II.

[139] Jene Höhle wird zuweilen noch die Judenschule gegenannt, und zwar aus folgendem Grunde. Es sollen nämlich zur Zeit der Judenverfolgungen ihrer Sicherheit wegen, und um nicht in ihren Religionsübungen gestört zu werden, sich mehrere Juden daselbst versammelt und feierlich angelobt haben, daß, wenn sie unentdeckt bleiben und unbehindert mit ihrem[139] Vermögen nach Polen gelangen würden, sie dieses nie vergessen, vielmehr jährlich an einem bestimmten Tage an diesem Orte reichlich Spenden vertheilen würden. Ihr Abgang muß ungehindert geschehen sein, denn als einst im 16. Jahrhundert eines Sonntags (es soll der Erlösungstag aus der babylonischen Gefangenschaft gewesen sein) nach der Frühkirche ein ehrsamer Bürger Budissins, Namens Gotthelf Arnst, in dieser Gegend lustwandelte, trieb ihn die Neugierde an, diese Höhle zu besuchen. Er trat hinein, und – wahrscheinlich war sie zu jener Zeit geräumiger, als gegenwärtig – er erblickte sieben Männer in polnischer Judentracht mit ehrwürdigen weißen Bärten, sitzend um eine runde Tafel und in Goldstücken wühlend. Bestürzt über diese ungewöhnliche Erscheinung, wollte er zurückgehen, allein man rief ihm zu: »Fürchte Dich nicht! denn wir sind nicht hier, um Böses, sondern Gutes zu thun!« worauf man ihm dann erzählte, wie sie ihre Reise vor einigen hundert Jahren ungestört gemacht, und daß ihre abgeschiedenen Geister jährlich an diesem Tage hier zusammenkämen, und den, den sie träfen, aus Dank für ihre Rettung, beschenkten. »Nimm daher« – fuhren sie fort – »soviel Du kannst und willst, denn nur einmal ist es Jedem zu kommen erlaubt, jedoch beeile Dich, bald ist sie verronnen die Zeit, während welcher es uns vergönnt ist, hier auf Erden zu weilen«. Arnst nahm sein Taschentuch, packte des Goldes ein, soviel er vermochte, und begab sich dankend aus der Höhle. Als er mit seiner Goldlast den Berg erklommen hatte, vernahm er einen dumpfen Knall, welches, wie er später erfuhr, das Verschwinden der freigebigen Juden bedeutete. Mit dem Gelde soll er sich Häuser und Feld, und darunter auch den unfern Budissin gelegenen sogenannten Weinberg, welchen späterhin ein gewisser Steinberger ausbaute, erkauft haben und als wohlhabender Mann gestorben sein. Ob irgend ein Anderer nach ihm wiederum diese Höhle besucht habe, und ebenfalls so glücklich gewesen sei, davon schweigt die Sage.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 2, Dresden 21874, S. 139-140.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen
Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen
Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen