Johann Wolfgang Goethe

[Epochen deutscher Literatur]

[Epochen deutscher Literatur]

[Neueste Epoche]

[716] So mannigfaltig auch das Bestreben aller und jeder Künste in Deutschland sein mag, in dem Grade, daß man darüber etwas Näheres und Bestimmteres auszusprechen sich kaum getraute; so geht doch im ganzen eine gewisse Richtung durch, welche uns veranlaßt, die Epoche unsrer gegenwärtigen Dicht- und Bildkunst jener zweiten der persischen Poesie zu vergleichen, in welcher sich Enweri besonders hervortat und die wir die Enkomiastische nennen dürfen.

Sowohl unmittelbar gegenwärtige Verdienste als kurz geschiedene, längst dahingegangene werden gefeiert. Geburtstäge lassen die Freunde nie unbegrüßt vorbei; silberne und goldene Hochzeiten geben Anlaß zu Festen; bei Dienstjubiläen erklärt sich der Staat selbst als Teilnehmer; bei funfzigjährigem Wiedereintritt einer akademischen Würde sind Universitäten und Fakultäten in Bewegung, und weil die lebhaftesten Segnungen auf Gesundheit, eines dauernden Ruhms und verlängerten Lebens nicht ausbleiben dürfen, so fügt sich so schönen Prämissen als notwendige Konklusion ein löbliches »Ergo bibamus« hinzu.[717]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 17, Berlin 1960 ff.
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