Sechstes Kapitel

[982] Nach zwei Stunden kam Stolz.

»Was hast du? Du bist so verändert, so aufgedunsen und blaß! Bist du nicht wohl?« fragte Stolz.

»Mit meiner Gesundheit steht es schlecht, Andrej«, sagte Oblomow, ihn umarmend, »der linke Fuß erstarrt mir immer.«

»Wie es bei dir aussieht!« sagte Stolz, um sich blickend. »Warum wirfst du diesen Schlafrock nicht fort? Sieh, er ist voller Flicken!«

»Das macht die Gewohnheit, Andrej; es wäre zu schade, mich von ihm zu trennen.«

»Und die Decke und die Vorhänge ...« begann Stolz. »Ist das auch die Gewohnheit? Ist es auch zu schade, diese Fetzen herabzunehmen? Aber ich bitte dich, ist es denn möglich, daß du auf diesem Bett schlafen kannst? Ja, was hast du denn?«

Stolz blickte Oblomow forschend an und wandte sich dann wieder den Vorhängen und dem Bette zu.

»Gar nichts«, sagte Oblomow verlegen, »du weißt, daß ich mich niemals sonderlich um mein Zimmer gekümmert habe ... Wollen wir lieber essen. He, Sachar! Decke geschwind den Tisch. – Also, was ist mit dir? Kommst du für lange? Und woher?«

»Errate, woher und weshalb ich komme?« fragte Stolz. »Zu dir dringen hierher ja keine Nachrichten aus der Welt der Lebenden!«

Oblomow sah ihn neugierig an und wartete, was er sagen würde.

»Was ist mit Oljga?« fragte er dann.[983]

»Ach, du hast sie nicht vergessen! Ich dachte, du würdest sie vergessen!«

»Nein, Andrej, kann man sie denn vergessen? Das hieße vergessen, daß ich einst gelebt habe und im Paradies war ... Und jetzt! ...« Er seufzte. »Aber wo ist sie denn?«

»Auf ihrem Gute; sie beschäftigt sich dort mit der Wirtschaft!«

»Mit der Tante?« fragte Oblomow.

»Und mit dem Manne.«

»Sie ist verheiratet?« fragte Oblomow, plötzlich die Augen weit öffnend.

»Warum bist du denn erschrocken? Sind es vielleicht die Erinnerungen?« fügte Stolz leise und fast zärtlich hinzu.

»Ach nein, was dir einfällt!« rechtfertigte sich Oblomow, zur Besinnung kommend. »Ich bin nicht erschrocken, sondern erstaunt; ich weiß nicht, warum mich das so verblüfft hat. Schon lange? Ist sie glücklich? Sag es mir um Gottes willen. Ich fühle, daß du mir eine große Last abnimmst! Trotzdem du mir versichert hast, daß sie mir verziehen hat, war ich doch ... nicht beruhigt. Es hat immer etwas an mir genagt ... Lieber Andrej, wie dankbar bin ich dir!«

Er freute sich so von Herzen und sprang auf seinem Sofa so herum, daß Stolz ihn bewunderte und sogar gerührt war.

»Wie gut du bist, Ilja!« sagte er. »Dein Herz hat sie verdient! Ich werde ihr das alles erzählen.«

»Nein, nein, sag es ihr nicht!« unterbrach ihn Oblomow. »Sie wird mich für herzlos halten, wenn sie hört, daß ich mich über ihre Heirat gefreut habe.«

»Und ist denn die Freude kein Gefühl, und dabei nicht ein ganz selbstloses? Du freust dich nur über ihr Glück.«

»Das ist wahr, das ist wahr!« sagte Oblomow. »Ich schwatze da Gott weiß was zusammen ... Wer denn, wer ist denn dieser Glückliche? Ich habe ja noch gar nicht gefragt.«

»Wer?« wiederholte Stolz. »Wie schwer von Begriffen du bist, Ilja.«[984]

Oblomow ließ plötzlich seinen reglosen Blick auf seinem Freunde ruhen, seine Züge erstarrten für einen Augenblick und das Blut entwich aus seinem Gesicht.

»Bist ... du es vielleicht?« fragte er.

»Du bist wieder erschrocken! Wovor denn?« sagte Stolz lachend.

»Scherze nicht, Andrej, sag die Wahrheit!« bat Oblomow erregt.

»Bei Gott, ich scherze nicht. Ich bin schon das zweite Jahr mit Oljga verheiratet.«

Die Furcht verschwand allmählich von Oblomows Gesicht und machte friedlichem Sinnen Platz; er hob die Augen noch nicht, aber sein Gemüt war nach einer Weile von stiller, tiefer Freude erfüllt, und als er Stolz langsam anblickte, waren in seinem Blick schon Tränen der Rührung.

»Lieber Andrej!« sprach Oblomow, ihn umarmend. »Liebe Oljga ... Sjergejewna!« fügte er dann, sein Entzücken eindämmend, hinzu. »Gott selbst hat euch gesegnet! O wie glücklich ich bin! Sag ihr ...«

»Ich werde ihr sagen, daß ich keinen zweiten Oblomow kenne!« unterbrach ihn der tiefgerührte Stolz.

»Nein, sag und erinnere sie daran, daß ich ihr darum begegnet bin, um sie auf den rechten Weg zu führen, und daß ich diese Begegnung und sie auf dem neuen Wege segne! Wie würde sich alles gestalten, wenn es ein anderer wäre! ...« fügte er entsetzt hinzu. »Und jetzt«, schloß er fröhlich, »erröte ich nicht über meine Rolle und bereue nicht; mir ist ein Stein von der Seele gefallen, jetzt ist dort alles licht, und ich bin glücklich. Gott, ich danke dir!«

Er sprang wieder vor Erregung bald weinend und bald lachend auf dem Sofa herum.

»Sachar, Champagner zum Mittagessen!« schrie er, vergessend, daß er keine Kopeke besaß.

»Ich werde alles Oljga erzählen, alles!« sagte Stolz. »Es hat schon seinen Grund, daß sie dich gar nicht vergessen kann. Nein, du warst ihrer wert; dein Herz ist tief wie ein Brunnen!«[985]

Sachar steckte aus dem Vorzimmer seinen Kopf herein.

»Kommen Sie, bitte!« sagte er, dem Herrn zublinzelnd.

»Was ist denn?« fragte dieser ungeduldig. »Geh hinaus!«

»Bitte um Geld!« flüsterte Sachar.

Oblomow schwieg plötzlich.

»Dann ist es nicht nötig!« flüsterte er durch die Tür. »Sage, daß du vergessen hast oder daß es schon zu spät war! Geh! ... Nein, komm her!« sagte er laut. »Weißt du schon das Allerneueste, Sachar? Gratuliere: Andrej Iwanowitsch hat geheiratet!«

»Ach, Väterchen! Gott hat uns eine solche Freude erleben lassen! Wir gratulieren, Väterchen Andrej Iwanowitsch. Gott soll Sie unzählige Jahre leben lassen und Ihnen Kinderchen schenken. Ach Gott, ist das eine Freude!«

Sachar verneigte sich, lächelte, krächzte und knarrte. Stolz nahm einen Papierschein heraus und gab ihn ihm.

»Da hast du und kaufe dir einen Rock«, sagte er, »du siehst ja wie ein Bettler aus!«

»Wen denn, Väterchen?« fragte Sachar, Stolz' Hände fangend.

»Oljga Sjergejewna – weißt du noch?« sagte Oblomow.

»Das Iljinskysche Fräulein! O Gott, ein so liebes Fräulein! Sie haben mich alten Hund damals mit Recht gescholten, Ilja Iljitsch! Ich bin schuldig und sündhaft; ich habe die Klatschgeschichten über Sie verbreitet. Ich hab' es auch den Iljinskyschen Dienstboten erzählt, und nicht Nikita! Es ist wahr, daß damals ein Klatsch herausgekommen ist. Ach Gott, ach du mein Gott! ...« sprach er, ins Vorzimmer gehend.

»Oljga ladet dich zu sich aufs Gut zum Besuche ein; deine Liebe ist erkaltet, es ist nicht gefährlich. Du wirst nicht eifersüchtig sein. Komm mit!«

Oblomow seufzte.

»Nein, Andrej«, sagte er, »ich fürchte weder die Liebe noch die Eifersucht, ich fahre aber trotzdem nicht zu euch.«

»Was fürchtest du denn?«[986]

»Ich fürchte den Neid. Euer Glück wird für mich ein Spiegel sein, in dem ich immerwährend mein getötetes, reizloses Leben sehen werde; ich werde aber nicht mehr anders leben, ich kann nicht.«

»Genug, lieber Ilja! Du wirst unwillkürlich so leben, wie man um dich herum lebt. Du wirst rechnen, wirtschaften, lesen, Musik hören. Wie ihre Stimme sich jetzt entwickelt hat! Erinnerst du dich noch an Casta diva?«

Oblomow winkte ihm mit der Hand, er solle ihn nicht daran erinnern.

»Komm doch mit!« ließ Stolz nicht nach. »Es ist ihr Wille; sie wird darauf bestehen. Wenn ich müde werde, ist sie es noch lange nicht. In ihr ist so viel Feuer und Leben, daß sogar ich manchmal mein Teil abbekomme. Dann wird die Vergangenheit wieder in deiner Seele erwachen. Du wirst dich an den Park und den Flieder erinnern, und es wird sich in dir etwas regen ...«

»Nein, Andrej, nein! Erinnere mich nicht daran und wecke in mir um Gottes willen nichts!« unterbrach Oblomow ihn ernsthaft. »Es tut mir weh, und mir wird nicht wohl dabei. Erinnerungen sind entweder höchste Poesie, wenn sie sich auf lebendiges Glück beziehen, oder brennender Schmerz, wenn sie vernarbte Wunden berühren ... Sprechen wir von etwas anderem. Ja, ich habe dir nicht für deine Sorge um meine Angelegenheiten und um mein Gut gedankt. Mein Freund! Ich kann nicht, ich habe nicht die Kraft; suche in deinem eigenen Herzen nach Dankbarkeit und nach Glück, und in Oljga ... Sjergejewna, ich aber ... ich ... kann nicht! Verzeih, daß ich dich noch bis jetzt nicht von den Scherereien befreit habe. – Aber jetzt kommt bald der Frühling, und ich reise bestimmt nach Oblomowka.«

»Und weißt du, wie es in Oblomowka aussieht? Du wirst es gar nicht wiedererkennen!« sagte Stolz. »Ich habe dir nicht geschrieben, weil du die Briefe nicht beantwortest. Die Brücke ist fertig, das Haus ist schon vorigen Sommer unter Dach gewesen. Du mußt dich aber selbst um die innere Einrichtung kümmern und sie nach deinem[987] Geschmack zusammenstellen – das übernehme ich nicht. Die Wirtschaft wird vom neuen Verwalter, einem von meinen Leuten, geführt. Hast du dir die Ausgaben angesehen?«

Oblomow schwieg.

»Hast du die Berichte nicht gelesen?« fragte Stolz, ihn anblickend. »Wo sind sie?«

»Weißt du, ich werde sie nach dem Essen suchen; ich muß erst Sachar fragen ...«

»Ach, Ilja, Ilja! Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll.«

»Wir werden sie nach dem Essen finden. Wollen wir essen!«

Stolz furchte die Stirn, als er sich zu Tisch setzte. Er dachte an den Iljatag, an die Austern, die Ananas und die Schnepfen; und jetzt sah er ein grobes Tischtuch, Essig- und Ölflaschen mit Papierstücken statt der Pfropfen; auf den Tellern lag je eine große Schnitte Schwarzbrot, die Gabeln hatten zerbrochene Griffe. Oblomow reichte man Fischsuppe und ihm Suppe mit Grütze und ein gekochtes junges Huhn; darauf folgte harte Zunge und dann Hammelfleisch. Man brachte Rotwein. Stolz schenkte sich ein halbes Glas ein, kostete, stellte das Glas auf den Tisch und trank nicht mehr. Ilja Iljitsch trank zwei Gläschen Johannisbeerschnaps hintereinander und nahm gierig den Hammelbraten in Angriff.

»Der Wein taugt nichts!« sagte Stolz.

»Verzeih, man hat in der Eile nicht so weit gehen können«, sagte Oblomow. »Willst du nicht Johannisbeerschnaps trinken? Es ist ausgezeichnet, Andrej, koste doch!«

Er schenkte sich noch ein Gläschen ein und trank.

Stolz betrachtete ihn erstaunt, schwieg aber.

»Agafja Matwejewna bereitet ihn selbst; sie ist eine liebe Frau!« sagte Oblomow, auf den der Schnaps zu wirken begann. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich auf dem Gut ohne sie leben werde. Man findet keine zweite solche Hausfrau.«

Stolz hörte ihm mit leicht gefurchten Brauen zu.[988]

»Wer, glaubst du, hat das alles gekocht, Anissja? Nein!« fuhr Oblomow fort. »Anissja befaßt sich mit den Hühnern, jätet das Kraut im Gemüsegarten und fegt die Fußböden; und das alles macht Agafja Matwejewna.«

Stolz aß weder den Hammelbraten noch den Obstkuchen, sondern legte die Gabel hin und sah zu, mit welchem Appetit Oblomow das alles verzehrte.

»Jetzt wirst du nicht mehr ein verkehrt angezogenes Hemd auf mir sehen«, sprach Oblomow weiter, mit Appetit an einem Knochen nagend – »sie sorgt sich um alles und sieht alles, ich habe keinen einzigen ungestopften Strumpf – und sie macht alles selbst. Und wie sie Kaffee kocht! Ich werde dich nach dem Mittagessen damit bewirten.«

Stolz hörte schweigend mit besorgter Miene zu.

»Jetzt ist ihr Bruder übersiedelt, es ist ihm eingefallen, zu heiraten, so daß die Wirtschaft nicht mehr so groß ist. Aber früher hatte sie alle Hände voll zu tun! Sie ist von früh bis spät nur so herumgeflogen, auf den Markt und in die Läden. Weißt du, ich werde dir was sagen«, schloß Oblomow, der seine Zunge nicht mehr ganz in der Gewalt hatte, »wenn du mir zwei-, dreitausend geben könntest, würde ich dich nicht mit Hammelfleisch bewirten; dann würde ich dir einen ganzen Stör, Forellen und das beste Filet geben lassen. Und Agafja Matwejewna würde auch ohne Koch wahre Wunder leisten – ja!«

Er trank noch ein Gläschen Schnaps.

»So trinke doch, Andrej, trinke. Es ist ein ausgezeichneter Schnaps! Oljga Sjergejewna wird dir keinen solchen zubereiten!« sagte er mit schwerer Zunge. »Sie kann Casta diva singen, sie kann aber keinen solchen Schnaps zubereiten! Sie wird auch keine Piroge mit Hühnern und Pilzen backen! So etwas hat es nur in Oblomowka gegeben. Und das Gute hier ist, daß es nicht ein Koch macht; der macht den Teig Gott weiß mit welchen Händen an, während Agafja Matwejewna die Reinlichkeit in Person ist!«

Stolz hörte mit aufmerksam gespitzten Ohren zu.[989]

»Und sie hat solche weiße Hände gehabt«, fuhr Oblomow schon ziemlich benebelt fort, »es wäre keine Sünde, sie zu küssen! Jetzt sind sie aber rauh geworden, weil sie alles selbst macht! Sie stärkt mir selbst die Hemden!« sagte Oblomow gefühlvoll, fast mit Tränen. »Bei Gott, ich hab' es selbst gesehen. Manche Frau sorgt sich nicht so um ihren Mann – bei Gott! Agafja Matwejewna ist ein liebes Frauenzimmer! Ach, Andrej! Übersiedle mit Oljga Sjergejewna hierher, miete dir hier eine Sommerwohnung, das wäre ein Leben! Wir würden im Wald Tee trinken und am Eliasfreitag zu den Pulvermühlen gehen, und eine Fuhre mit einem Imbiß und mit einem Samowar würde uns folgen. Dort würden wir einen Teppich ausbreiten und uns auf das Gras legen. Agafja Matwejewna würde Oljga Sjergejewna das Wirtschaften beibringen, sie würde ihr alles beibringen. Jetzt geht es uns aber nicht besonders. Der Bruder ist ja übersiedelt; wenn man uns aber drei-, viertausend geben könnte, würde ich dir solche Kapaune reichen lassen ...«

»Du bekommst von mir fünf!« sagte Stolz. »Was machst du denn damit?«

»Und die Schuld?« entschlüpfte es plötzlich Oblomow.

Stolz sprang auf.

»Die Schuld?« wiederholte er. »Welche Schuld?«

Und er blickte ihn an wie ein strenger Lehrer ein sich versteckendes Kind anblickt.

Oblomow verstummte plötzlich.

Stolz setzte sich zu ihm aufs Sofa.

»Wem schuldest du?« fragte er.

Oblomow wurde ein wenig nüchterner und kam zur Besinnung.

»Niemand, ich habe gelogen«, sagte er.

»Nein, du lügst jetzt, aber ungeschickt. Was ist mit dir, was hast du, Ilja? Also das hat der Hammelbraten und der saure Wein zu bedeuten? Du hast kein Geld! Wo ist es denn hingekommen?«

»Ich schulde tatsächlich ... ein wenig der Hausfrau für das Essen! ...« sagte Oblomow.[990]

»Für das Hammelfleisch und die Zunge! Ilja, sprich, was geht mit dir vor? Was ist das für eine Geschichte? Der Bruder ist ausgezogen, die Wirtschaft geht schlecht ... Da ist etwas nicht in Ordnung. Wieviel schuldest du?«

»Zehntausend auf einen Schuldbrief ...« flüsterte Oblomow.

Stolz sprang auf und setzte sich wieder.

»Zehntausend? Der Hausfrau? Für das Essen?« wiederholte er entsetzt.

»Ja, wir haben viel gebraucht; ich habe auf sehr großem Fuße gelebt ... Weißt du noch, ich habe Ananas und Pfirsiche gegessen ... darum habe ich Schulden ...« murmelte Oblomow. »Aber lassen wir das!«

Stolz antwortete nicht. Er überlegte sich die Sache. Der Bruder ist ausgezogen, die Wirtschaft geht schlecht – und es ist auch wirklich so. Alles sieht nackt, ärmlich und schmutzig aus! Was für eine Frau ist denn diese Pschenizina? Oblomow lobt sie; sie sorgt sich um ihn; er spricht mit Feuer von ihr ...

Plötzlich wechselte Stolz die Farbe, er glaubte die Wahrheit zu erraten. Es wehte ihn kalt an.

»Ilja?« fragte er. »Was ist dir ... diese Frau? ...«

Aber Oblomow hatte den Kopf auf den Tisch gelegt und schlummerte.

Sie bestiehlt ihn und schleppt ihm alles fort ... Das ist etwas ganz Alltägliches, und er weiß noch immer nichts davon, dachte Stolz.

Er erhob sich und öffnete schnell die Tür zur Hausfrau, so daß diese bei diesem Anblick erschrocken den Löffel, mit dem sie den Kaffee umrührte, fallen ließ.

»Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte er höflich.

»Bitte in den Salon einzutreten, ich komme gleich«, antwortete sie schüchtern.

Sie band sich ein Tuch um den Hals, folgte ihm in den Salon und setzte sich auf den Rand des Sofas. Sie hatte nicht mehr ihren Schal und bemühte sich, die Hände in das Tuch zu verstecken.[991]

»Ilja Iljitsch hat Ihnen einen Schuldbrief gegeben?« fragte er.

»Nein ...« antwortete sie mit einem stumpfen und erstaunten Blick, »er hat mir gar keinen Brief gegeben.«

»Wieso gar keinen?«

»Ich habe gar keinen Brief gesehen!« sagte sie mit demselben stumpfen Staunen ...

»Einen Schuldbrief!« wiederholte Stolz.

Sie dachte ein wenig nach.

»Sie sollten mit dem Bruder sprechen«, sagte sie, »ich habe gar keinen Brief gesehen.«

Ist sie dumm oder listig? dachte Stolz.

»Er schuldet Ihnen aber?« fragte er.

Sie sah ihn stumpf an, dann kam Ausdruck und sogar Unruhe in ihr Gesicht. Sie erinnerte sich an die versetzten Perlen, an das Silber und den Pelz und glaubte, Stolz deute auf diese Schuld hin; sie konnte nur nicht begreifen, wieso man das erfahren hatte. Sie hatte nicht nur Oblomow, sondern auch Anissja gegenüber, der sie über jede Kopeke Rechenschaft ablegte, kein Wort davon erwähnt.

»Wieviel schuldet er Ihnen?« fragte Stolz unruhig.

»Gar nichts! Keine Kopeke!«

Sie verheimlicht es vor mir, sie schämt sich, dieses Wucherweib, dieses gierige Frauenzimmer! dachte er. Aber ich werde es ihr schon entlocken.

»Und die zehntausend?« fragte er.

»Welche zehntausend?« fragte sie voll Unruhe und Erstaunen.

»Ilja Iljitsch schuldet Ihnen zehntausend nach einem Schuldbrief, ja oder nein?« fragte er.

»Er schuldet mir nichts. Er war während der Fasten dem Fleischer zwölf und einen halben Rubel schuldig, er hat es aber noch vorige Woche bezahlt; der Rahm ist der Milchfrau auch bezahlt worden – er schuldet gar nichts.«

»Haben Sie denn gar kein Dokument, das sich auf Oblomow bezieht?«

Sie blickte ihn stumpf an.

»Sie sollten mit dem Bruder sprechen«, antwortete sie,[992] »er wohnt auf der nächsten Straße, im Haus von Samikalow, es ist ein Weinkeller im Hause.«

»Nein, erlauben Sie, daß ich mit Ihnen spreche!« sagte er entschlossen. »Ilja Iljitsch meint, daß er Ihnen schuldig ist und nicht Ihrem Bruder ...«

»Er schuldet mir nichts«, sagte sie, »und wenn ich das Silber, die Perlen und den Pelz versetzt habe, ist das für mich geschehen. Ich habe Mascha und mir Schuhe und für Wanjuscha Hemden gekauft und habe den Gemüsehändler bezahlt. Für Ilja Iljitsch aber habe ich keine Kopeke ausgegeben.«

Er sah sie an, hörte zu und drang in den Sinn ihrer Worte ein. Er allein schien sich der Lösung von Agafja Matwejewnas Geheimnis zu nähern, und der wegwerfende, fast verächtliche Blick, den er während des Gespräches mit ihr auf sie gerichtet hatte, verwandelte sich jetzt unwillkürlich in einen neugierigen und sogar teilnahmevollen. Im Versetzen der Perlen und des Silbers ahnte er dunkel das Geheimnis ihrer Opfer und konnte nur nicht mit sich einig werden, ob sie diese ganz selbstlos, aus reiner Ergebenheit, oder in der Erwartung einer künftigen Belohnung gebracht hatte. Er wußte nicht, ob er Iljas wegen traurig oder froh sein sollte. Es war jetzt klar, daß er ihr nichts schuldig war, daß diese Schuld irgendein Schurkenstreich ihres Bruders war; dafür eröffnete sich ihm vieles andere ... Was bedeutet dieses Versetzen des Silbers und der Perlen?

»Sie erheben also auf Ilja Iljitsch keinerlei Anspruch?« fragte er.

»Sie sollten mit dem Bruder sprechen«, antwortete sie eintönig, »er muß jetzt zu Hause sein.«

»Sie sagen, daß Ilja Iljitsch Ihnen gar nichts schuldet?«

»Keine Kopeke, das ist bei Gott wahr!« schwor sie, auf das Heiligenbild blickend und sich bekreuzend.

»Werden Sie das vor Zeugen bestätigen?«

»Vor allen! Sogar bei der Kommunion! Und was das Silber und die Perlen betrifft, die habe ich nur für meine eigenen Ausgaben versetzt ...«[993]

»Sehr wohl!« unterbrach sie Stolz. »Morgen komme ich mit zwei Bekannten her, und Sie werden sich nicht weigern, vor ihnen dasselbe zu sagen?«

»Sie sollten lieber mit dem Bruder sprechen«, wiederholte sie, »ich bin nicht anständig gekleidet ... alles in der Küche ist in Unordnung, wenn Fremde es sehen, werden sie es bemängeln.«

»Das macht nichts; und mit Ihrem Bruder werde ich noch morgen sprechen, nachdem Sie das Papier unterschrieben haben ...«

»Ich habe jetzt gar nicht mehr die Übung, zu schreiben.«

»Man braucht dabei nicht viel zu schreiben, im ganzen zwei Zeilen.«

»Nein, befreien Sie mich davon; Manjuscha sollte es lieber schreiben; er schreibt so rein ...«

»Nein, weigern Sie sich nicht«, bestand er, »wenn Sie das Papier nicht unterschreiben, bedeutet es, daß Ilja Iljitsch Ihnen zehntausend schuldet.«

»Nein, er schuldet gar nichts, keine Kopeke«, sagte sie, »bei Gott!«

»Dann müssen Sie das Papier unterschreiben. Also auf Wiedersehen morgen!«

»Sie sollten morgen lieber zum Bruder gehen ...« sagte sie, ihn begleitend, »er wohnt hier an der Ecke, man braucht nur über die Straße zu gehen ...«

»Nein, und ich möchte Sie bitten, dem Bruder bis dahin nichts zu sagen, sonst wird es Ilja Iljitsch sehr unangenehm sein ...«

»Ich werde ihm nichts sagen!« antwortete sie gehorsam.

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 982-994.
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