Des I. Abschnitts XIV. Hauptstück.
Von Sinngedichten, Grab- und Ueberschriften.

[514] 1. §.


Ich bin mit allen größern Arten der alten Gedichte fertig, insoweit dieselben durch ihren innern Inhalt unterschieden sind. Nur fehlen mir noch die kleinern Arten, die unter verschiedenen Namen vorkommen, doch unter die allgemeine Benennung der Sinngedichte gezogen werden können. Wir geben ihnen im Deutschen diesen Namen, weil sie gemeiniglich etwas scharfsinniges, oder besser, etwas Sinnreiches in sich haben, das dem Leser ein angenehmes Nachsinnen erwecket. Im Griechischen, ja auch im Latein nennet man sie schlechtweg EPIGRAMMATA, d.i. Ueberschriften; darunter man denn auch Unterschriften, unter Bilder, Bildsäulen, und andere Gemälde, oder Sinnbilder zu rechnen pflegt. Imgleichen gehören EPITAPHIA, oder Grabschriften, und allerley kurze zufällige Gedanken der Dichter, über vorkommende merkwürdige Gegenstände hieher, die eben nirgends drüber oder drunter geschrieben werden sollen. Da nun so leicht kein großer oder kleiner Dichter in der Welt gewesen seyn wird, der nicht dergleichen Einfälle bisweilen gehabt, und in etliche Verse gekleidet haben sollte: so ist auch die Anzahl der epigrammatischen Dichter und Poesien ungleich größer, als aller obigen Arten geworden.

2. §. Was die griechischen Dichter anbetrifft: so haben wir theils vom Homer etliche, theils vom Kallimachus über ein Schock. Außer denen aber findet man in der großen Sammlung derselben eine unglaubliche Menge solcher Sinngedichte[515] gesammlet, und in VII. Bücher abgetheilet. Nur die Namen der Verfasser herauszuziehen, würde beynahe einen Bogen füllen; und wie groß ist nicht die Menge derer Stücke, deren Verfasser man nicht weis? Dabey ist es aber nicht geblieben. Es giebt noch neuere Sammlungen griechischer Ueberschriften, oder sogenannte Anthologien, d.i. Blumenlesen, die den Liebhabern des Alterthums bekannt sind, andern aber nichts nützen. Es ist wahr, daß verschiedene Stücke darunter sind, die uns auch itzo noch vergnügen können; weil sie wirklich sinnreich sind. Allein es giebt auch eine Menge, die man verachten würde, wenn sie deutsch wären; und die weiter nicht schätzbar sind, als weil sie alt, und zwar griechisch sind: welches bey gewissen Gelehrten schon genug ist, um sie zu bewundern: vieleicht, weil sie nicht ein jeder versteht, und man sich also sehr breit damit machen kann, daß man sie versteht; oder doch errathen kann, was sie sagen wollen, ungeachtet man unzählige male fehlschießt. Manches darunter ist auch wohl schmutzig, und manches giebt den Auslegern nur schöne Gelegenheit, ihre antiquarische Gelehrsamkeit auszukramen. Doch es ist noch eine Classe, die ich nicht vergessen muß. Die Griechen haben auch die Kunst erfunden, malerische Sinngedichte zu machen; ich meyne aus Versen Bilder zusammen zu setzen, Theokritus hat uns einen Altar, und ein paar Flügel; wie Simmias eine Axt, ein Ey, eine Hirtenpfeife mit sechs ungleichlangen Röhren, Syrinx genannt, hinterlassen; vermuthlich weil es Ueberschriften auf dergleichen Dinge haben seyn sollen. Allein das ist nun eben nicht das schätzbarste daran; und es hat Deutsche genug gegeben, die sie in solchen Tändeleyen nachgeahmet, ja übertroffen haben. S. Schottels deutsche Prosodie a.d. 215. u.f.S.

3. §. Was die lateinischen Dichter betrifft, so haben wir von denenselben lange nicht so viel poetische Aufschriften oder Sinngedichte zu lesen bekommen. Catullus scheint der erste zu seyn, der sich damit hervorgethan, obwohl sich[516] schon Plautus eine poetische Grabschrift gemachet hatte, u.d.m. Virgil machte sich durch eins zuerst bekannt, welches er an den kaiserlichen Pallast anschlug, als auf eine stürmische Nacht ein sehr schöner Tag folgte, welchen Augustus gewissen öffentlichen Schauspielen gewidmet hatte. Es hieß:


NOCTE PLUIT TOTA, REDEUNT SPECTACULA MANE,

DIVISUM IMPERIUM CUM JOVE CÆSAR HABET.


Ovid und Horaz haben nichts von dieser Art hinterlassen. Der jüngere Plinius ist ein Liebhaber davon gewesen; aber es sind uns kaum ein Paar davon in seinen Briefen übrig geblieben. Martial hergegen hat es so weit gebracht, daß er fast allein in dieser Art für einen Meister bekannt geworden: und man kann ihm in der That einen feinen Witz nicht absprechen. Wir haben XIV. Bücher Sinngedichte von ihm, deren Mannigfaltigkeit wundernswürdig ist. Sie sind nicht alle gleich kurz, und einige füllen ganze Seiten. Ein artiges zur Probe zu geben, mag das 69 ste aus dem VIII. Buche dienen; das er an den Vacerra, einen großen Bewunderer der Alten, gerichtet:


MIRARIS VETERES, VACERRA, SOLOS,

NEC LAUDAS, NISI MORTUOS POETAS:

IGNOSCAS PETIMUS, VACERRA; TANTI

NON EST, UT PLACEAM TIBI, PERIRE.


Du lobst, Vacerra, nur die Alten;

Die todten Dichter bloß sind würdig zu behalten.

Wohlan! verwirf nur mein Gedicht;

Dir zu gefallen, sterb ich nicht!


Imgleichen das 9 te aus dem III. B.


VERSICULOS IN ME NARRATUR SCRIBERE CINNA:

NON SCRIBIT, CUJUS CARMINA NEMO LEGIT.[517]


Man spricht, daß wider mich Misander Verse schreibt:

Doch sagt mir: schreibt wohl der, der ungelesen bleibt?


Auch Ausonius und Prudentius haben sich endlich in dieser Art gewiesen: wiewohl des Letztern seine mehrentheils von geistlichem Inhalte sind.

4. §. Unter den neuern Dichtern haben Ulrich von Hutten, Strozza, Johannes Secundus, Sabinus, Taubmann, Elias Corvinus, ja auch Stigelius, sich mit allerley Sinngedichten, oder doch kurzen Grabschriften hervorgethan. Selbst in August Buchnern wird man kurze Gedichte genug finden, die hieher gehören. Doch niemand hat sich mehr mit dergleichen hervor gethan, als Owenus, der so zu reden für den neuern Martial gehalten wird. Er kann diesen Namen, theils im Guten, theils im Bösen führen: denn er ist bisweilen eben so witzig und scharf, aber auch vielmals eben so schmutzig als jener. Ein Paar Exempel von der guten Art können nicht schaden. Im 1 B. beschreibt er Saturns drey Söhne:


THEOLOGI AMBIGUI; JURISTÆ LENTI & INIQUI,

IMMUNDI MEDICI: MUNDUS AB HIS REGITUR.


Doch ist er auch zuweilen ein Liebhaber von Wortspielen. Z.E.


CUNCTA TRAHUNT AD SE MAGNATES AUREA: SICUT

AD SE MAGNETES FERREA CUNCTA TRAHUNT.


Und folgendes:


DICTA FUIT MULIER, QUASI MOLLIOR: EST TAMEN EVA,

NON DE CARNE SUI, SUMTA SED OSSE VIRI.


Imgleichen hat Andrenus sein Landsmann, eben dergleichen gemachet; aber auch eben so theils gespielet, theils Zoten gerissen. Unter den Franzosen hat Ronsard schon unter seinen[518] sogenannten Mascaraden, Desportes aber theils unter den verliebten Gedichten, theils unter den EPITAPHES, oder Grabschriften, viele gemachet. Theophile hat an Schmutzigkeit, Benserade an Artigkeit, und Boileau an Scharfsinnigkeit den Alten auch nichts nachgegeben. Rousseau endlich ist in allen dreyen ein ziemlicher Martial zu nennen. Unter den Holländern, sind Heinsius und Cats in diesem Stücke reich gewesen. In des ersten Gedichten, die 1618. zu Amst. in 4. ans Licht getreten, findet man nicht nur viel verliebte, sondern auch viel moralische Sinnbilder mit poetischen Ueberschriften; und in des letztern Spiegel der alten und neuern Zeit, imgleichen in seinen Sinnsprüchen und Beysprüchen kommen gleichfalls unzählige vor; der Todtenkiste für die Lebendigen voritzo zu geschweigen.

5. §. Was die Deutschen anlanget: so könnte ich erstlich aus alten Handschriften eine Menge solcher Sinngedichte bekannt machen, wenn dieses hier der Zweck wäre. Allein von gedruckten haben wir von Opitzen eine Menge, die er nicht allein aus dem Cato und Pibrac, und noch einem Franzosen von der Welt Eitelkeit übersetzet; sondern auch noch ein FLORILEGIUM verschiedener Sinngedichte. Tscherning hat eines persischen Weisen Sittensprüche in kurze Verse gesetzt: Sieber und Rist habens daran auch nicht fehlen lassen. Hoffmannswaldau aber, so wohl als Lohenstein, sehr viel eigene gemachet. In den sogenannten hofmannswaldauischen Gedichten, die Neukirch theils gesammlet, theils selbst gemachet, steht auch eine Menge solcher Stücke. Wir haben auch den ganzen Owenus 1661. von Val. Löbern zu Jena in 12. deutsch bekommen: und Sal. von Golau, oder vielmehr von Logau, hat uns eine starke Sammlung von solchen kleinen Dichterblumen ans Licht gestellet. Und wer kann sie alle namhaft machen, zumal, wenn man auch Bessers und Kanitzens Gedichte bey Wirthschaften und Verkleidungen; oder des letzten Gedanken auf die Kaiser hieher rechnen will? Noch in diesem Jahre ist[519] ein Schubsack voll bäyerischer Sinngedichte in 4. ans Licht getreten, die gewiß für einen bäyerischen Dichter nicht zu verachten sind.

6. §. Soll ich nun kürzlich auch die Natur und das Wesen dieser Sinngedichte erklären, so sieht man wohl, daß sie mit Lobgedichten und Satiren ganz nahe verwandt sind. Kurz zu sagen, eine Ueberschrift, ist der poetische kurzgefaßte Ausdruck eines guten scharfsinnigen Einfalles, der entweder jemanden zum Lobe, oder zum Tadel gereichet. So beschreibt sie Boileau im II. Gesange seiner ART. POET.


L'EPIGRAMME PLUS LIBRE, EN SON TOUR PLUS BORNÉ,

N'EST SOUVENT QU'UN BON MOT DE DEUX RIMES ORNÉ.


Ich nehme das Wort scharfsinnig im ordentlichen Verstande, für die Wahrnehmung eines Umstandes an einer Sache, den nicht ein jeder würde gesehen haben. Zu dieser Scharfsinnigkeit kömmt vielmals auch der Witz, der zwischen einem solchen Umstande und etwas anderm, eine Aehnlichkeit findet, selbiges entweder zu erheben, oder zu verkleinern. Dieser Gedanken aber muß kurz gefasset werden, damit er in dem Verstande des Lesers eine plötzliche und unvermuthete Wirkung thue. Die Weitläuftigkeit des Ausdruckes würde nur machen, daß man durch die Umschweife schon von weitem zu rathen anfinge, was nachkommen würde: wodurch aber das Vergnügen über denselben um ein vieles gemindert werden, ja gar verschwinden würde. Indessen ist es gewiß, daß nicht alle Ueberschriften, oder Sinngedichte der Alten sogar kurz und scharfsinnig sind. Manche bestehen wohl aus zehn, zwölf, funfzehn, ja zwanzig Zeilen. Man nennt sie aber EPIGRAMMATA, weil man ihnen keinen andern Namen geben kann.

7. §. Die besten Exempel scharfsinniger Sinngedichte, werden bestätigen, was ich davon gesagt habe. Virgil hat an den Pallast des Kaisers Augusts, obige Zeilen angeschrieben,[520] wodurch er zuerst bekannt geworden; die man deutsch so geben kann:


Es stürmt die ganze Nacht; der Morgen bringt uns Lust:

So herrscht zwar Jupiter, doch neben ihm August.


Woher entsteht hier das Sinnreiche? Erstlich daher, daß Virgil an einem Tage etwas wahrgenommen, darauf andere nicht Acht gegeben: daß nämlich auf eine regnichte Nacht, mancherley Lustbarkeiten in Rom angestellet worden. Zweytens darinn, daß er den August mit dem Jupiter vergleicht, und das Regiment der Welt unter sie eintheilet. Dieses war nun für den Kaiser sehr schmäuchelhaft, und folglich angenehm. Die berühmte Grabschrift des Ausonius, auf die Dido, wird eben das zeigen:


INFELIX DIDO NULLI BENE NUPTA MARITO:

HOC PEREUNTE FUGIS, HOC FUGIENTE PERIS.


Die Männer wirken dir, o Dido, lauter Noth;

Des einen Tod die Flucht; des andern Flucht den Tod.


Hier bemerkt der Poet abermal, daß Dido ohne ihre Ehemänner würde glücklich gewesen seyn, woran nicht gleich ein jeder denkt. Hernach vergleicht er die beyden Trübsalen mit einander, und findet selbst in dem Gegensatze der Flucht und des Todes, eine gewisse Aehnlichkeit, die noch keinem eingekommen war.

8. §. Außer diesen wahren Scharfsinnigkeiten, da der Witz mit den Sachen beschäfftiget ist, giebt es noch viel andere, die in bloßen Wortspielen bestehen. Z.E. Ein Schüler der Jesuiten in Frankreich, hat seinen Lehrern zu Ehren folgendes gemacht. Man muß aber wissen, daß ihre beyde berühmteste Schulen zu Dole und LA FLECHE sind, davon jene einen Bogen, und diese einen Pfeil im Wapen führt.[521]


ARCUM DOLA DEDIT PATRIBUS: DEDIT ALMA SAGITTAM

FLEXIA. QUIS FUNEM, QUEM MERUERE, DABIT?


Hier will man, dem Scheine nach, sagen: Bogen und Pfeile hätten die Jesuiten schon, an ihren zwo berühmten Schulen; nun fehle ihnen nichts mehr, als die Sehne zum Bogen, das ist die dritte Schule. Weil aber das Wort FUNIS zweydeutig ist: so kann es auch heißen, wer wird ihnen zu dem längstverdienten Stricke, das ist, an den Galgen verhelfen? Hier ist die Absicht boshaft genug, aber der ganze Witz kömmt nur auf die Worte, und nicht auf die Sache an. Dergleichen Wortspiele nun, wird man im Martial und Owenus unzählige antreffen, ja auch die Wälschen und Franzosen haben sich mehr darauf zu gute gethan, als die Vernunft, und ein feiner Geschmack von rechtswegen erlauben sollten.

9. §. Ob nun wohl der gute Geschmack den Spitzfindigkeiten überhaupt zuwider ist: so hat mans doch in solchen Sinngedichten nicht eben so genau nehmen wollen. Sogar Boileau hat dieses verstattet, wenn er schreibt:


LA RAISON OUTRAGÉE ENFIN OUVRIT LES YEUX,

LA (POINTE) CHASSA POUR JAMAIS DES DISCOURS SERIEUX,

ET DANS TOUS LES ECRITS LA DECLARANT INFAME,

PAR GRACE LUI LAISSA L'ENTRÉE EN L'EPIGRAMME:

POURVÛ QUE SA FINESSE ECLATANT À PROPOS,

ROULA SUR LA PENSÉE, & NON PAS SUR LES MOTS.


Man sieht aber wohl, daß er auch die Spitzfindigkeiten in den Gedanken, nicht aber in den Worten allein gesucht haben will. Denn gleich darauf schimpft er auf die Pritschmeister, die noch bey Hofe geblieben, und nennt sie abgeschmackte Lustigmacher, unglückliche Stocknarren, verjährte Verfechter grober Wortspiele.


ISIPIDES PLAISANS, BOUFFONS INFORTUNEZ,

D'UN JEU DE MOT GROSSIER PARTISANS SURANNEZ.[522]


Will man Exempel von solchem elenden Zeuge haben, so lese man das XL. Stück im II. Theile der vern. Tadlerinnen, wo etliche von dieser Gattung beurtheilet worden, die gewiß recht kindisch und lächerlich sind. Von solchen aber, die erträglich sind, fallen mir ein Paar ein, davon eins auf den NOSTRADAMUS, das andere auf den Erasmus gemacht war. Jenes hub an: NOSTRA DAMUS, DUM FALSA DAMUS etc. Das andre sagte: den Erasmus hätte der Tod uns zwar rauben können, und schloß: SED DESIDERIUM TOLLERE NON POTUIT. Doch wenn die ganze Welt nach meinem Sinne urtheilete, so würde man auch diese Art für thöricht erklären

10. §. Man braucht diese Sinngedichte zu Unter- oder Ueberschriften bey Gemählden und Sinnbildern, zu Grabschriften, zu Erleuchtungen, Ehrenpforten, oder wo man sonst will. Gemeiniglich loben oder tadeln sie etwas, wie schon oben erinnert worden: zuweilen aber ist der Gedanken auch nur wegen seines Nachdruckes, oder der Neuigkeit halber angenehm. Ein lobendes, war jenes auf des Königs in Frankreich Residenzschloß:


PAR URBI DOMUS EST, URBS ORBI, NEUTRA TRIUMPHIS,

ET BELLI & PACIS, PAR, LUDOVICE, TUIS.


Dein Haus kann man der Stadt, die Stadt der Welt vergleichen,

Doch beydes, Ludewig, muß deinen Siegen weichen.


Ein anderes auf Ludewigs Bildsäule in dem botanischen Garten, zu Paris, lautete so:


VITALES INTER SUCCOS PLANTASQUE SALUBRES,

QUAM BENE STAT POPULI VITA SALUSQUE SUI!


Bey Säften voller Kraft, bey den gesunden Pflanzen,

Wie schön steht da das Heil und Leben seiner Franzen![523]


Besiehe davon der Belust. des V. und W. 1742. im Herbmonate a.d. 245. S. woselbst eine gelehrte Streitigkeit darüber vorkömmt.


Ein tadelndes mag folgendes abgeben:


IN MARE CORNUTOS JACIENDOS, PONTIUS INQUIT.

PONTIA RESPONDET: DISCE NATARE PRIUS.


Ersäuft, was Hörner trägt! schreyt Mops mit lauter Stimmen:

Ach Schatz! versetzt sein Weib; so lern bey Zeiten schwimmen.


Von der dritten Art darf man die Exempel nur in Catons moralischen Lehrversen suchen; davon Opitz viele sehr rein und glücklich ins Deutsche übersetzt hat. Ueberhaupt kann man auch Tschernings Frühling, Flemmings und Morhofs Gedichte, und insonderheit des von Golau gesammlete Sinngedichte nachsehen; wo viel artiges, theils neues, theils übersetztes vorkömmt.

11. §. Aus diesen wenigen angeführten Exempeln, da ich von lateinischen Sinngedichten lauter zweyzeilige Uebersetzungen gegeben habe, wird man leicht sehen, daß unsere Sprache nicht eben so ungeschickt zu einem kurzgefaßten und scharfsinnigen Ausdrucke sey, als wohl einige denken. Ja man könnte vielmehr einem Lateiner zu thun machen, eine jede ursprünglich deutsch abgefaßte Ueberschrift, in eben so vielen und gleichlangen Zeilen zu geben. Man hat aber in dieser Art hauptsächlich auf die Kürze zu sehen, in soweit dieselbe mit der Verständlichkeit und Richtigkeit des Ausdruckes bestehen kann. Denn die Weitläuftigkeit verderbet alles: es wäre denn, daß die letzte Zeile einen ganz unvermutheten Gedanken in sich hielte, den man gar nicht vorher sehen, oder nur errathen können. Ich schließe indessen diese Abhandlung der Sinngedichte durch ein Exempel, welches die[524] Natur derselben kurz in sich schließt; wie ich dieselbe schon von andern, wiewohl nur prosaisch beschrieben gefunden:


Machst du ein Sinngedicht: so laß es neu und klein,

Fein stachlicht, honigsüß; kurz, Bienen ähnlich seyn.


Ende des ersten Abschnitts.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 514-525.
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