Johann Wolfgang Goethe

Indische Dichtungen

Wir würden höchst undankbar sein, wenn wir nicht indischer Dichtung[en] gleichfalls gedenken wollten, und zwar solcher, die deshalb bewundernswürdig sind, weil sie sich aus dem Konflikt mit der abstrusesten Philosophie in einer und mit der monstrosesten Religion auf der andern Seite im glücklichsten Naurell durchhelfen und von beiden nicht mehr annehmen, als ihnen zur inneren Tiefe und äußeren Würde frommen mag.

Vor allen wird »Sakontala« von uns genannt, in deren Bewunderung wir uns jahrelang versenkten. Weibliche Reinheit, schuldlose Nachgiebigkeit, Vergeßlichkeit des Mannes, mütterliche Abgesondertheit, Vater und Mutter durch den Sohn vereint, die allernatürlichsten Zustände, hier aber in die Regionen der Wunder, die zwischen Himmel und Erde wie fruchtbare Wolken schweben, poetisch erhöht, und ein ganz gewöhnliches Naturschauspiel, durch Götter und Götterkinder aufgeführt.

Mit »Gita-Govinda« ist es derselbige Fall; auch hier kann das Äußerste nur dargestellt werden, wenn Götter und Halbgötter die Handlung bilden.

Uns Westländern konnte der würdige Übersetzer nur die erste Hälfte zuteilen, welche die grenzenloseste Eifersucht darstellt einer Halbgöttin, die von ihrem Liebhaber verlassen ist oder sich verlassen glaubt. Die Ausführlichkeit dieser Malerei bis ins Allerkleinste spricht uns durchgängig an. Wie müßte uns aber bei der zweiten Hälfte zumute werden, welche den rückkehrenden Gott, die unmäßige Freude der Geliebten, den grenzenlosen Genuß der Liebenden darzustellen bestimmt ist und es wohl auf eine solche Weise tun mag, die jene erste überschwengliche Entbehrung aufzuwiegen geeignet sei.[130]

Der unvergleichliche Jones kannte seine westlichen Insulaner gut genug, um sich auch in diesem Falle wie immer in den Grenzen europäischer Schicklichkeit zu halten, und doch hat er solche Andeutungen gewagt, daß einer seiner deutschen Übersetzer sie zu beseitigen und zu tilgen vor nötig erachtet.

Enthalten können wir uns zum Schlusse nicht, des neueren bekannt gewordenen Gedichtes »Megha-Duta« zu gedenken. Auch dieses enthält wie die vorigen rein menschliche Verhältnisse. Ein aus dem nördlichen Indien in das südliche verbannter Höfling gibt zur Zeit, da der ungeheure Zug geballter und sich ewig verwandelnder Wolken von der Südspitze der Halbinsel nach den nördlichen Gebirgen unaufhaltsam hinzieht und die Regenzeit vorbereitet, einer dieser riesenhaften Lufterscheinung[en] den Auftrag, seine zurückgebliebene Gattin zu begrüßen, sie wegen der noch kurzen Zeit seines Exils zu trösten, unterwegs aber Städte und Länder, wo seine Freunde befindlich, zu beachten und zu segnen, wodurch man einen Begriff des Raumes erhält, der ihn von der Geliebten trennt, und zugleich ein Bild, wie reichlich diese Landsschaft im einzelnen ausgestattet sein müßte.


Alle diese Gedichte sind uns durch Übersetzungen mitgeteilt, die sich mehr oder weniger vom Original entfernen, so, daß wir nur ein allgemeines Bild ohne die begrenzte Eigentümlichkeit des Originals gewahr werden. Der Unterschied ist freilich sehr groß, wie aus einer Übersetzung mehrerer Verse unmittelbar aus dem Sanskrit, die ich Herrn Professor Kosegarten schuldig geworden, aufs klarste in die Augen leuchtet.

Aus diesem fernen Osten können wir nicht zurückkehren, ohne des neuerlich mitgeteilten chinesischen Dramas zu gedenken; hier ist das wahre Gefühl eines alternden Mannes, der ohne männliche Erben abscheiden soll, auf das rührendste dargestellt, und zwar gerade dadurch, daß[131] hervortritt, daß er der schönsten Zeremonien, die zur Ehre des Abgeschiedenen landesüblich verordnet sind, wo nicht gar entbehren, doch wenigstens unwilligen und nachlässigen Verwandten überlassen soll. Es ist ein ganz eigentliches, nicht im Besonderen, sondern ins Allgemeine gedichtetes Familiengemälde. Es erinnert sehr an Ifflands »Hagestolzen«, nur daß bei dem Deutschen alles aus dem Gemüt oder aus den Unbilden häuslicher und bürgerlicher Umgebung ausgehen konnte, bei dem Chinesen aber außer ebendenselben Motiven noch alle religiose und polizeiliche Zeremonien [mitwirken], die dem glücklichen Stammvater zugute kommen, unsern wackern Greis aber unendlich peinigen und einer grenzenlosen Verzweiflung überliefern, bis denn zuletzt [durch] eine leise vorbereitete, aber doch überraschende Wendung das Ganze noch einen fröhlichen Abschluß gewinnt.[132]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 18, Berlin 1960 ff.
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