Johann Wolfgang Goethe

[Die Zusammenkunft

der Naturforscher in Berlin]

Wenn wir eine europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur zu verkündigen gewagt haben, so heißt dieses nicht, daß die verschiedenen Nationen von einander und ihren Erzeugnissen Kenntnis nehmen, denn in diesem Sinne existiert sie schon lange, setzt sich fort und erneuert sich mehr oder weniger. Nein! hier ist vielmehr davon die Rede, daß die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennenlernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich zu wirken. Dieses wird aber mehr durch Reisende als durch Korrespondenz bewirkt, indem ja persönlicher Gegenwart ganz allein gelingt, das wahre Verhältnis unter Menschen zu bestimmen und zu befestigen.

Schaue man also nicht zu weit umher, sondern erfreue sich zuerst, wenn im Vaterland sich Gesellschaften, und zwar wandernde, von Ort zu Ort sich bewegende Gesellschaften hervortun; weshalb denn uns die Nachricht eines würdigen Freundes von dem letzten in München versammelten Verein der Naturforscher höchst erwünscht gewesen, welche folgendermaßen lautet:

»Am erfreulichsten erscheint bei dieser Anstalt: sie ersetzt uns Deutschen den Mangel einer Hauptstadt, in welcher von Zeit zu Zeit die Naturforscher zusammentreffen[392] könnten, um sich über alles, was dem Fortschreiten der Wissenschaften frommt oder als Hindernis im Wege steht, zu besprechen. Ja es gewähren diese gesellschaftlichen Wanderungen aus einem deutschen Hauptort in den andern noch den größeren Vorteil, daß man in den Sammlungen eines jeden Neues vorfindet und durch Vergleichung des schon Gesehenen von der Richtigkeit der gefaßten wissenschaftlichen Bestimmung überzeugt wird. Größer ist vielleicht noch der Vorteil, daß Menschen, die sonst unerkannt oder wohl gar verkannt durch ihr ganzes Leben nebeneinander einhergegangen wären, sich nun als Wissenschaftsverwandte aufsuchen und ein Verhältnis zueinander gewinnen, statt einander zu bekritteln und schmählustig zu rezensieren. Das Wichtigste endlich ist wohl dies, daß die Staatsmänner, welche durch andre oder persönlich an diesen Versammlungen teilnehmen, zu der Überzeugung gelangen, daß es mit dem redlichen Forschen auch wirklich ehrlich gemeint sei. Die im künftigen Jahre zu Berlin abzuhaltende Versammlung wird wahrscheinlich die Brücke bilden, um aus nördlichen und östlichen Staaten verwandte Naturforscher heranzuziehen. So hätte dann das Wandern abermals einen schönen heilsamen Zweck erreicht. Der Himmel gönne dem wissenschaftlichen Streben in unserm deutschen Vaterland noch lange Friede und Ruhe, so wird sich eine Tätigkeit entfalten, wie sie die Welt nur in einem Jahrhundert, nach Erfindung des Druckes, bei weit geringeren Hülfsmitteln erlebt hat.«[393]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 18, Berlin 1960 ff.
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