Bey einem ansehnlichen Hochzeitfeste in Leipzig

[35] Den 20 Februar 1730.


I.f.N.


Kann denn Amors Nectarsee,

Auch in den gekürzten Tagen,

Mitten unter Frost und Schnee,

In verliebte Herzen schlagen?

Fühlt denn auch, bey kalten Lüften,

Der bereifte Theil der Welt,

Um den kalten Norderbelt,

Was der Venus Brand kann stiften?


Ja, die starrende Natur

Schläft in Auen, Gärten, Feldern;

Wer erblickt die mindste Spur

Süßer Regung in den Wäldern?

Bey den Fischen, Vögeln, Thieren

Scheinen alle Triebe todt:

Doch dieß mächtige Geboth

Kann nur nicht die Menschen rühren.


Nur der Mensch, die kleine Welt,

Will der großen widerstreben;

Weil er nichts von Regeln hält,

Will er stets in Freyheit leben.

Er verlacht, mit muntern Sinnen,

Kälte, Reif und Schnee und Frost;

Will der Liebe Götterkost

Auch im Winter lieb gewinnen.[36]


Hymens Fackel sonderlich

Kann auch kalte Herzen schmelzen;

Wenn gleich Sonn und Wärme sich

Um den fernen Südpol wälzen;

Wenn gleich Lunens Silberstralen,

Bey gestirnter Himmelspracht,

Unsers Nordens längste Nacht

Mit dem kältsten Glanze malen.


Liebste Schwester, werthe Braut,

Dich hat Amor auch bezwungen.

Hymens Fackel, wie man schaut,

Ist auch dir ins Herz gedrungen.

Deines Liebsten Ruhm und Gaben

Haben dich so stark entbrannt,

Daß sie deinen Jungferstand

Auch zuletzt geschmolzen haben.


Herbst und Sommer waren nicht

Tüchtig, dich zu überwinden;

Auch kein warmes Frühlingslicht

Konnte deine Brust entzünden.

Was nun keinem noch gelungen,

Kann dem Winter möglich seyn;

Da dein Liebster nur allein

Deine keusche Brust bezwungen.


Lachet dann bey eurer Glut,

Wenn der Frost die Erde rühret;

Zeigt, daß euer heißes Blut

Stündlich neuen Zunder spüret.

Wenn die Flocken alles decken,[37]

Seht es voller Flammen zu;

Und laßt eure süße Ruh

Durch kein kaltes Lüftchen schrecken.


Eilt zu Bette, werthes Paar!

Laßt euch in der Lust nicht stören.

Eh noch dieß verjüngte Jahr

Den verlängten Tag wird mehren;

Eh euch noch die frühen Schatten,

Zeitiger den Flor entziehn;

Eh die späten Sterne fliehn,

Könnt ihr euch was mehr verstatten.


Künftig wird der Herbst gewiß

Früchte von dem Samen tragen,

Der, bey aller Hinderniß

Dieser Jahrszeit, angeschlagen.

O! wie will ich mich vergnügen,

Wenn sich so mein Wunsch erfüllt;

Daß man sieht des Vaters Bild

Von der jungen Mutter wiegen.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Band 1: Gedichte und Gedichtübertragungen, Berlin 1968/1970, S. 35-38.
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