzog lud mich für den folgenden Tag zum Essen, doch Goethe erklärte statt meiner: »Nein, Mittags gehört Zahn mir!« Und Karl August widersprach nicht. Die meisten der Anwesenden hatten sich schon empfohlen bis auf Coudray, Eckermann und Frau Ottilie. Auch ich wollte gehen, aber Goethe hielt mich zurück und meinte: »Habe noch Appetit. Sollen uns noch ein paar Bilder zeigen.« Er hatte sich inzwischen des Fracks entledigt und den bequemen Hausrock hervorgesucht. Dann setzte er sich in einen Armstuhl, die andern umstanden ihn, und die unterdeß hereingekommenen Enkel Walther und Wolfgang schmiegten sich an den Großpapa, während ich die[205] Zeichnungen wies. Goethes Bewunderung erregten vorzugsweise: »Das Opfer der Iphigenia« und »Hercules, von einem Genius geführt, findet seinen Sohn Telephos wieder, wie ihn eine Hirschkuh säugt.« Er versank in stille Andacht und brach dann in die Worte aus: »Ja, die Alten sind auf jedem Gebiete der heiligen Kunst unerreichbar! Sehen Sie, meine Herren, ich glaube auch etwas geleistet zu haben, aber gegen einen der großen Attischen Dichter, wie Äschylos und Sophokles, bin ich doch gar nichts.«[206]


1124.*


1827, 11. September.


Mit Friedrich von Müller

und Wilhelm Zahn

Nachmittag traf ich den Künstler Zahn, der eben aus Pompeji kam, bei Goethe an. Seine Durchzeichnungen Pompejanischer Wandgemälde lagen auf dem Fußboden des Salons ausgebreitet. Goethe schwelgte in ihrem Anschauen. »Ich erbaue mich daran,« sagte er; »denn ich nenn' es erbauen, wenn man zu dem, was man für das Rechte hält, die Bestätigung und die Belege findet.«[206]


1125.*


1827, 13. September.


Beim Armbrustschützenverein

Heute war Dejeuner im Armbrust-Schützenverein. Goethe ließ seinen Dankestoast durch seinen Sohn ausbringen,[206] welcher auch seine silberne Medaille von Bovy zum Geschenk übergeben mußte und späterhin durch Stiftung einer schönen Armbrust von 1731 ein gar passendes gemüthliches Impromptu machte.

Ich [v. Müller] saß neben dem alten Herrn. »Ich bin eben im Mittelalter,« sagte er, »indem ich Luden Geschichte desselben lese, und so kommt mir die lebendige Anschauung einer solchen Tradition der Vorzeit, wie dieses Armbrustschießen eben recht. Ihr Neuern mit Eurem Centralisiren, wie wäret Ihr wohl im Stande, einem Institut so viel Lebenskraft einzuhauchen, wie diese Corporation seit Jahrhunderten bewährt hat?«

Auf der sinnreich verzierten Torte stand:


»Ein ewiger Frühling bist Du uns beglückend,

Ringsum die Welt mit Deinen Gaben schmückend.«


Bei Tische, zu dem auch ich wieder geladen war, blieb Goethe fortwährend sehr munter. Als Zahn erzählte, daß man erst etwa den achten Theil vom Pompeji ausgegraben und noch reiche Ernte, aber erst nach vielen Jahren zu gewärtigen habe, meinte Goethe: »Ei nun, um verständig und klug zu werden, haben wir schon jetzt genug, wenn wir nur wollten.«

Unter die ihm verhaßte Jean Paul'sche Einschrift der Frau von Spiegel in Walther's Stammbuch: »Der Mensch hat eine1 Minute zum Lächeln, eine zum[207] Seufzen, eine halbe nur zum Lieben; denn in Mitte2 derselben stirbt er,« schrieb er persiflirend:


»Ihrer sechzig hat die Stunde,

Mehr3 als tausend hat der Tag;

Söhnchen, werde dir die Kunde,

Was man alles leisten mag.«


1 Ungenau; es heißt dritthalb.


2 Goethe Werke: in dieser Minute.


3 Goethes Werke XV. 103: Über tausend.[208]


1757.*


1827, 15. September.


Mit Salomo Munk

Eine geraume Zeit ging ich vor Goethe's Hause auf und ab, um ihn vielleicht am Fenster zu sehen;[151] da es aber nicht gelingen wollte, so ließ ich mich nachmittags um fünf Uhr bei ihm melden mit der Bitte, ihn einige Augenblicke sprechen zu dürfen. Ich hatte das seltene Glück, sogleich vorgelassen zu werden, und Goethe unterhielt sich eine Zeit lang mit mir über meine [orientalischen] Studien, sprach mit vieler Freundlichkeit und Aufmunterung und entließ mich mit vielen Wünschen für den glücklichen Erfolg meiner Bemühungen.[152]


1126.*


1827, 8. bis 18. September.


Mit Wilhelm Zahn

Nach dem ausdrücklichen Willen Goethes kam ich an den folgenden Tagen wieder, und jedesmal mußte ich nach dem Essen meine Zeichnungen zum besten geben. Als ich dies am vierten Tage unterließ, fragte Goethe: »Wo bleiben denn Ihre Bilder?« »Excellenz haben jetzt alles gesehen, was ich besitze, und bereits zu wiederholten Malen.« »Ach!« entgegnete er, »was man alle Tage sehen sollte, kann man doch wenigstens zwei- oder dreimal sehen;« worauf ich meine Mappe von neuem öffnen mußte.

An einem Tage, als ich wieder bei Goethe speiste, erschien eine Armbrustschützengilde, welche schon seit dreihundert Jahren in Weimar besteht, und lud die Excellenz, wie sie's alljährlich zu thun pflegte, feierlichst zu ihrem Feste ein. Goethe hatte diese Einladung bisher immer ausgeschlagen, aber diesmal nahm[208] er sie nach einigem Besinnen an, was allgemein überraschte. »Gut!« erklärte er: »werde kommen, aber Zahn muß mit.« Goethe war immer ein Glückskind; auch bei diesem Feste traf er mit der Armbrust das Centrum, worauf wir uns auf dem Schützenplatze zu einem brillanten Frühstück niedersetzten. Goethe war überaus heiter und lud zu einem solennen Diner ein. Eine große Gesellschaft war versammelt, und der edle Wein floß in Strömen. Mit innigem Behagen sah er einen nach dem andern matt werden und kläglich abfallen. Ihm allein konnte der Wein nichts anhaben. ....


[Folgen ein paar ganz unwahrscheinliche Geschichten über Goethes Trinken.]


Die schönsten Stunden, die ich mit Goethe verlebte, waren einige Abende, an denen wir ganz allein waren. Dann führte er mich in das Allerheiligste, in sein überaus schlicht meublirtes Arbeitszimmer, das aber eine gewählte Handbibliothek enthielt. Eine größere war in einem besonderen Saale aufgestellt. Dann sah ich den großen Mann auch im Schlafrock. Wir aßen kalten Braten, tranken dazu eine Flasche nach der andern und zuweilen wurde es Mitternacht und darüber, ehe Goethe mich entließ, obwohl er sonst zwischen 9 und 10 Uhr zu Bett zu gehen pflegte. Er war unerschöpflich in Fragen und wußte das Beste und Geheimste aus mir herauszulocken, sodaß ich oft über mich selbst in Verwunderung gerieth. In diesen kostbaren[209] Stunden versenkte er sich in die goldenen Erinnerungen seines goldenen Lebens und ließ mich ganz in sein großes, schönes Herz blicken. Dieses Herz war ebenso groß wie sein Geist. Es kannte nicht den Schatten von Neid, sondern es umfaßte die ganze Menschheit mit warmem Wohlwollen, und es hat Hunderten mit Rath und That ausgeholfen, aber immer in der Stille, im Verborgenen.[210]


1127.*


1827, 24. September.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuhren wir ab; der Morgen war sehr schön. Die Straße geht anfänglich bergan, und da wir in der Natur nichts zu betrachten fanden, so sprach Goethe von literarischen Dingen. Ein bekannter deutscher Dichter [Streckfuß?] war dieser Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen sein Stammbuch gegeben. »Was darin für schwaches Zeug steht, glauben Sie nicht,« sagte Goethe. »Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazareth. Alle sprechen sie von den Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits, und unzufrieden wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Mißbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist,[210] um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustande zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller ächten Kraft, und nur bei der Schwäche ist es ihr gemüthlich und poetisch zu Sinne.

Ich habe ein gutes Wort gefunden,« fuhr Goethe fort, »um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die Lazareth-Poesie nennen, dagegen die ächt tyrtäische diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Muth ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen.«

Goethes Worte erhielten meine ganze Zustimmung.

Im Wagen zu unsern Füßen lag ein aus Binsen geflochtener Korb mit zwei Handgriffen, der meine Aufmerksamkeit erregte. »Ich habe ihn,« sagte Goethe, »aus Marienbad mitgebracht, wo man solche Körbe in allen Größen hat, und ich bin so an ihn gewöhnt, daß ich nicht reisen kann, ohne ihn bei mir zu führen. Sie sehen, wenn er leer ist, legt er sich zusammen und nimmt wenig Raum ein; gefüllt dehnt er sich nach allen Seiten aus und faßt mehr als man denken sollte. Er ist weich und biegsam, und dabei so zähe und stark, daß man die schwersten Sachen darin fortbringen kann.«

»Er sieht sehr malerisch und sogar antik aus,« sagte ich.

»Sie haben recht,« sagte Goethe, »er kommt der Antike nahe, denn er ist nicht allein so vernünftig und[211] zweckmäßig als möglich, sondern er hat auch dabei die einfachste, gefälligste Form, sodaß man also sagen kann: er steht auf dem höchsten Punkt der Vollendung. Auf meinen mineralogischen Excursionen in den böhmischen Gebirgen ist er mir besonders zu statten gekommen. Jetzt enthält er unser Frühstück. Hätte ich einen Hammer mit, so möchte es auch heute nicht an Gelegenheit fehlen, hin und wieder ein Stückchen abzuschlagen und ihn mit Steinen gefüllt zurückzubringen.«

Wir waren auf die Höhe gekommen und hatten die freie Aussicht auf die Hügel, hinter denen Berka liegt. Ein wenig links sahen wir in das Thal, das nach Hetschburg führt und wo auf der andern Seite der Ilm ein Berg vorliegt, der uns seine Schattenseite zukehrte und wegen der vorschwebenden Dünste des Ilmthals meinen Augen blau erschien. Ich blickte durch mein Glas auf dieselbige Stelle, und das Blau verringerte sich auffallend. Ich machte Goethen diese Bemerkung. »Da sieht man doch,« sagte ich, »wie auch bei den rein objectiven Farben das Subject eine große Rolle spielt. Ein schwaches Auge befördert die Trübe, dagegen ein geschärftes treibt sie fort oder macht sie wenigstens geringer.«

»Ihre Bemerkung ist vollkommen richtig,« sagte Goethe; »durch ein gutes Fernrohr kann man sogar das Blau der fernsten Gebirge verschwinden machen. Ja, das Subject ist bei allen Erscheinungen wichtiger als man denkt. Schon Wieland wußte dieses sehr gut,[212] denn er pflegte gewöhnlich zu sagen: Man könnte die Leute wohl amusiren, wenn sie nur amusabel wären.« Wir lachten über den heitern Geist dieser Worte.

Wir waren indes das kleine Thal hinabgefahren, wo die Straße über eine hölzerne mit einem Dach überbaute Brücke geht, unter welcher das nach Hetschburg hinabfließende Regenwetter sich ein Bette gebildet hat, das jetzt trocken lag. Chausseearbeiter waren beschäftigt, an den Seiten der Brücke einige aus röthlichem Sandstein gehauene Steine zu errichten, die Goethes Aufmerksamkeit auf sich zogen. Etwa eine Wurfsweite über die Brücke hinaus, wo die Straße sich sacht an den Hügel hinanhebt, der den Reisenden von Berka trennt, ließ Goethe halten. »Wir wollen hier ein wenig aussteigen,« sagte er, »und sehen, ob ein kleines Frühstück in freier Luft uns schmecken wird.« Wir stiegen aus und sahen uns um. Der Bediente breitete eine Serviette über einen viereckigen Steinhaufen, wie sie an den Chausseen zu liegen pflegen, und holte aus dem Wagen den aus Binsen geflochtenen Korb, aus welchem er neben frischen Semmeln gebratene Rebhühner und sauere Gurken auftischte. Goethe schnitt ein Rebhuhn durch und gab mir die eine Hälfte. Ich aß indem ich stand und herumging; Goethe hatte sich dabei auf die Ecke eines Steinhaufens gesetzt. Die Kälte der Steine, woran noch der nächtliche Thau hängt, kann ihm unmöglich gut sein, dachte ich und machte eine Besorgniß bemerklich;[213] Goethe aber versicherte, daß es ihm durch aus nicht schade, wodurch ich mich denn beruhigt fühlte und es als ein neues Zeichen ansah, wie kräftig er sich in seinem Innern empfinden müsse. Der Bediente hatte indes auch eine Flasche Wein aus dem Wagen geholt, wovon er uns einschenkte. »Unser Freund Schütze,« sagte Goethe, »hat nicht unrecht, wenn er jede Woche eine Ausflucht aufs Land macht; wir wollen ihn uns zum Muster nehmen, und wenn das Wetter sich nur einigermaßen hält, so soll dies auch unsere letzte Partie nicht gewesen sein.« Ich freute mich dieser Versicherung.

Ich verlebte darauf mit Goethe, theils in Berka, theils in Tonndorf, einen höchst merkwürdigen Tag. Er war in den geistreichsten Mittheilungen unerschöpflich; auch über den zweiten Theil des ›Faust‹, woran er damals ernstlich zu arbeiten anfing, äußerte er viele Gedanken, und ich bedauere deshalb um so mehr, daß in meinem Tagebuche sich nichts weiter notirt findet als diese Einleitung.[214]


1128.*


1827, 26. September.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe hatte mich auf diesen Morgen zu einer Spazierfahrt nach der Hottelstedter Ecke, der westlichsten Höhe des Ettersbergs, und von da nach dem Jagdschloß[214] Ettersburg einladen lassen. Der Tag war überaus schön, und wir fuhren zeitig zum Jakobsthore hinaus. Hinter Lützendorf, wo es stark bergan geht und wir nur Schritt fahren konnten, hatten wir zu allerlei Beobachtungen Gelegenheit. Goethe bemerkte rechts in den Hecken hinter dem Kammergut eine Menge Vögel und fragte mich, ob es Lerchen wären. – Du Großer und Lieber, dachte ich, der du die ganze Natur wie wenig andere durchforscht hast, in der Ornithologie scheinst du ein Kind zu sein!

»Es sind Ammern und Sperlinge,« erwiederte ich, »auch wohl einige verspätete Grasmücken, die nach abgewarteter Mauser aus dem Dickicht des Ettersbergs herab in die Gärten und Felder kommen und sich zum Fortzuge anschicken, aber Lerchen sind es nicht. Es ist nicht in der Natur der Lerche, sich auf Büsche zu setzen. Die Feld- oder Himmelslerche steigt in die Luft aufwärts und geht wieder zur Erde herab, zieht auch wohl im Herbst schaarenweise durch die Luft hin und wirft sich wiederum auf irgend ein Stoppelfeld nieder, aber sie geht nicht auf Hecken und Gebüsche. Die Baumlerche dagegen liebt den Gipfel hoher Bäume, von wo aus sie singend in die Luft steigt und wieder auf ihren Baumgipfel herabfällt. Dann giebt es noch eine andere Lerche, die man in einsamen Gegenden an der Mittagsseite von Waldblößen antrifft und die einen sehr weichen, flötenartigen, doch etwas melancholischen Gesang hat; sie hält sich nicht am Ettersberge auf,[215] der ihr zu lebhaft und zu nahe von Menschen umwohnt ist; aber auch sie geht nicht in Gebüsche.«

»Hm!« sagte Goethe, »Sie scheinen in diesen Dingen nicht eben ein Neuling zu sein.«

»Ich habe das Fach von Jugend auf mit Liebe getrieben,« erwiederte ich, »und immer Augen und Ohren dafür offen gehabt. Der ganze Wald des Ettersbergs hat wenige Stellen, die ich nicht zu wiederholten malen durchstreift bin. Wenn ich jetzt einen einzigen Ton höre, so getraue ich mir zu sagen, von welchem Vogel er kommt. Auch bin ich so weit, daß wenn man mir irgend einen Vogel bringt, der in der Gefangenschaft durch verkehrte Behandlung das Gefieder verloren hat, ich mir getraue, ihn sehr bald vollkommen gesund und wohlbefiedert wiederherzustellen.«

»Das zeigt allerdings,« erwiederte Goethe, »daß Sie in diesen Dingen bereits vieles durchgemacht haben. Ich möchte Ihnen rathen, das Studium ernstlich fortzutreiben; es muß bei Ihrer entschiedenen Richtung zu sehr guten Resultaten führen. Aber sagen Sie mir etwas über die Mauser. Sie sprachen vorhin von verspäteten Grasmücken, die nach vollendeter Mauser aus dem Dickicht des Ettersbergs in die Felder herabgekommen. Ist denn die Mauser an eine gewisse Epoche gebunden, und mausern sich alle Vögel zugleich?«

»Bei den meisten Vögeln,« erwiederte ich, »tritt sie sogleich nach vollendeter Brütezeit ein, das heißt, sobald die Jungen des letzten Geheckes so weit sind,[216] daß sie sich selber helfen können. Nun fragt es sich aber, ob der Vogel von diesem Zeitpunkte des fertigen letzten Geheckes bis zu dem seines Wegzugs zur Mauser noch den gehörigen Raum hat. Hat er ihn, so mausert er sich hier und zieht mit frischem Gefieder fort. Hat er ihn nicht, so zieht er mit seinem alten Gefieder fort und mausert sich später im warmen Süden. Denn die Vögel kommen im Frühling nicht zu gleicher Zeit zu uns, auch ziehen sie im Herbst nicht zu gleicher Zeit fort. Und dieses rührt daher, daß die eine Art sich aus einiger Kälte und rauhem Wetter weniger macht und sie mehr ertragen kann als die andere. Ein Vogel aber, der früh bei uns ankommt, zieht spät weg, und ein Vogel, der spät bei uns ankommt, zieht früh weg.

So ist schon unter den Grasmücken, die doch zu einem Geschlecht gehören, ein großer Unterschied. Die klappernde Grasmücke, oder das Müllerchen, läßt sich schon Ende März bei uns hören; vierzehn Tage später kommt die schwarzköpfige, oder der Mönch; sodann etwa nach einer Woche die Nachtigall; und erst ganz zu Ende April oder Anfang Mai die graue. Alle diese Vögel mausern sich im August bei uns, so auch die Jungen ihres ersten Geheckes; weshalb man denn Ende August junge Mönche fängt, die schon das schwarze Köpfchen haben. Die Jungen des letzten Geheckes aber ziehen mit ihrem ersten Gefieder fort und mausern sich später in südlichen Ländern; aus welchem Grunde man denn[217] Anfang September junge Mönche fangen kann, und zwar junge Männchen, die noch das rothe Köpfchen haben wie ihre Mutter.«

»Ist denn die graue Grasmücke,« fragte Goethe, »der späteste bei uns ankommende Vogel, oder kommen andere noch später?«

»Der sogenannte gelbe Spottvogel und der prächtige goldgelbe Pirol,« erwiederte ich, »kommen erst gegen Pfingsten. Beide ziehen nach vollendeter Brütezeit, gegen die Mitte August, schon wieder fort und mausern sich mit ihren Jungen im Süden. Hat man sie im Käfig, so mausern sie sich bei uns im Winter, weshalb denn diese Vögel sehr schwer durchzubringen sind. Sie verlangen sehr viel Wärme. Hängt man sie aber in die Nähe des Ofens, so verkümmern sie aus Mangel an fruchtbarer Luft; bringt man sie dagegen in die Nähe des Fensters, so verkümmern sie in der Kälte der langen Nächte.«

»Man hält dafür,« sagte Goethe, »daß die Mauser eine Krankheit oder wenigstens von körperlicher Schwäche begleitet sei.«

»Das möchte ich nicht sagen,« erwiederte ich. »Es ist ein Zustand gesteigerter Productivität, der in freier Luft herrlich vonstatten geht, ohne die geringste Beschwerde, ja bei einigermaßen kräftigen Individuen auch vollkommen gut im Zimmer. Ich habe Grasmücken gehabt, die während der ganzen Mauser ihren Gesang nicht aussetzten, ein Zeichen, daß es ihnen durchaus[218] wohl war. Zeigt sich aber ein Vogel im Zimmer während der Mauser kränklich, so ist daraus zu schließen, daß er mit dem Futter oder frischer Luft und Wasser nicht gehörig behandelt worden. Ist er im Zimmer im Laufe der Zeit aus Mangel an Luft und Freiheit so schwach geworden, das ihm die productive Kraft fehlt, um in die Mauser zu kommen, so bringe man ihn an die fruchtbare frische Luft, und die Mauser wird sogleich auf das beste vonstatten gehen. Bei einem Vogel in freier Wildniß dagegen verläuft sie sich so sanft und so allmählich, daß er es kaum gewahr wird.«

»Aber doch schienen Sie vorhin anzudeuten,« versetzte Goethe, »daß die Grasmücken sich während der Mauser in das Dickicht der Wälder ziehen.«

»Sie bedürfen während dieser Zeit,« erwiederte ich, »allerdings einiges Schutzes. Zwar verfährt die Natur auch in diesem Falle mit solcher Weisheit und Mäßigung, daß ein Vogel während der Mauser nie mit einem Male so viele Federn verliert, daß er unfähig würde, so gut zu fliegen, als die Erreichung seines Futters es verlangt. Allein es kann doch kommen, daß er z. B. mit einem Male die vierte, fünfte und sechste Schwungfeder des linken und die vierte, fünfte und sechste Schwungfeder des rechten Flügels verliert, wobei er zwar immer noch ganz gut fliegen kann, allein nicht so gut, um dem verfolgenden Raubvogel, besonders aber dem sehr schnellen und gewandten Baumfalken[219] zu entgehen, und da kommt ihm denn ein buschiges Dickicht sehr zu statten.«

»Das läßt sich hören,« erwiederte Goethe. »Schreitet aber die Mauser,« fuhr er fort, »an beiden Flügeln gleichmäßig und gewissermaßen symmetrisch vor?«

»So weit meine Beobachtungen reichen, allerdings,« erwiederte ich. »Und das ist sehr wohlthätig. Denn verlöre ein Vogel z. B. drei Schwungfedern des linken Flügels und nicht zugleich dieselben Federn des rechten, so würde den Flügeln alles Gleichgewicht fehlen und der Vogel würde sich und seine Bewegung nicht mehr in gehöriger Gewalt haben. Er würde sein wie ein Schiff, dem an der einen Seite die Segel zu schwer und an der andern zu leicht sind.«

»Ich sehe,« erwiederte Goethe, »man mag in die Natur eindringen von welcher Seite man wolle, man kommt immer auf einige Weisheit.«

Wir waren indes immerfort mühsam bergan gefahren und waren nun nach und nach oben, am Rande der Fichten. Wir kamen an einer Stelle vorbei, wo Steine gebrochen waren und ein Haufen lag. Goethe ließ halten und bat mich, abzusteigen und ein wenig nachzusehen, ob ich nichts von Versteinerungen entdecke. Ich fand einige Muscheln, auch einige zerbrochene Ammonshörner, die ich ihm zureichte, indem ich mich wieder einsetzte. Wir fuhren weiter.

»Immer die alte Geschichte!« sagte Goethe. »Immer der alte Meeresboden! Wenn man von dieser Höhe auf[220] Weimar hinabblickt und auf die mancherlei Dörfer umher, so kommt es einem vor wie ein Wunder, wenn man sich sagt, daß es eine Zeit gegeben, wo in dem weiten Thale dort unten die Walfische ihr Spiel getrieben. Und doch ist es so, wenigstens höchst wahrscheinlich. Die Möve aber, die damals über dem Meere flog, das diesen Berg bedeckte, hat sicher nicht daran gedacht, daß wir beide heute hier fahren wür den. Und wer weiß, ob nach vielen Jahrtausenden die Möve nicht abermals über diesen Berg fliegt.«

Wir waren jetzt oben auf der Höhe und fuhren rasch weiter. Rechts an unserer Seite hatten wir Eichen und Buchen und anderes Laubholz. Weimar war rückwärts nicht mehr zu sehen. Wir waren auf der westlichsten Höhe angelangt, das breite Thal der Unstrut mit vielen Dörfern und kleinen Städten lag in der heitersten Morgensonne vor uns.

»Hier ist gut sein!« sagte Goethe, indem er halten ließ. »Ich dächte, wir versuchten, wie in dieser guten Luft uns etwa ein kleines Frühstück behagen möchte.«

Wir stiegen aus und gingen auf trockenem Boden am Fuß halbwüchsiger, von vielen Stürmen verkrüppelter Eichen einige Minuten auf und ab, während Friedrich das mitgenommene Frühtück auspackte und auf einer Rasenerhöhung ausbreitete. ... Wir setzten uns mit dem Rücken nach den Eichen zu, sodaß wir während des Frühstücks die weite Aussicht über das halbe Thüringen immer vor uns hatten. Wir verzehrten[221] indes ein Paar gebratene Rebhühner mit frischem Weißbrot und tranken dazu eine Flasche sehr guten Wein, und zwar aus einer biegsamen feinen goldenen Schale, die Goethe in einem gelben Lederfutteral bei solchen Ausflügen gewöhnlich bei sich führt.

»Ich war sehr oft an dieser Stelle,« sagte er, »und dachte in spätern Jahren sehr oft, es würde das letzte Mal sein, daß ich von hier aus die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten überblickte. Allein es hält immer noch einmal zusammen, und ich hoffe, daß es auch heute nicht das letzte Mal ist, daß wir beide uns hier einen guten Tag machen. Wir wollen künftig öfter hierherkommen. Man verschrumpft in dem engen Hauswesen. Hier fühlt man sich groß und frei wie die große Natur, die man vor Augen hat, und wie man eigentlich immer sein sollte.

Ich übersehe von hier aus,« fuhr Goethe fort, »eine Menge Punkte, an die sich die reichsten Erinnerungen eines langen Lebens knüpfen. Was habe ich nicht drüben in den Bergen von Ilmenau in meiner Jugend alles durchgemacht! Dann dort unten im lieben Erfurt wie manches gute Abenteuer erlebt! Auch in Gotha war ich in frühester Zeit oft und gerne; doch seit langen Jahren so gut wie gar nicht.«

»Seit ich in Weimar bin,« bemerkte ich, »erinnere ich mich nicht, daß Sie dort waren.«

»Das hat so seine Bewandtniß,« erwiederte Goethe lachend. »Ich bin dort nicht zum besten angeschrieben.[222] Ich will Ihnen davon eine Geschichte erzählen. Als die Mutter des jetzt regierenden Herrn noch in hübscher Jugend war, befand ich mich dort sehr oft. Ich saß eines Abends bei ihr allein am Theetisch, als die beiden zehn- und zwölfjährigen Prinzen, zwei hübsche blondlockige Knaben, hereinsprangen und zu uns an den Tisch kamen. Übermüthig wie ich sein konnte, fuhr ich den beiden Prinzen mit meinen Händen in die Haare, mit den Worten: Nun, ihr Semmelköpfe, was macht ihr? Die Buben sahen mich mit großen Augen an, im höchsten Erstaunen über meine Kühnheit – und haben es mir später nie vergessen!

Ich will nun just eben nicht damit prahlen, aber es war so und lag tief in meiner Natur: ich hatte vor der bloßen Fürstlichkeit als solcher, wenn nicht zugleich eine tüchtige Menschennatur und ein tüchtiger Menschenwerth dahintersteckte, nie viel Respect. Ja es war mir selber so wohl in meiner Haut und ich fühlte mich selber so vornehm, daß, wenn man mich zum Fürsten gemacht hätte, ich es nicht eben sonderlich merkwürdig gefunden haben würde. Als man mir das Adelsdiplom gab, glaubten viele, wie ich mich dadurch möchte erhoben fühlen. Allein, unter uns, es war mir nichts, gar nichts! Wir Frankfurter Patricier hielten uns immer dem Adel gleich, und als ich das Diplom in Händen hielt, hatte ich in meinen Gedanken eben nichts weiter als was ich längst besessen.«

Wir thaten noch einen guten Trunk aus der goldenen[223] Schale und fuhren dann um die nördliche Seite des Ettersberges herum nach dem Jagdschlosse Ettersburg. Goethe ließ sämmtliche Zimmer aufschließen, die mit heitern Tapeten und Bildern behängt waren. In dem westlichen Eckzimmer des ersten Stockes sagte er mir, daß Schiller dort einige Zeit gewohnt. »Wir haben überhaupt,« fuhr er fort, »in frühester Zeit hier manchen guten Tag gehabt und manchen guten Tag verthan. Wir waren alle jung und voll Übermuth, und es fehlte uns im Sommer nicht an allerlei improvisirtem Komödienspiel und im Winter nicht an allerlei Tanz und Schlittenfahrten mit Fackeln.«

Wir gingen wieder ins Freie, und Goethe führte mich in westlicher Richtung einen Fußweg ins Holz.

»Ich will Ihnen doch auch die Buche zeigen,« sagte er, »worin wir vor funfzig Jahren unsere Namen geschnitten. – Aber wie hat sich das verändert, und wie ist das alles herangewachsen! – Das wäre denn der Baum! Sie sehen, er ist noch in der vollsten Pracht. Auch unsere Namen sind noch zu spüren, doch so verquollen und verwachsen, daß sie kaum noch herauszubringen. Damals stand diese Buche auf einem freien trockenen Platz. Es war durchaus sonnig und anmuthig umher, und wir spielten hier an schönen Sommertagen unsere improvisirten Possen. Jetzt ist es hier feucht und unfreundlich. Was sonst nur niederes Gebüsch war, ist indes zu schattigen Bäumen herangewachsen, sodaß man die[224] prächtige Buche unserer Jugend kaum noch aus dem Dickicht herausfindet.«

Wir gingen wieder nach dem Schlosse, und nachdem wir noch die ziemlich reiche Waffensammlung besehen, fuhren wir nach Weimar zurück.[225]


1129.*


1827, 27. September.


Mit Johann Peter Eckermann

Nachmittags einen Augenblick bei Goethe, wo ich Herrn Geheimrath Streckfuß aus Berlin kennen lernte, der diesen Vormittag mit ihm eine Spazierfahrt gemacht und dann zu Tische geblieben war. Als Streckfuß ging, begleitete ich ihn und machte noch einen Gang durch den Park. Bei meiner Zurückkunft über den Markt begegnete ich dem Kanzler und Raupach, mit denen ich in den Elefanten ging. Abends wieder bei Goethe, der mit mir ein neues Heft von »Kunst und Alterthum« besprach, desgleichen zwölf Blätter Bleistiftumrisse, in welchen die Gebrüder Riepenhausen die Gemälde Polygnot's in der Lesche zu Delphi nach einer Beschreibung des Pausanias wiederherzustellen versucht; ein Unternehmen, welches Goethe nicht genug anzuerkennen wußte.[225]


1130.*


1827, 1. October.


Mit Johann Peter Eckermann

Im Theater »Das Bild« von Houwald. Ich sah zwei Acte und ging dann zu Goethe, der mir die zweite Scene seines neuen ›Faust‹ vorlas.

»Ich habe in dem Kaiser,« sagte er, »einen Fürsten darzustellen gesucht, der alle möglichen Eigenschaften hat sein Land zu verlieren, welches ihm denn auch später wirklich gelingt.

Das Wohl des Reichs und seiner Unterthanen macht ihm keine Sorge; er denkt nur an sich und wie er sich von Tag zu Tag mit etwas Neuem amusire. Das Land ist ohne Recht und Gerechtigkeit, der Richter selber mitschuldig und auf der Seite der Verbrecher, die unerhörtesten Frevel geschehen ungehindert und ungestraft. Das Heer ist ohne Sold, ohne Disciplin und streift raubend umher, um sich seinen Sold selber zu verschaffen und sich selber zu helfen wie es kann. Die Staatskasse ist ohne Geld und ohne Hoffnung weiterer Zuflüsse. Im eigenen Haushalte des Kaisers sieht es nicht besser aus: es fehlt in Küche und Keller. Der Marschall, der von Tag zu Tag nicht mehr Rath zu schaffen weiß, ist bereits in den Händen wuchernder Juden, denen alles verpfändet ist, sodaß auf den kaiserlichen Tisch vorweggegessenes Brot kommt.

Der Staatsrath will Sr. Majestät über alle diese[226] Gebrechen Vorstellungen thun und ihre Abhilfe berathen; allein der gnädigste Herr ist sehr ungeneigt, solchen unangenehmen Dingen sein hohes Ohr zu leihen; er möchte sich lieber amusiren. Hier ist nun das wahre Element für Mephisto, der den bisherigen Narren schnell beseitigt und als neuer Narr und Rathgeber sogleich an der Seite des Kaisers ist.«

Goethe las die Scene und das Zwischen-Gemurmel der Menge ganz vortrefflich, und ich hatte einen sehr guten Abend.[227]


1131.*


1827, 7. October.


Mit Johann Peter Eckermann

Diesen Morgen bei sehr schönem Wetter befand ich mich mit Goethe bereits vor acht Uhr im Wagen und auf dem Wege nach Jena, wo er bis morgen Abend zu verweilen die Absicht hatte.

Dort zeitig angekommen, fuhren wir zunächst am Botanischen Garten vor, wo Goethe alle Sträuche und Gewächse in Augenschein nahm und alles in schönster Ordnung und im besten Gedeihen fand. Wir besahen ferner das Mineralogische Cabinet und einige andere naturwissenschaftliche Sammlungen und fuhren darauf zu Herrn von Knebel, der uns zu Tische erwartete.

Knebel, im höchsten Alter, eilte Goethen halb stolpernd an der Thür entgegen, um ihn in seine Arme[227] zu schließen. Darauf bei Tische ging alles sehr herzlich und munter zu; von Gesprächen jedoch entwickelte sich nichts von einiger Bedeutung. Die beiden alten Freunde hatten genug am beiderseitigen menschlich nahen Beisammensein.

Nach Tische machten wir eine Spazierfahrt in südlicher Richtung an der Saale hinauf. Ich kannte diese reizende Gegend bereits aus früherer Zeit, doch wirkte alles wieder so frisch, als hätte ich es vorher nie gesehen.

Als wir uns wieder in den Straßen von Jena befanden, ließ Goethe an einem Bach hinauffahren und an einem Hause halten, das äußerlich eben kein bedeutendes Ansehen hatte.

»Hier hat Voß gewohnt,« sagte er, »und ich will Sie doch auch auf diesem klassischen Boden einführen.« Wir durchschritten das Haus und traten in den Garten. Von Blumen und anderer Art feiner Cultur war wenig zu spüren, wir gingen auf Rasen unter lauter Obstbäumen. »Das war etwas für Ernestinen,« sagte Goethe, »die auch hier ihre trefflichen Eutiner Äpfel nicht vergessen konnte, und die sie mir rühmte als etwas ohnegleichen. Es waren aber die Äpfel ihrer Kindheit gewesen – darin lag's! Ich habe übrigens hier mit Voß und seiner trefflichen Ernestine manchen schönen Tag gehabt und gedenke der alten Zeit sehr gern. Ein Mann wie Voß wird übrigens so bald nicht wieder kommen. Es haben wenig andere auf[228] die höhere deutsche Cultur einen solchen Einfluß gehabt als er. Es war an ihm alles gesund und derb, weshalb er auch zu den Griechen kein künstliches, sondern ein rein natürliches Verhältniß hatte, woraus denn für uns andern die herrlichsten Früchte erwachsen sind. Aber von seinem Werthe durchdrungen ist wie ich, weiß gar nicht, wie er sein Andenken würdig genug ehren soll.«

Es war indes gegen sechs Uhr geworden, und Goethe fand es an der Zeit, in unser Nachtquartier zu gehen, das er im Gasthof Zum Bären hatte bestellen lassen.

Man gab uns ein geräumiges Zimmer nebst einem Alkoven mit zwei Betten. Die Sonne war noch nicht lange hinab, der Abendschein lag auf unsern Fenstern, und es war uns gemüthlich, noch eine Zeit lang ohne Licht zu sitzen.

Goethe lenkte das Gespräch auf Voß zurück. »Er war mir sehr werth,« sagte er, »und ich hätte ihn gern der Akademie und mir erhalten. Allein die Vortheile, die man ihm von Heidelberg her anbot, waren zu bedeutend, als daß wir bei unsern geringen Mitteln sie hätten aufwiegen können. Ich mußte ihn mit schmerzlicher Resignation ziehen lassen.

Ein Glück für mich war es indes,« fuhr Goethe fort, »daß ich Schillern hatte; denn so verschieden unsere beiderseitigen Naturen auch waren, so gingen doch unsere Richtungen auf Eins; welches denn unser[229] Verhältniß so innig machte, daß im Grunde keiner ohne den andern leben konnte.«

Goethe erzählte mir darauf von seinem Freunde einige Anekdoten, die mir sehr characteristisch erschienen.

»Schiller war, wie sich bei seinem großartigen Character denken läßt,« sagte er, »ein entschiedener Feind aller hohlen Ehrenbezeigungen und aller faden Vergötterung, die man mit ihm trieb oder treiben wollte. Als Kotzebue vorhatte, eine öffentliche Demonstration zu seinem Ruhme zu veranstalten, war es ihm so zuwider, daß er vor innerm Ekel darüber fast krank wurde. Ebenso war es ihm zuwider, wenn ein Fremder sich bei ihm melden ließ. Wenn er augenblicklich behindert war, ihn zu sehen, und er ihn etwa auf den Nachmittag vier Uhr bestellte, so war in der Regel anzunehmen, daß er um die bestimmte Stunde vor lauter Apprehension krank war. Auch konnte er in solchen Fällen gelegentlich sehr ungeduldig und auch wohl grob werden. Ich war Zeuge, wie er einst einen fremden Chirurgus, der, um ihm seinen Besuch zu machen, bei ihm unangemeldet eintrat, sehr heftig anfuhr, sodaß der arme Mensch, ganz verblüfft, nicht wußte wie schnell er sich sollte zurückziehen.

Wir waren, wie gesagt und wie wir alle wissen,« fuhr Goethe fort, »bei aller Gleichheit unserer Richtungen Naturen sehr verschiedener Art, und zwar nicht bloß in geistigen Dingen, sondern auch in physischen.[230] Eine Luft, die Schillern wohlthätig war, wirkte auf mich wie Gift. Ich besuchte ihn eines Tags, und da ich ihn nicht zu Hause fand und seine Frau mir sagte, daß er bald zurückkommen würde, so setzte ich mich an seinen Arbeitstisch, um mir dieses und jenes zu notiren. Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich von einem heimlichen Übelbefinden mich überschlichen fühlte, welches sich nach und nach steigerte, sodaß ich endlich einer Ohnmacht nahe war. Ich wußte anfänglich nicht, welcher Ursache ich diesen elenden mir ganz ungewöhnlichen Zustand zuschreiben sollte, bis ich endlich bemerkte, daß aus einer Schieblade neben mir ein sehr fataler Geruch strömte. Als ich sie öffnete, fand ich zu meinem Erstaunen, daß sie voll fauler Äpfel war. Ich trat sogleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wiederhergestellt fühlte. Indes war seine Frau wieder hereingetreten, die mir sagte, daß die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schillern wohlthue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne.«

»Morgen früh,« fuhr Goethe fort, »will ich Ihnen auch zeigen, wo Schiller hier in Jena gewohnt hat.«

Es war indes Licht gebracht, wir nahmen ein kleines Abendessen und saßen nachher noch eine Weile in allerlei Erinnerungen und Gesprächen.

Ich erzählte Goethen einen merkwürdigen Traum[231] aus meinen Knabenjahren, der am andern Morgen buchstäblich in Erfüllung ging.

– – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Dieses Ihr Knabenereigniß,« sagte Goethe, »ist allerdings höchst merkwürdig. Aber dergleichen liegt sehr wohl in der Natur, wenn wir auch dazu noch nicht den rechten Schlüssel haben. Wir wandeln alle in Geheimnissen. Wir sind von einer Atmosphäre umgeben, von der wir noch gar nicht wissen, was sich alles in ihr regt und wie es mit unserm Geiste in Verbindung steht. So viel ist wohl gewiß, daß in besondern Zuständen die Fühlfäden unserer Seele über ihre körperlichen Grenzen hinausreichen können und ihr ein Vorgefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die nächste Zukunft gestattet ist.«

»Etwas Ähnliches,« erwiederte ich, »habe ich erst neulich erlebt, wo ich von einem Spaziergange auf der Erfurter Chaussee zurückkam und ich etwa zehn Minuten vor Weimar den geistigen Eindruck hatte, wie an der Ecke des Theaters mir eine Person begegnete, die ich seit Jahr und Tag nicht gesehen und an die ich sehr lange ebenso wenig gedacht. Es beunruhigte mich, zu denken, daß sie mir begegnen könnte, und mein Erstaunen war daher nicht gering, als sie mir, sowie ich um die Ecke biegen wollte, wirklich an derselbigen Stelle so entgegentrat, wie ich es vor etwa zehn Minuten im Geiste gesehen hatte.«

»Das ist gleichfalls sehr merkwürdig und mehr als[232] Zufall,« erwiederte Goethe. »Wie gesagt, wir tappen alle in Geheimnissen und Wundern. Auch kann eine Seele auf die andere durch bloße stille Gegenwart entschieden einwirken, wovon ich mehrere Beispiele erzählen könnte. Es ist mir sehr oft passirt, daß wenn ich mit einem guten Bekannten ging und lebhaft an etwas dachte, dieser über das, was ich im Sinne hatte, sogleich an zu reden fing. So habe ich einen Mann gekannt, der, ohne ein Wort zu sagen, durch bloße Geistesgewalt eine in heitern Gesprächen begriffene Gesellschaft plötzlich stillzumachen imstande war. Ja er konnte auch eine Verstimmung hineinbringen, sodaß es allen unheimlich wurde.

Wir haben alle etwas von electrischen und magnetischen Kräften in uns und üben wie der Magnet selber eine anziehende und abstoßende Gewalt aus, je nachdem wir mit etwas Gleichem oder Ungleichem in Berührung kommen. Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß wenn ein junges Mädchen in einem dunkeln Zimmer sich, ohne es zu wissen, mit einem Manne befände, der die Absicht hätte sie zu ermorden, sie von seiner ihr unbewußten Gegenwart ein unheimliches Gefühl hätte, und daß eine Angst über sie käme, die sie zum Zimmer hinaus und zu ihren Hausgenossen triebe.«

»Ich kenne eine Opernscene,« entgegnete ich, »worin zwei Liebende, die lange Zeit durch große Entfernung getrennt waren, sich, ohne es zu wissen, in einem[233] dunkeln Zimmer zusammen befinden. Sie sind aber nicht lange beisammen, so fängt die magnetische Kraft an zu wirken: eins ahnt des andern Nähe, sie werden unwillkürlich zueinander hingezogen, und es dauert nicht lange, so liegt das junge Mädchen in den Armen des Jünglings.«

»Unter Liebenden,« versetzte Goethe, »ist diese magnetische Kraft besonders stark und wirkt sogar sehr in die Ferne. Ich habe in meinen Jünglingsjahren Fälle genug erlebt, wo auf einsamen Spaziergängen ein mächtiges Verlangen nach einem geliebten Mädchen mich überfiel und ich so lange an sie dachte, bis sie mir wirklich entgegenkam. ›Es wurde mir in meinem Stübchen unruhig,‹ sagte sie, ›ich konnte mir nicht helfen, ich mußte hierher.‹

So erinnere ich mich eines Falles aus den ersten Jahren meines Hierseins, wo ich sehr bald wieder in leidenschaftliche Zustände gerathen war. Ich hatte eine größere Reise gemacht und war schon seit einigen Tagen zurückgekehrt, aber durch Hofverhältnisse, die mich spät bis in die Nacht hielten, immer behindert gewesen, die Geliebte [Frau v. Stein?] zu besuchen. Auch hatte unsere Neigung bereits die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gezogen, und ich trug daher Scheu, am offenen Tage hinzugehen, um das Gerede nicht zu vergrößern. Am vierten oder fünften Abend aber konnte ich es nicht länger aushalten, und ich war auf dem Wege zu ihr und stand vor ihrem Hause, ehe ich es dachte. Ich[234] ging leise die Treppe hinauf und war im Begriff in ihr Zimmer zu treten, als ich an verschiedenen Stimmen hörte, daß sie nicht allein war. Ich ging unbemerkt wieder hinab und war schnell wieder in den dunkeln Straßen, die damals noch keine Beleuchtung hatten. Unmuthig und leidenschaftlich durchstreifte ich die Stadt in allen Richtungen wohl eine Stunde lang, und immer einmal wieder vor ihrem Hause vorbei, voll sehnsüchtiger Gedanken an die Geliebte. Ich war endlich auf dem Punkte, wieder in mein einsames Zimmer zurückkehren, als ich noch einmal an ihrem Hause vorbeiging und bemerkte, daß sie kein Licht mehr hatte. Sie wird ausgegangen sein, sagte ich zu mir selber; aber wohin in dieser Dunkelheit der Nacht? und wo soll ich ihr begegnen? Ich ging abermals durch mehrere Straßen, es begegneten mir viele Menschen, und ich war oft getäuscht, indem ich ihre Gestalt und ihre Größe zu sehen glaubte, aber bei näherm Hinzukommen immer fand, daß sie es nicht war. Ich glaubte schon damals fest an eine gegenseitige Einwirkung, und daß ich durch ein mächtiges Verlangen sie herbeiführen könne. Auch glaubte ich mich unsichtbar von höhern Wesen umgeben, die ich anflehte, ihre Schritte zu mir oder die meinigen zu ihr zu lenken. Aber was bist du für ein Thor! sagte ich dann wieder zu mir selber; noch einmal es versuchen und noch einmal zu ihr gehen wolltest du nicht, und jetzt verlangst du Zeichen und Wunder!

[235] Indessen war ich an der Esplanade hinuntergegangen und bis an das kleine Haus gekommen, das in spätern Jahren Schiller bewohnte, als es mich anwandelte umzukehren und zurück nach dem Palais und von dort eine kleine Straße rechts zu gehen. Ich hatte kaum hundert Schritte in dieser Richtung gethan, als ich eine weibliche Gestalt mir entgegenkommen sah, die der ersehnten vollkommen gleich war. Die Straße war nur von dem schwachen Licht ein wenig dämmerig, das hin und wieder durch ein Fenster drang, und da mich diesen Abend eine scheinbare Ähnlichkeit schon oft getäuscht hatte, so fühlte ich nicht den Muth, sie aufs ungewisse anzureden. Wir gingen dicht aneinander vorbei, sodaß unsere Arme sich berührten; ich stand still und blickte mich um, sie auch. ›Sind sie es?‹ sagte sie, und ich erkannte ihre liebe Stimme. ›Endlich!‹ sagte ich und war beglückt bis zu Thränen. Unsere Hände ergriffen sich. ›Nun,‹ sagte ich, ›meine Hoffnung hat mich nicht betrogen. Mit dem größten Verlangen habe ich Sie gesucht, mein Gefühl sagte mir, daß ich Sie sicher finden würde, und nun bin ich glücklich und danke Gott, daß es wahr geworden.‹ ›Aber, Sie Böser,‹ sagte sie, ›warum sind Sie nicht gekommen? Ich erfuhr heute zufällig, daß Sie schon seit drei Tagen zurück, und habe den ganzen Nach mittag geweint, weil ich dachte, Sie hätten mich vergessen. Dann vor einer Stunde ergriff mich ein Verlangen und eine Unruhe nach Ihnen, ich kann es nicht sagen. Es waren ein[236] paar Freundinnen bei mir, deren Besuch mir eine Ewigkeit dauerte. Endlich als sie fort waren, griff ich unwillkürlich nach meinem Hut und Mäntelchen, es trieb mich, in die Luft zu gehen, in die Dunkelheit hinaus, ich wußte nicht wohin. Dabei lagen Sie mir immer im Sinn, und es war mir nicht anders als müßten Sie mir begegnen.‹ Indem sie so aus treuem Herzen sprach, hielten wir unsere Hände noch immer gefaßt und drückten uns und gaben uns zu verstehen, daß die Abwesenheit unsere Liebe nicht erkaltet. Ich begleitete sie bis vor die Thür, bis in ihr Haus. Sie ging auf der finstern Treppe mir voran, wobei sie meine Hand hielt und mich ihr gewissermaßen nachzog. Mein Glück war unbeschreiblich, sowohl über das endliche Wiedersehen als auch darüber, daß mein Glaube mich nicht betrogen und mein Gefühl von einer unsichtbaren Einwirkung mich nicht getäuscht hatte.«

Goethe war in der liebevollsten Stimmung, ich hätte ihm noch Stunden lang zuhören mögen. Allein er schien nach und nach müde zu werden, und so gingen wir denn in unserm Alkoven sehr bald zu Bette.[237]


1132.*


1827, 8. October.


Mit Johann Peter Eckermann

Wir standen frühzeitig auf. Während des Ankleidens erzählte Goethe mir einen Traum der vorigen[237] Nacht, wo er sich nach Göttingen versetzt gesehen und mit dortigen Professoren seiner Bekanntschaft allerlei gute Unterhaltung gehabt.

Wir tranken einige Tassen Kaffee und fuhren sodann an dem Gebäude vor, welches die naturwissenschaftlichen Sammlungen enthält. Wir besahen das Anatomische Cabinet, allerlei Skelette von Thieren und Urthieren, auch Skelette von Menschen früherer Jahrhunderte, bei welchen Goethe die Bemerkung machte, daß ihre Zähne eine sehr moralische Rasse andeuteten.

Er ließ darauf nach der Sternwarte fahren, wo Herr Dr. Schrön uns die bedeutendsten Instrumente vorzeigte und erklärte. Auch das anstoßende Meteorologische Cabinet ward mit besonderm Interesse betrachtet, und Goethe lobte Herrn Dr. Schrön wegen der in allen diesen Dingen herrschenden großen Ordnung.

Wir gingen sodann in den Garten hinab, wo Goethe auf einem Steintisch in einer Laube ein kleines Frühstück hatte arrangiren lassen. »Sie wissen wohl kaum,« sagte er, »an welcher merkwürdigen Stelle wir uns eigentlich befinden. Hier hat Schiller gewohnt. In dieser Laube, auf diesen jetzt fast zusammengebrochenen Bänken haben wir oft an diesem alten Steintisch gesessen und manches gute und große Wort miteinander gewechselt. Er war damals noch in den Dreißigen, ich selber noch in den Vierzigen, beide noch[238] in vollstem Aufstreben, und es war etwas. Das geht alles hin und vorüber; ich bin auch nicht mehr der ich gewesen, aber die alte Erde hält Stich, und Luft und Wasser und Boden sind noch immer dieselbigen.

Gehen Sie doch nachher einmal mit Schrön hinauf und lassen sich von ihm in der Mansarde die Zimmer zeigen, die Schiller bewohnt hat.« .....

Es war indeß Mittag geworden. Wir saßen wieder im Wagen. »Ich dächte,« sagte Goethe, »wir führen nicht zu Tische nach dem Bären, sondern genössen den herrlichen Tag im Freien. Ich dächte, wir gingen nach Burgau. Wein haben wir bei uns, und dort finden wir auf jeden Fall einen guten Fisch, den man entweder sieden oder braten mag.«

Wir thaten so, und es war gar herrlich. Wir fuhren an den Ufern der Saale hinauf, an Gebüschen und Krümmungen vorbei, den anmuthigsten Weg, wie ich ihn vorhin aus Schiller's Mansarde gesehen. Wir waren sehr bald in Burgau. Wir stiegen in dem kleinen Gasthofe ab, nahe am Fluß und an der Brücke, wo es hinüber noch Lobeda geht, welches Städtchen wir, über Wiesen hin, nahe vor Augen hatten.

In dem kleinen Gasthofe war es so wie Goethe gesagt. Die Wirthin entschuldigte, daß sie auf nichts eingerichtet sei, daß es uns aber an einer Suppe und einem guten Fisch nicht fehlen solle.

Wir promenirten indeß im Sonnenschein auf der Brücke hin und her und freuten uns des Flusses, der[239] durch Flöße belebt war, die auf zusammengebundenen fichtenen Bohlen von Zeit zu Zeit unter der Brücke hinglitten und bei ihrem mühsamen nassen Geschäft überaus heiter und laut waren.

Wir aßen unsern Fisch im Freien und blieben sodann noch bei einer Flasche Wein sitzen und hatten allerlei gute Unterhaltung.

Ein kleiner Falke flog vorbei, der in seinem Flug und seiner Gestalt große Ähnlichkeit mit dem Kuckuck hatte.

»Es gab eine Zeit,« sagte Goethe, »wo das Studium der Naturgeschichte noch so weit zurück war, daß man die Meinung allgemein verbreitet fand, der Kuckuck sei nur im Sommer ein Kuckuck, im Winter aber ein Raubvogel.«

»Diese Ansicht,« erwiederte ich, »existirt im Volke auch jetzt noch. Ja man dichtet dem guten Vogel auch an, daß, sobald er völlig ausgewachsen sei, er seine eigenen Eltern verschlucke. Und so gebraucht man ihn denn als ein Gleichniß des schändlichsten Undanks. Ich kenne noch im gegenwärtigen Augenblick Leute, die sich diese Absurditäten durchaus nicht wollen ausreden lassen, und die daran so fest hängen wie an irgend einem Artikel ihres christlichen Glaubens.«

»Soviel ich weiß,« sagte Goethe, »classificirt man den Kuckuck zu den Spechten.«

»Man thut so mitunter,« erwiederte ich, »wahrscheinlich aus dem Grunde, weil zwei Zehen seiner[240] schwachen Füße eine Richtung nach hinten haben. Ich möchte ihn aber nicht dahin stellen. Er hat für die Lebensart der Spechte so wenig den starken Schnabel, der fähig wäre irgend eine abgestorbene Baumrinde zu brechen, als die scharfen, sehr starken Schwanzfedern, die geeignet wären ihn bei einer solchen Operation zu stützen. Auch fehlen seinen Zehen die zum Anhalten nöthigen scharfen Krallen, und ich halte daher seine kleinen Füße nicht für wirkliche Kletterfüße, sondern nur für scheinbare.«

»Die Herren Ornithologen,« versetzte Goethe, »sind wahrscheinlich froh, wenn sie irgend einen eigenthümlichen Vogel nur einigermaßen schicklich untergebracht haben, wogegen aber die Natur ihr freies Spiel treibt und sich um die von beschränkten Menschen gemachten Fächer wenig kümmert.«

»So wird die Nachtigall,« fuhr ich fort, »zu den Grasmücken gezählt, während sie in der Energie ihres Naturells, ihren Bewegungen und ihrer Lebensweise weit mehr Ähnlichkeit mit den Drosseln hat. Aber auch zu den Drosseln möchte ich sie nicht zählen. Sie ist ein Vogel, der zwischen beiden steht, ein Vogel für sich, so wie auch der Kuckuck ein Vogel für sich ist mit so scharf ausgesprochener Individualität wie einer.«

»Alles, was ich über den Kuckuck gehört habe,« sagte Goethe, »giebt mir für diesen merkwürdigen Vogel ein großes Interesse. Er ist eine höchst problematische Natur, ein offenbares Geheimniß, das aber nichtsdestoweniger[241] schwer zu lösen, weil es so offenbar ist. Und bei wie vielen Dingen finden wir uns nicht in demselbigen Falle! Wir stecken in lauter Wundern, und das Letzte und Beste der Dinge ist uns verschlossen. Nehmen wir nur die Bienen. Wir sehen sie nach Honig fliegen, stundenweit und zwar immer einmal in einer andern Richtung. Jetzt fliegen sie wochenlang westlich nach einem Felde von blühendem Rübsamen, dann ebenso lange nördlich nach blühender Heide, dann wieder in einer andern Richtung nach der Blüthe des Buchweizens, dann irgendwohin auf ein blühendes Kleefeld und endlich wieder in einer andern Richtung nach blühenden Linden. Wer hat ihnen aber gesagt: Jetzt fliegt dorthin, da giebt es etwas für euch! Und dann wieder dort, da giebt es etwas Neues! Und wer führt sie zurück nach ihrem Dorf und ihrer Zelle? Sie gehen wie an einem unsichtbaren Gängelbande hierhin und dorthin; was es aber eigentlich sei, wissen wir nicht. Ebenso die Lerche. Sie steigt singend auf über einem Halmenfeld, sie schwebt über einem Meere von Halmen, das der Wind hin- und herwiegt und wo die eine Welle aussieht wie die andere; sie fährt wieder hinab zu ihren Jungen und trifft, ohne zu fehlen, den kleinen Fleck, wo sie ihr Nest hat. Alle diese äußern Dinge liegen klar vor uns wie der Tag, aber ihr inneres geistiges Band ist uns verschlossen.«

»Mit dem Kuckuck,« sagte ich, »ist es nicht anders. Wir wissen von ihm, daß er nicht selber brütet, sondern[242] sein Ei in das Nest irgend eines andern Vogels legt. Wir wissen ferner, daß er es legt: in das Nest der Grasmücke, der gelben Bachstelze, des Mönchs, ferner in das Nest des Braunelle, in das Nest des Rothkehlchens und in das Nest des Zaunkönigs. Dieses wissen wir. Auch wissen wir gleichfalls, daß dieses alles Insektenvögel sind und es sein müssen, weil der Kuckuck selber ein Insektenvogel ist und der junge Kuckuck von einem Samen fressenden Vogel nicht könnte erzogen werden? Woran aber erkennt der Kuckuck, daß dieses alles auch wirklich Insektenvögel sind, da doch alle diese Genannten sowohl in ihrer Gestalt als in ihrer Farbe von einander so äußerst abweichen, und auch in ihrer Stimme und in ihren Locktönen so äußerst abweichen? Und ferner, wie kommt es, daß der Kuckuck sein Ei und sein zartes Junges Nestern anvertrauen kann, die in Hinsicht auf Structur und Temperatur, auf Trockenheit und Feuchte so verschieden sind wie nur immer möglich? Das Nest der Grasmücke ist von dürren Grashälmchen und einigen Pferdehaaren so leicht gebaut, daß jede Kälte eindringt und jeder Luftzug hindurchweht, auch von oben offen und ohne Schutz; aber der junge Kuckuck gedeiht darin vortrefflich. Das Nest des Zaunkönigs dagegen ist äußerlich von Moos, Halmen und Blättern dicht und fest gebaut und innen mit allerlei Wolle und Federn sorgfältig ausgefüttert, sodaß kein Lüftchen hindurchdringen kann; auch ist es oben gedeckt und gewölbt und nur[243] eine kleine Öffnung zum Hinein- und Hinausschlüpfen des sehr kleinen Vogels gelassen. Man sollte denken, es müßte in heißen Junitagen in solcher geschlossenen Höhle eine Hitze zum Ersticken sein. Allein der junge Kuckuck gedeiht darin aufs beste. Und wiederum wie anders ist das Nest der gelben Bachstelze! Der Vogel lebt am Wasser, an Bächen und in allerlei Nassem. Er baut sein Nest auf feuchten Tristen, in einem Büschel von Binsen. Er scharrt ein Loch in die feuchte Erde und legt es dürftig mit einigen Grashälmchen aus, sodaß der junge Kuckuck durchaus im Feuchten und Kühlen gebrütet wird und heranwachsen muß. Und dennoch gedeiht er wiederum vortrefflich. Was ist das aber für ein Vogel, für den im zartesten Kindesalter Feuchtes und Trockenes, Hitze und Kälte, Abweichungen, die für jeden andern Vogel tödtlich wären, durchaus gleichgültige Dinge sind! Und wie weiß der alte Kuckuck, daß sie es sind, da er doch selber im erwachsenen Alter für Nässe und Kälte so sehr empfindlich ist?«

»Wir stehen hier,« erwiederte Goethe, »eben vor einem Geheimniß. Aber sagen Sie mir doch, wenn Sie es beobachtet haben, wie bringt der Kuckuck sein Ei in das Nest des Zaunkönigs, da es doch nur eine so geringe Öffnung hat, daß er nicht hineinkommen und er sich nicht selber daraufsetzen kann?«

»Er legt es auf irgend eine trockene Stelle,« erwiederte ich, »und bringt es mit dem Schnabel hinein.[244] Auch glaube ich, daß er nicht bloß beim Zaunkönig, sondern auch bei den übrigen Nestern so thut. Denn auch die Nester der andern Insektenvögel, wenn sie auch oben offen, sind doch so klein oder so nahe von Zweigen umgeben, daß der große langschwänzige Kuckuck sich nicht daraufsetzen könnte. Dies ist sehr wohl zu denken. Allein wie es kommen mag, daß der Kuckuck ein so außerordentlich kleines Ei legt, ja so klein als wäre es das Ei eines kleinen Insektenvogels, das ist ein neues Räthsel, das man im stillen bewundert, ohne es lösen zu können. Das Ei des Kuckucks ist nur um ein weniges größer als das der Grasmücke, und es darf im Grunde nicht größer sein, wenn die kleinen Insektenvögel es brüten sollen. Dies ist durchaus gut und vernünftig. Allein daß die Natur, um im speciellen Falle weise zu sein, von einem durchgehenden großen Gesetz abweicht, wonach vom Kolibri bis zum Strauß zwischen der Größe des Eies und der Größe des Vogels ein entschiedenes Verhältniß stattfindet, dieses willkürliche Verfahren, sage ich, ist durchaus geeignet uns zu überraschen und uns in Erstaunen zu setzen.«

»Es setzt uns allerdings in Erstaunen,« erwiederte Goethe, »weil unser Standpunkt zu klein ist, als daß wir es übersehen könnten. Wäre uns mehr eröffnet, so würden wir auch diese scheinbaren Abweichungen wahrscheinlich im Umfange des Gesetzes finden. Doch fahren Sie fort und sagen Sie mir mehr. Weiß man denn nicht, wie viele Eier der Kuckuck legen mag?«

[245] »Wer darüber etwas mit Bestimmtheit sagen wollte,« antwortete ich, »wäre ein großer Thor. Der Vogel ist sehr flüchtig, er ist bald hier und bald dort. Man findet von ihm in einem einzigen Nest immer nur ein einziges Ei. Er legt sicherlich mehrere; allein wer weiß wo sie hingerathen, und wer kann ihm nachkommen! Gesetzt aber, er legte fünf Eier, und diese wür den alle fünf glücklich ausgebrütet und von liebevollen Pflegeeltern herangezogen, so hat man wiederum zu bewundern, daß die Natur sich entschließen mag, für fünf junge Kuckucke wenigstens funfzig Junge unserer besten Singvögel zu opfern.«

»In dergleichen Dingen,« erwiederte Goethe, »pflegt die Natur auch in andern Fällen nicht eben scrupulös zu sein. Sie hat einen großen Etat von Leben zu vergeuden, und sie thut es gelegentlich ohne sonderliches Bedenken. Wie aber kommt es, daß für einen einzigen jungen Kuckuck so viele junge Singvögel verloren gehen?«

»Zunächst,« erwiederte ich, »geht die erste Brut verloren. Denn im Fall auch die Eier des Singvogels neben dem Kuckucksei, wie es wohl geschieht, mit ausgebrütet würden, so haben doch die Eltern über den entstandenen größern Vogel eine solche Freude und für ihn eine solche Zärtlichkeit, daß sie nur an ihn denken und nur ihn füttern, worüber denn ihre eigenen kleinen Jungen zu Grunde gehen und aus dem Neste verschwinden. Auch ist der junge Kuckuck immer begierig[246] und bedarf so viel Nahrung, als die kleinen Insektenvögel nur immer herbeischleppen können. Es dauert sehr lange, ehe er seine vollständige Größe und sein vollständiges Gefieder erreicht und ehe er fähig ist, das Rest zu verlassen und sich zum Gipfel eines Baumes zu erheben. Ist er aber auch längst ausgeflogen, so verlangt er doch noch fortwährend gefüttert zu werden, sodaß der ganze Sommer darüber hingeht und die liebevollen Pflegeeltern ihrem großen Kinde immer nachziehen und an eine zweite Brut nicht denken. Aus diesem Grunde gehen denn über einen einzigen jungen Kuckuck so viele andere junge Vögel verloren.«

»Das ist sehr überzeugend,« erwiederte Goethe. »Doch sagen Sie mir, wird denn der junge Kuckuck, sobald er ausgeflogen ist, auch von andern Vögeln gefüttert, die ihn nicht gebrütet haben? Es ist mir als hätte ich dergleichen gehört.«

»Es ist so.« antwortete ich. »Sobald der junge Kuckuck sein niederes Nest verlassen und seinen Sitz etwa in dein Gipfel einer hohen Eiche genommen hat, läßt er einen lauten Ton hören, welcher sagt, daß er da sei. Nun kommen alle kleinen Vögel der Nachbarschaft, die ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen. Es kommt die Grasmücke, es kommt der Mönch, die gelbe Bachstelze fliegt hinauf, ja der Zaunkönig, dessen Naturell es ist, beständig in niedern Hecken und dichten Gebüschen zu schlüpfen, überwindet seine Natur und erhebt sich dem geliebten Ankömmling entgegen[247] zum Gipfel der hohen Eiche. Das Paar aber, das ihn erzogen hat, ist mit dem Füttern treuer, während die übrigen nur gelegentlich mit einem guten Bissen herzufliegen.«

»Es scheint also.« sagte Goethe, »zwischen dem jungen Kuckuck und den kleinen Insektenvögeln eine große Liebe zu bestehen.«

»Die Liebe der kleinen Insektenvögel zum jungen Kuckuck,« erwiederte ich, »ist so groß, daß wenn man einem Neste nahe kommt, in welchem ein junger Kuckuck gehegt wird, die kleinen Pflegeeltern vor Schreck und Furcht und Sorge nicht wissen wie sie sich gebärden sollen. Besonders der Mönch drückt eine große Verzweiflung aus, sodaß er fast wie in Krämpfen am Boden flattert.«

»Merkwürdig genug,« erwiederte Goethe, »aber es läßt sich denken. Allein etwas sehr problematisch erscheint mir, daß z.B. ein Grasmückenpaar, das im Begriff ist eigenen Eier zu brüten, dem alten Kuckuck erlaubt, ihrem Neste nahe zu kommen und sein Ei hineinzulegen.«

»Das ist freilich sehr räthselhaft,« erwiederte ich; »doch nicht so ganz. Denn eben dadurch, daß alle kleinen Insektenvögel den ausgeflogenen Kuckuck füttern, und daß ihn also auch die füttern, die ihn nicht gebrütet haben, dadurch entsteht und erhält sich zwischen beiden eine Art Verwandtschaft, sodaß sie sich fortwährend kennen und als Glieder einer einzigen großen[248] Familie betrachten. Ja es kann sogar kommen, daß derselbige Kuckuck, den ein paar Grasmücken im vorigen Jahre ausgebrütet und erzogen haben, ihnen in diesem Jahre sein Ei bringt.«

»Das läßt sich allerdings hören,« erwiederte Goethe, »so wenig man es auch begreift. Ein Wunder aber bleibt es mir immer, daß der junge Kuckuck auch von solchen Vögeln gefüttert wird, die ihn nicht gebrütet und erzogen.«

»Es ist freilich ein Wunder,« erwiederte ich; »doch giebt es wohl etwas Analoges. Ja ich ahne in dieser Richtung sogar ein großes Gesetz, das tief durch die ganze Natur geht.

Ich hatte einen jungen Hänfling gefangen, der schon zu groß war, um sich von Menschen füttern zu lassen, aber noch zu jung, um allein zu fressen. Ich gab mir mit ihm einen halben Tag viel Mühe; da er aber durchaus nichts annehmen wollte, so setzte ich ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten Sänger, den ich schon seit Jahr und Tag im Käfig gehabt und der außen vor meinem Fenster hing. Ich dachte: wenn der Junge sieht wie der Alte frißt, so wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm nachmachen. Er that aber nicht so, sondern eröffnete seinen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn der alte Hänfling sich seiner sogleich erbarmte und ihn als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es sein eigenes.

[249] Ferner brachte man mir eine graue Grasmücke und drei Junge, die ich zusammen in einen großen Käfig that, und die die Alte fütterte. Am andern Tage brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nachtigallen, die ich auch zu der Grasmücke that und die von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden. Darauf nach einigen Tagen setzte ich noch ein Nest mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und ferner noch ein Nest mit fünf jungen Plattmönchen. Diese alle nahm die Grasmücke an und fütterte sie und sorgte für sie als treue Mutter. Sie hatte immer den Schnabel voll Ameiseneier und war bald in der einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der andern, und wo nur immer eine hungrige Kehle sich öffnete, da war sie da. Ja noch mehr! Auch das eine indeß herangewachsene Junge der Grasmücke fing an einige der Kleineren zu füttern, zwar noch spielend und etwas kinderhaft, aber doch schon mit entschiedenem Triebe, es der trefflichen Mutter nachzuthun.«

»Da stehen wir allerdings vor etwas Göttlichem,« sagte Goethe, »das mich in ein freudiges Erstaunen setzt. Wäre es wirklich daß dieses Füttern eines Fremden als etwas Allgemein-Gesetzliches durch die Natur ginge, so wäre damit manches Räthsel gelöst, und man könnte mit Überzeugung sagen, daß Gott sich der verwaisten jungen Raben erbarme, die ihn anrufen.«

»Etwas Allgemein-Gesetzliches,« erwiederte ich, »scheint es allerdings zu sein; denn ich habe auch im[250] milden Zustande dieses hilfreiche Füttern und dieses Erbarmen gegen Verlassene beobachtet.

Ich hatte im vorigen Sommer in der Nähe von Tiefurt zwei junge Zaunkönige gefangen, die wahrscheinlich erst gang kürzlich ihr Nest verlassen hatten, denn sie saßen in einem Busch auf einem Zweige nebst sieben Geschwistern in einer Reihe und ließen sich von ihren Alten füttern. Ich nahm die jungen Vögel in mein seidenes Taschentuch und ging in der Richtung nach Weimar bis ans Schießhaus, dann rechts nach der Wiese an der Ilm hinunter und an dem Badeplatz vorüber, und dann wieder links in das kleine Gehölz. Hier, dachte ich, hast du Ruhe, um einmal nach deinen Zaunkönigen zu sehen. Als ich aber das Tuch öffnete, entschlüpften sie mir beide und waren sogleich im Gebüsch und Grase verschwunden, sodaß mein Suchen nach ihnen vergebens war. Am dritten Tage kam ich zufällig wieder an dieselbige Stelle, und da ich die Locktöne eines Rothkehlchen hörte, so vermuthete ich ein Nest in der Nähe, welches ich nach einigem Umherspähen auch wirklich fand. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich in diesem Nest neben beinahe flüggen jungen Rothkehlchen auch meine beiden jungen Zaunkönige fand, die sich hier ganz gemüthlich untergethan hatten und sich von den alten Rothkehlchen füttern ließen. Ich war im hohen Grade glücklich über diesen höchst merkwürdigen Fund. Da ihr so klug seid, dachte ich bei mir selber, und euch so hübsch habt zu[251] helfen gewußt, und da auch die guten Rothkehlchen sich euerer so hilfreich angenommen, so bin ich weit entfernt so gastfreundliche Verhältnisse zu stören, im Gegentheil wünsche ich euch das allerbeste Gedeihen.«

»Das ist eine der besten ornithologischen Geschichten, die mir je zu Ohren gekommen,« sagte Goethe. »Stoßen Sie an, Sie sollen leben, und Ihre glücklichen Beobachtungen mit! Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Propheten. Das ist es nun, was ich die Allgegenwart Gottes nenne, der einen Theil seiner unendlichen Liebe überall verbreitet und eingepflanzt hat und schon im Thiere dasjenige als Knospe andeutet, was im edeln Menschen zur schönsten Blüthe kommt. Fahren Sie ja in Ihren Studien und Ihren Beobachtungen fort! Sie scheinen darin ein besonderes Glück zu haben und können noch ferner zu ganz unschätzbaren Resultaten kommen.«

Indeß wir nun so an unserm Tische in freier Natur uns über gute und tiefe Dinge unterhielten, neigte sich die Sonne den Gipfeln der westlichen Hügel zu, und Goethe fand es an der Zeit, unsern Rückweg anzutreten. Wir fuhren rasch durch Jena, und nachdem wir im Bären bezahlt und noch einen kurzen Besuch bei Frommann's gemacht, ging es im scharfen Trabe nach Weimar.[252]


1133.*


1827, 18. October.


Abendgesellschaft bei Goethe

Hegel ist hier, den Goethe persönlich sehr hoch schätzt, wenn auch einige seiner Philosophie entsprossenen Früchte ihm nicht sonderlich munden wollen. Goethe gab ihm zu Ehren diesen Abend einen Thee, wobei auch Zelter gegenwärtig, der aber noch diese Nacht wieder abzureisen im Sinne hatte.

Man sprach sehr viel über Hamann, wobei besonders Hegel das Wort führte und über jenen außerordentlichen Geist so gründliche Ansichten entwickelte, wie sie nur aus dem ernstesten und gewissenhaftesten Studium des Gegenstandes hervorgehen konnten.

Sodann wendete sich das Gespräch auf das Wesen der Dialektik. »Es ist im Grunde nichts weiter,« sagte Hegel, »als der geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen inwohnt, und welche Gabe sich groß erweist in Unterscheidung des wahren vom Falschen.«

»Wenn nur,« fiel Goethe ein, »solche geistige Künste und Gewandtheilen nicht häufig gemißbraucht und dazu verwendet würden, um das Falsche wahr und das Wahre falsch zu machen!«

»Dergleichen geschieht wohl,« erwiederte Hegel; »aber nur von Leuten, die geistig krank sind.«

»Da lobe ich mir,« sagte Goethe, »das Studium[253] der Natur, das eine solche Krankheit nicht aufkommen läßt! Denn hier haben wir es mit dem unendlich und ewig Wahren zu thun, das jeden, der nicht durchaus rein und ehrlich bei Beobachtung und Behandlung seines Gegenstandes verfährt, sogleich als unzulänglich verwirft. Auch bin ich gewiß, daß mancher dialektisch Kranke im Studium der Natur eine wohlthätige Heilung finden könnte.«

Wir waren noch im besten Gespräch und in der heitersten Unterhaltung, als Zelter aufstand und, ohne ein Wort zu sagen, hinausging. Wir wußten, es that ihm leid von Goethen Abschied zu nehmen, und daß er diesen zarten Ausweg wähle, um über einen schmerzlichen Moment hinwegzukommen.[254]


1134.*


1827, October.


Mit Johann Andreas Stumpff

Als ich Goethe im October des Jahres 1827 einen zweiten Besuch abzustatten die Ehre hatte, so empfing er mich als einen Freund und sagte mir, daß es ihm sehr angenehm sein würde, wenn ich ihn jeden Abend besuchen wolle, so lange ich in Weimar verharren würde. Dies war mir sehr erwünscht; ich mußte ihm viel von London, besonders von den dort lebenden Künstlern, Bildhauern und Malern erzählen und die Namen der vorzüglichsten nennen, welche er sich notirte. Unter[254] anderem fragte mich Goethe: »Womit beschäftigen Sie sich denn in Ihren Erholungsstunden in London?« Über diese Frage war ich etwas verlegen, doch ich antwortete rasch: Dann reite ich mein Steckenpferd. Goethe schien verwundert über meine Antwort und fragte: »Darf man wohl wissen, was das Ihrige ist?« Ich bat um die Erlaubniß bemerken zu dürfen, daß man in keinem Lande der Welt mehr darauf bedacht sei mit Maschinen zu arbeiten, als in England, und daß diejenigen, die sich solche anschaffen und im Gange erhalten könnten, sich große Reichthümer erwerben könnten; ich habe mir deshalb, da Tausende darauf bedacht sind, auf diese Art ihr Glück zu machen, und da ich deshalb fast nichts als Maschinen vor Augen sehe, vor kurzem die Dampfmaschine zum Gegenstand eines Gedichts ›Der Kampf der Elemente‹ gemacht. Goethe schien erstaunt zu sein und wünschte diesen poetischen Versuch zu sehen. Ich überreichte denselben am folgenden den Tage. Goethe ersuchte mich, das Gedicht selbst zu lesen; er stand neben mir ganz aufrecht, mit voller Aufmerksamkeit zuhorchend, ich las daher ohne Furcht und hob die kräftigsten Stellen hervor, Goethe klopfte mich mehrere Male auf den Arm und sagte: »Gut, gut! Das ist brav! Haben Sie die Güte mir das Gedicht zu lassen;« und fügte hinzu: »Haben Sie mehr solche Verse geschrieben?« O ja, Excellenz! – antwortete ich – aber ich habe sie niemandem gezeigt aus Furcht, man möchte darüber spötteln. »Nein,[255] mein Freund!« sagte Goethe; »schicken Sie mir Ihre Versuche zu; es liegt ein unbebautes Feld in Ihrer Brust, und es ist Pflicht, solches zu bebauen.-Da ich Sie, mein werther Landsmann, in den Zirkel meiner Freunde aufgenommen, so werde ich Ihnen einen Maler auf den Hals schicken und Ihr Bild meinem Stammbuch einverleiben, welches aus den Portraits meiner Freunde zusammengesetzt ist, die ich nicht selten mustere, um so im Geiste alle, die mir auf Erden schätzbar waren, die Dahingeschiedenen und die durch große Entfernungen Getrennten, zu sehen.«1


1 Von Stumpff's in Nr. 5 des »Chaos« von 1831 abgedrucktem Gedicht »Der Kampf der Elemente« hat Goethe die Zeilen 4, 10, 19, 20 und 27 abgeändert.[256]


1758.*


1827, 2. (?) November.


Mit Alfred Nicolovius

Als ich – schreibt er [Nicolovius] darüber im April 1881 an den Herausgeber dieses Bandes [v. Loeper] – Goethe persönlich diesen Beleg, [wonach das in Goethe's Werken stehende Gedicht von J. G. Jacobi war] vorlegte, schlug er das Gedicht in seinen Werken auf, ergriff ein Lineal und eine Feder und strich es mit einem beinahe feierlichen »Suum cuique« aus.[152]


1135.*


1827, 18. November.


Mit Gustav Stickel

Es war damals Brauch, daß die an der Universität sich Habilitirenden ihre Inauguraldissertation den Herren Ministern in Weimar persönlich überreichten. So that ich es auch mit der meinigen über die erhabene Theophanie, den hochfliegenden Hymnus in Habakuks drittem Capitel. Ein Brief von Knebel an Goethe begleitete mich. Auf meine Anmeldung brachte der Bediente die Antwort, Se. Excellenz sei mit seiner mineralogischen Sammlung beschäftigt. Ich gab meinen[256] Brief, den ich eigenhändig abzugeben gedacht hatte, an den Diener ab und wurde nun zu Goethe hinauf beschieden ..... Da öffnete sich die Thür und der Dichterfürst trat in ruhiger Würde herein. Eine geborene Majestät, wenn auch nicht von so hoher Gestalt, wie sie sich von dem geistig Großen meine jugendliche Phantasie gebildet hatte. Unwillkürlich verneigte ich mich so tief, wie sonst noch vor keinem Sterblichen; eine innere Gewalt beugte mich nieder.

Nachdem Goethe mich auf dem Sopha neben sich hatte niedersetzen lassen, knüpfte er eine Unterhaltung an, aus der mir nur erinnerlich ist, daß ich meiner Besorgniß Ausdruck gab wegen der damaligen Zeitströmung und der Tendenzen in der theologischen Welt. Es begann die Reaction gegen den herrschenden Rationalismus. Man hatte in Halle die Vorlesungen von Gesenius und Wegscheider behorchen lassen, auf Grund von Studentischen Collegienheften wurden die beiden zu amtlicher Verantwortung gezogen, und die Gefahr, daß sie vom akademischen Lehrstuhl verdrängt werden sollten, schien so bedrohlich, daß in Jena Schott und Baumgarten-Crusius, wenn ich nicht irre, von Berlin aus Schleiermacher und noch andere Professoren von anderwärts zum Schutz und zur Vertheidigung einer freiern Theologie in Brochuren sich Vernehmen ließen. Unter dem Eindruck solcher Vorgänge waren mir jene Besorgnisse auf die Lippen gekommen. – »Lassen Sie das gut sein!« hob Goethe an; »Der Mensch,[257] der einer guten Sache dient, wohnt in einer festen Burg.«

Hiernach erzählte er von dem Religionsunterricht, den er in seiner Jugend erhalten habe in den starren dogmatischen Formeln, die keinem guten Kopf zusagen und befriedigen konnten. »Da habe ich« – fügte er hinzu – »erst gar manche Schale brechen müssen, bis ich zum Kern durchgedrungen bin.« – Als er mich dann entließ, lud er mich ein, künftig bei meiner Anwesenheit in Weimar in seinem »Hause einzusprechen.«[258]


1136.*


1827.


Mit Johann Karl Bertram Stüve u.a.

Als mich [F. J. Frommann] 1827 mein Universitätsfreund Stüve, damals noch Advocat in Osnabrück, besucht hatte, begleitete ich ihn bei seiner Rückreise bis Weimar und frug Vormittag bei Goethe an, wann ich mit ihm kommen dürfte. Er bestellte uns um 3 Uhr. Da fanden wir ihn im langen Zimmer, vor dessen Thüre Salve eingelegt ist, am Tische, auf dem die Weinflasche und Gläser standen. Er schenkte ein und fing nun an zu fragen (denn Osnabrück interessirte ihn, weil er es ja aus Möser kannte) nach der Stadtverfassung, Handel und Gewerben, bäuerlichen Verhältnissen, Ackerbau, Geognosie u.s.w. Je prompter und bündiger nun auf alles die Antworten des jungen[258] Mannes erfolgten, desto eifriger frug der alte Herr drauflos. Es war eine Lust, die beiden zu hören und anzusehen, wie sie sich gegenübersaßen. Endlich kam er wieder auf den Anfang zurück und sagte: »Also Sie sind Advocat, d.h. einer der aus jeder Sache etwas zu machen weiß?« – »Entschuldigen Excellenz –« – »Recht so! ein Advocat darf nie etwas zugeben.«[259]


1137.*


1827.


Mit Friedrich Förster nebst Familie u.a.

Ich fand Goethe an den Augen leidend; er trug bei Tage einen Schirm von grüner Seide, um sich gegen blendendes Sonnenlicht zu schützen, was die Weinranken im kleinen Garten an seinem Hause in der Stadt nur spärlich durch die kleinen Fensterscheiben seines Arbeitszimmers einfallen ließen. Am Abend schützte er sich gegen das Lampenlicht durch einen vorgesetzten Schirm. Er zeigte uns einige Schirme, welche kunstgeübte Hände der Freundinnen nach den von ihm getuschten Zeichnungen in dunkles Pergament radirt hatten. Es waren Mondscheinlandschaften, und er war so gütig, meiner Frau, welche ihm durch Vortrag mehrerer seiner, von Zelter neuerdings componirten Lieder die Abende verkürzte, zwei von ihm getuschte Landschaften griechischer Tempel bei Mondbeleuchtung zu schenken. Von jenen Compositionen gefielen ihm zumeist zwei Lieder: »Ich[259] ging im Walde so für mich hin« und »Um Mitternacht ging ich nicht eben gerne.« Als meine Frau das erste Lied unter der, in Zelter's Liederhefte befindlichen Überschrift »Auch mein Sinn« citirte, erklärte Goethe: er erinnere sich keines seiner Gedichte mit dieser Überschrift. Als er darauf in dem gedruckten Hefte sein Lied fand, bemerkte er lachend: »Da hat mein guter Zelter, wie er es öfter gethan, mein Lied umgetauft; der ihm von mir gegebene Name heißt: ›Gefunden.‹«

Bei diesem Besuche stellte ich Goethen meinen Pflegesohn, den zu der Zeit für ein musikalisches Wunderkind geltenden, sieben Jahr alten Karl Eckert vor, der sich später als Liedercomponist, als Begleiter der Gräfin Sonntag-Rossi, als Director der kaiserlichen Oper in Wien und als Hofkapellmeister in Stuttgart einen ehrenvollen Ruf erworben hat. Der Knabe, welcher bereits in seinem fünften Jahre freie Phantasien auf dem Flügel spielte, hatte den »Erlkönig« componirt, und meine Frau sang die Romanze von dem Knaben begleitet eines Nachmittags in dem bei Goethe versammelten Freundeskreise vor. Goethe belobte den Knaben, unterhielt sich eingehend mit ihm, fragte ihn, ob er andere Compositionen kenne und welche ihm vorzüglich gefalle. Damals war die geniale, weltberühmte Composition Schubert's noch nicht vorhanden.1 Mein kleiner[260] Componist sagte: er kenne nur die Compositionen von Reichardt und Leonhard Klein, die ihm aber nicht gefallen wollten, weil sie den Erlkönig so sehr graulich singen ließen. Wenn, meinte er, der Erlkönig so tief brumme, dann würde der Knabe sich fürchten; der Erlkönig müsse den Knaben durch seinen Gesang zu verlocken suchen. Goethe äußerte sich hiermit einverstanden und sagte zu Hummel, welcher dem Knaben mit Aufmerksamkeit und Theilnahme zugehört hatte: »Meinen Sie nicht, lieber Hummel, daß der Knabe das Richtige getroffen hat?« Der Kapellmeister sprach sich zustimmend aus, wie er sich überhaupt liebevoll und anerkennend über das Talent des jungen Componisten äußerte. »Wir müssen schon zugeben, daß der Knabe das Richtige getroffen hat,« bemerkte Goethe, und ihm freundlich die Wange streichelnd fügte er hinzu: »Du mußt ja am besten wissen, wie so einem Bürschchen, das der Vater zur Nachtzeit vor sich auf dem Pferde in den Armen hält, zumuthe ist, wenn der Erlkönig ihn verlockt. Außerdem aber müssen wir auch zugeben, daß der Erlkönig als ein Geisterkönig jede beliebige Stimme annehmen und nach seinem Gefallen erst sanft und einschmeichelnd, und dann wieder drohend und zornig singen kann.«

Hummel forderte den Knaben auf, mit ihm vierhändig auf dem Flügel zu phantasiren, wo sie abwechselnd Themas angaben. Goethe hörte mit lebhaftem Antheil zu, und nachdem er dem Knaben aufmunternd[261] gesagt: er möge gute Freundschaft mit Zelter und seinem jungen Freunde Felix Mendelssohn halten, äußerte er gegen Hummel die bedeutsamen Worte: »Ursprüngliches Talent, das ist Wasser auf meine Mühle.«


1 Doch! Schon seit 1816.[262]


1138.*


1827.


Mit Johann Karl Ulrich Bähr und Otto Wagner

Im Jahre 1827 kamen mit einem Empfehlungsschreiben von Tieck die beiden jungen Maler Bähr und Wagner auf einer Reise nach Italien begriffen nach Weimar. Zu bescheiden, um persönlich Goethe behelligen zu wollen, gedachten sie eigentlich Tieck's Schreiben, dem noch ein Päckchen beigefügt war, einfach abzugeben, wurden aber von einem jungen Manne – vielleicht Eckermann – genöthigt, sich melden zu lassen. Goethe empfing sie in seinem Gartenhaus freundlich und wandte das Gespräch gleich auf Dresdner Kunstverhältnisse; er äußerte sich günstig über die Schule Matthäi's, unter dem sich Bähr zum Geschichtsmaler gebildet hatte, und frug dann, ob es gegründet sei, daß die Sixtinische Madonna durch Palmaroli's Restauration verdorben worden sei. Bähr erwiederte: »Ew. Excellenz können sich darüber beruhigen; Matthäi hat schon dafür gesorgt, daß es nicht geschah.« Er setzte hierauf auseinander, wie allerdings Palmaroli's Art,[262] die Farben tupfweise aufzusetzen, eine störende Wirkung hervorbrächte, doch habe Matthäi dieses Verfahren nicht geduldet, und wenn schon die an der Madonna erneuerten Stellen erkennbar seien, so seien sie doch nicht häßlich, wie es die vorher in dem Gemälde befindlichen schwarzen Flecken gewesen.

Beim Abschied war Bähr so bewegt, daß er die ihm gereichte Hand Goethes küßte. Dieser legte dann seine Hände den Künstlern auf's Haupt, sie zur Reise segnend.[263]


1139.*


1827.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Der Geist des Wirklichen ist das wahre Ideelle.«[263]


1759.*


1827 (?).


Mit Jenny von Pappenheim

Dann [nach 1826] verging ein Jahr, wo ich Goethe nur bei seinen Abendgesellschaften und zu seiner Geburtstagsfeier sah; er hat mir jungem Ding aber immer[152] so imponirt, daß ich vor ihm eigentlich nie ich selbst war, sondern eine Seele, die mit aus der Brust gekreuzten Armen zu ihm emporsah. Ich hielt den Athem an, wenn ich ihn sprechen hörte und glaubte vergehen zu müssen vor Scham, als er meine Mutter einmal frug: ›Was treibt denn eigentlich die schöne Kleine?‹ Meine Richtigkeit drückte mich von da an so sehr, daß ich manche Stunde der Nacht wachend zubrachte, alle Bücher, deren ich habhaft werden konnte, ummich herum.

– – – – – – – – – – – –

Einst, an einem Sonntag, kam ich aus der Kirche. Ottilie [v. Goethe] war nicht in ihrer Stube; ich hatte mein Püppchen [Alma v. Goethe] und spielte mit ihm. Plötzlich trat ein junger Mann herein, sah uns betroffen an, wirbelte seltsam im Zimmer umher, sodaß ich ganz ängstlich wurde. Als Ottilie auf mein Rufen er schien, entpuppte er sich als junger Engländer, namens Thistelswaite, der an Goethe empfohlen war, und den er heraufgeschickt hatte. Er frug nach ihm, und Ottilie erzählte von seinem auffälligen Benehmen, worauf Goethe lächelnd sagte: ›Wer so schöne Freundinnen hat, muß für Schleier sorgen?‹[153]


1760.*


Vor 1828.


Weinprobe

Er... war im Punkte des Weinverstandes ein ungewöhnlich feiner Kenner. Eine glänzende Probe hiervon[153] legte er bei einem Diner ab, zu welchem der Großherzog Karl August einen kleinen Kreis um sich versammelt hatte. Beim Nachtisch, nachdem schon mehrere gute Sorten geprüft worden waren, bat der Hofmarschall von Spiegel den Großherzog um die Erlaubniß, einen Wein ohne Namen auftragen zu lassen. Ein Rothwein wurde herumgereicht, gekostet und recht gut befunden. Mehrere der Herren von der Tafelrunde erklärten ihn für Burgunder, nur war man über die specielle Sorte dieses edlen Gewächses nicht einig. Da aber bewährte Weinzungen, darunter die des Großherzogs, die Diagnose auf Burgunder gestellt hatten, so wurde dieselbe einstimmig angenommen. Nur Goethe kostete, und kostete wieder, schüttelte das Haupt und setzte das geleerte Glas nachdenklich auf den Tisch. ›Excellenz scheinen anderer Ansicht zu sein; sagte der Hofmarschall; ;darf ich fragen, welchen Namen Sie dem Weine geben?‹ »Der Wein ist mir durchaus unbekannt,« erwiederte Goethe, »aber für Burgunder halte ich ihn nicht. Eher sollte ich meinen, es sei ein gut gelesener Jenenser, der einezeitlang auf einem Madeirafaß gelegen hat.« ›Und so ist es inderthat,‹ bestätigte der Hofmarschall.[154]


1140.*


1827 oder 1828.


Mit Friedrich von Müller u.a.

Nach Tische traf ich bei Goethe Professor Heinroth von Leipzig, Frommann, Vogel, Riemer und Zahn, der zugleich Abschied nahm. Nach kurzer Frist fuhr[263] ich mit Goethe spazieren, gegen Süßenborn zu. Ich unterhielt ihn von Carlyle's Aufsatz über den Character seiner Schriften. Er erzählte wie er diesem wackern Mann kürzlich ein »Schwänchen« überschickt, nämlich seine Taschenausgabe, den Faust, die Medaille, Kupferstich, eine eiserne Busennadel für die Frau etc. Diese Art Menschen, sagte er, wie wir auch an Bracebridges [in Bracebridge-Hall von W. Irving] sehen, führen ein viel innigeres, zusammengenommeneres Leben, als wir in unserer Zerstreuung; sie sind wie mitten im Weltmeere auf einem engen Kahn vereint, unbekümmert um das Getobe und Gebrause um sie her.

Von Bonstetten hatte Goethe kürzlich einen herzlichen Brief bekommen, den er mir zu zeigen versprach.

Als wir bei einem neuen Gebäude vorüber fuhren, das ihm mißfiel, äußerte er: »Meine Lehre ist von jeher diese: Fehler kann man begehen, wie man will, nur baue man sie nicht auf. Kein Beichtvater kann von solchen Bausünden jemals absolviren.«

Ein Student aus Berlin, nach Paris reisend, war bei ihm diesen Nachmittag eingesprochen und sofort angenommen worden. »Ich sehe solche Leute gern, man[264] thut dabei einen Blick in die weite Welt hinaus und hat die behagliche Empfindung, nicht selbst reisen zu müssen.«

Darauf Manzoni's gedenkend: »Wäre ich jünger, so hätte ich sogleich die Sposi promessi à la Cellini bearbeitet. Beim Übersetzen muß man sich nur ja nicht in unmittelbaren Kampf mit der fremden Sprache einlassen. Man muß bis an das Unübersetzbare herangehen und dieses respectiren; denn darin liegt eben der Werth und der Character einer jeden Sprache.«

Und als ich ihm von Graf Reinhard's Reise nach Norwegen erzählte, rief er aus: »Welche Verwegenheit für einen Mann seines Alters! Doch was einer ausführen kann, das darf er auch unternehmen.«[265]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 6, S. 263-266.
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